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SOCIETY 355 / 2010

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WISSENSCHAFT<br />

KOLUMNE<br />

Kolumne von HERBERT PIETSCHMANN<br />

Was heißt Bildung?<br />

In der gegenwärtigen Diskussion um unser Bildungswesen wird der Lernprozess leider<br />

meist nur „technomorph“ betrachtet, in Analogie zum Programmieren eines Computers.<br />

Wir sprechen vom „Lernstoff“, vom „Lehrplan“, von den „Unterrichtseinheiten“ – völlig<br />

unabhängig von den individuellen Menschen, die daran beteiligt sind.<br />

Platon beschreibt in seinem Menon-Dialog<br />

die Dialektik des Lernprozesses in wunderbarer<br />

Weise: Sokrates will zunächst von<br />

Menon, einem berühmten Lehrer der Tugend,<br />

lernen. Er verhält sich dabei wie ein musterhafter<br />

Schüler, widerspricht nie, aber nimmt<br />

alles ernst, was Menon sagt, und zwar gemeinsam<br />

mit den Konsequenzen. Das Ergebnis<br />

ist, dass nicht Sokrates gelernt hat, sondern<br />

dass Menon nun verwirrt ist und selbst<br />

nicht mehr weiß, was „Tugend“ sei.<br />

Daraufhin wechselt Sokrates das Thema<br />

und schlägt vor, sich nun über das „Lernen“<br />

zu unterhalten; denn offenbar, so Sokrates,<br />

hätten sie doch soeben gezeigt, dass der Satz<br />

„Der Schüler lernt vom Lehrer“ falsch sei.<br />

Nach den Regeln der Logik müsse aber dann<br />

der Satz „Der Schüler lernt nicht vom Lehrer“<br />

richtig sein. Und da außer Schüler und Lehrer im konkreten<br />

Fall niemand anwesend war, sei dieser zweite Satz wohl äquivalent<br />

zur Aussage „Der Schüler lernt aus sich selbst“. Sokrates<br />

war auch bereit, diesen Satz zu beweisen: Man holt also einen<br />

jungen Sklaven, der intelligent, aber ungebildet war.<br />

Sokrates darf ihn zwar fragen, wenn er ihm aber irgendetwas<br />

sage, so hätte er „verloren“ und der Beweis wäre misslungen.<br />

Und nun beginnt ein faszinierender Dialog zwischen Sokrates<br />

und dem Sklaven. Am Ende weiß<br />

der Sklave, dass der Diagonale im Quadrat<br />

„keine Zahl entspricht“ (nach heutiger<br />

Rede, dass es eine irrationale Zahl<br />

sei).<br />

Als Sokrates jedoch behaupten will, er<br />

hätte den Beweis geführt, widerspricht<br />

ihm Menon, da der Schüler ohne die gezielten<br />

Fragen des „Lehrers“ Sokrates<br />

niemals auf diesen Schluss gekommen<br />

wäre. Sokrates pflichtet ihm bei und<br />

meint, sie wären damit auf eine „Aporie“,<br />

eine logisch ausweglose Situation<br />

gestoßen, da von zwei einander vollständig<br />

widersprechenden Behauptungen<br />

nicht gezeigt werden könne, eine sei<br />

falsch und die andere richtig.<br />

***<br />

Ein kreativer Bildungsprozess<br />

Wahres Lernen, meint Sokrates, könne<br />

also weder durch Lehren, noch durch<br />

Selbst-Lernen erzielt werden; vielmehr<br />

bedürfe es einer neuen Einstellung zum Lernprozess,<br />

bei der die erfahrenere Person den<br />

Lernwilligen bei deren kreativem Bildungsprozess<br />

behilflich ist. Lernen sei also mit einem<br />

„geistigen Geburtsvorgang“ (Mäeutik)<br />

zu vergleichen.<br />

Angesichts zahlreicher, emsig tätiger Lehrplankommissionen<br />

müssen wir wohl zugeben,<br />

dass es sich bei diesem zweieinhalb Jahrtausende<br />

alten Wissen um gesunkenes<br />

Kulturgut handelt! Im 20. Jahrhundert hat<br />

vor allem Carl Rogers die alten Thesen besonders<br />

deutlich vertreten. Er meint, „dass alles,<br />

was man anderen lehren kann, relativ belanglos<br />

ist“, dass es beim Lernen darauf<br />

ankäme, auch das Verhalten signifikant zu<br />

beeinflussen, dass aber solche Lerninhalte<br />

„selbst entdeckt, selbst frei angeeignet werden<br />

müssen“.<br />

***<br />

Die Aporie der Inhalte<br />

„Freiheit“ ist dem technomorph denkenden Menschen freilich<br />

fremd! Sie hat erst dort ihren Raum, wo Menschen Verantwortung<br />

übernehmen wollen; Voraussetzung dafür ist<br />

aber, dass nicht alle auftretenden Widersprüche im Sinne der<br />

Logik als Fehler eliminiert werden. Fragen wir also nach den<br />

Aporien, nach den nicht zu eliminierenden<br />

Widersprüchen, denen wir im<br />

CURRICULUM VITAE<br />

Bildungswesen begegnen.<br />

HERBERT PIETSCHMANN ist Die wichtigste Aporie haben wir bereits<br />

im Menon-Dialog kennengelernt.<br />

Emeritus am Institut für theoretische<br />

Physik der Universität Sie führt uns zur Aporie der „Inhalte“.<br />

Wien und Buchautor. Er studierte<br />

an der Universität Wien Ma-<br />

ohne Inhalte, die zu vermitteln sind,<br />

Selbst „geistige Geburtshelfer“ kommen<br />

thematik und Physik. 1966 nicht aus. Denn auch Fragen müssen<br />

schrieb er seine Habilitation in sich auf bestimmte Inhalte beziehen, soll<br />

theoretischer Physik an der Universität<br />

Wien und Göteborg. Dalichen<br />

Spielerei entarten. Wir wissen<br />

der Lern-Prozess nicht zur oberflächnach<br />

verbrachte er Forschungsjahre in Genf (CERN), Virginia aber, dass gelerntes Wissen schnell wieder<br />

vergessen wird. Also heißt die Aporie:<br />

(USA), Göteborg (Schweden) und Bonn (Deutschland).<br />

Pietschmann unternahm Vortragsreisen in Europa, USA, im Die Inhalte des Lernens sind immer zugleich<br />

notwendig und wirkungslos!<br />

Nahen Osten, Japan und China. Er ist korrespondierendes<br />

Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Die Einstellung der „geistigen Geburtshilfe“<br />

wird auch hier rechte Wege<br />

und der Wiener Internationalen Akademie für Ganzheitsmedizin<br />

sowie Mitglied der New York Academy of Science weisen. Allerdings kommt dabei deutlich<br />

und Fellow der World Innovation Foundation.<br />

zum Ausdruck, was ich persönlich wichtig<br />

finde: Lernen muss immer auch Freu-<br />

Weitere Informationen finden Sie unter<br />

http://homepage.univie.ac.at/herbert.pietschmann/ de bereiten!<br />

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