-flip_joker_2019-03
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6 KULTUR JOKER THEATER<br />
Durch den Teilchenbeschleuniger geschossen<br />
Michael Wertmüllers Oper „Diodati. Unendlich“ wird am Theater Basel uraufgeführt<br />
Eine rasende Hammond Orgel<br />
trifft auf ein hyperaktives<br />
Schlagzeug und einen pulsierenden<br />
E-Bass. Für das Trio<br />
Steamboat Switzerland hat Michael<br />
Wertmüller schon viele<br />
Stücke geschrieben und dabei die<br />
Grenzen zwischen Neuer Musik,<br />
Jazz und Rock aufgelöst. In seiner<br />
Oper „Diodati. Unendlich“<br />
(Libretto: Dea Loher), die das<br />
Theater Basel in Auftrag gegeben<br />
hat, ergänzt er das Trio mit<br />
einer E-Gitarre (Yaron Deutsch)<br />
und platziert es in den Orchestergraben,<br />
um gemeinsam mit dem<br />
Sinfonieorchester Basel unter<br />
der souveränen Leitung von Titus<br />
Engel diese rhythmische Energie<br />
auf die Bühne und in den<br />
Zuschauerraum zu schicken.<br />
Dea Lohers Libretto berichtet<br />
vom legendären Besuch englischer<br />
Literaten im Jahr 1816<br />
in der Villa Diodati am Genfer<br />
See. Die illustre Runde um Lord<br />
Byron berauscht sich an Opium<br />
und an den Gesprächen. Wegen<br />
des schlechten Wetters bleiben<br />
sie im Haus, debattieren über<br />
künstliches Leben und erzählen<br />
sich Schauergeschichten. In<br />
Kristina Stanek, Seth Carico, Holger Falk<br />
der Schweizer Idylle entsteht<br />
in diesem Sommer Mary Godwins<br />
Roman „Frankenstein“ und<br />
„Der Vampyr“, geschrieben von<br />
Byrons Leibarzt John Polidori.<br />
Loher verschränkt in ihrer Vorlage<br />
diesen historischen Schauplatz<br />
mit dem CERN im Kanton<br />
Genf, wo im 27 Kilometer<br />
langen Teilchenbeschleuniger<br />
Grundlagenforschung betrieben<br />
wird. In ihrer Inszenierung führt<br />
Regisseurin Lydia Steier beide<br />
©Sandra Then<br />
Ebenen zusammen. Flurin Borg<br />
Madsen bringt am Theater Basel<br />
ein Labor auf die Bühne, in dessen<br />
Mitte ein historischer Raum<br />
der Villa Diodati nachgebaut<br />
ist. Hier fahren Wissenschaftler<br />
in Schutzanzügen zu den ersten<br />
Schlagzeugimpulsen die leblosen<br />
Literaten auf Sackkarren hinein<br />
und reanimieren sie (Kostüme:<br />
Ursula Kudrna). Eigentlich werden<br />
die Figuren aber durch Michael<br />
Wertmüllers Musik zum<br />
Leben erweckt. Dabei arbeitet<br />
der Komponist mit schnellen<br />
Schnitten, die oft vom Schlagzeug<br />
geschärft werden. Die Pausen<br />
sind kurz, die Reizdichte ist<br />
hoch, alles passiert gleichzeitig!<br />
Einen größeren Spannungsbogen<br />
baut Wertmüller aber nicht auf.<br />
Er setzt auf einzelne Bausteine,<br />
die für sich stehen und durchaus<br />
unterschiedlich gestaltet sind.<br />
Kristina Stanek singt als Mary<br />
Godwin in großen melodischen,<br />
ganz opernhaft gezogenen Linien<br />
von ihrem verstorbenen Kind;<br />
die von Lord Byron schwangere<br />
Claire Clairmont (bis in stratosphärische<br />
Höhen glasklar: Sara<br />
Hershkowitz) leckt zur hochgepeitschten<br />
Musik seinen Schritt,<br />
ehe Byron von den Wissenschaftlern<br />
ein blinkendes Gerät um die<br />
Hüfte geschnallt bekommt, das<br />
ihn zusätzlich stimuliert. Mit<br />
atemberaubender Geschwindigkeit<br />
folgt Szene auf Szene. Rolf<br />
Romei als Mary Godwins Freund<br />
Percy Bysshe-Shelley mit Mittelscheitel<br />
und Nickelbrille singt<br />
strahlende Spitzentöne dazu.<br />
Seth Carico ist mit seinem mächtigen<br />
Bassbariton ein markanter<br />
Leibarzt Polidori, der im zweiten<br />
Teil in Strapsen Lord Byron seine<br />
Liebe erklärt.<br />
Im exquisiten Solistenensemble<br />
ist Holger Falk als anarchistischer<br />
Lebemann George Gordon<br />
Noel Lord Byron das Kraftzentrum.<br />
„Das große Ziel des Lebens<br />
ist Empfinden. Zu spüren,<br />
dass wir existieren“, formuliert er<br />
im zweiten Teil in einer der wenigen<br />
ruhigeren Szene sein Credo<br />
im Sprechgesang. Das sexuelle<br />
Verhältnis mit seiner Halbschwester<br />
Augusta Leigh (koloraturengeschärft:<br />
Samantha Gaul) zelebriert<br />
dieser Byron genauso<br />
selbstverständlich, wie er Orangen<br />
an seiner nackten Brust reibt.<br />
Rausch und Ekstase als Kern des<br />
Lebens? Eine Verbindung zwischen<br />
all den Elementen, die wie<br />
im Teilchenbeschleuniger umherschießen,<br />
gelingt an diesem<br />
Abend nicht. Aber vielleicht ist<br />
das auch zu konservativ gedacht<br />
für diesen herausfordernden<br />
Musiktheaterabend.<br />
Weitere Vorstellungen:<br />
1./7./19./23./31. März, 8. April<br />
<strong>2019</strong>, Theater Basel.<br />
Georg Rudiger<br />
Üppig bebildert, dünne Story<br />
Ewlina Marciniak untersucht in ihrer Inszenierung „Die Bartholomäusnacht“ am Theater Freiburg Machtstrukturen<br />
Die große<br />
Reise<br />
Eine Reise um die Welt<br />
von Judith Nab für Kinder ab 4 +<br />
Die Theaterinstallation steht<br />
vom 14. bis 24. März bei uns.<br />
Mehr unter: www.marienbad.org<br />
Kartentelefon: 0761 31470<br />
Vögel werden im Laufe der<br />
Inszenierung von Ewlina Marciniak<br />
noch das eine oder andere<br />
Mal genannt, so als sollte<br />
dies die plastische Existenz<br />
dieser Tiere auf der Bühne des<br />
Großen Hauses legitimieren.<br />
Aber sie machen sich da auch<br />
einfach gut in der Tiefe des<br />
Raums. Und Bühnenbildnerin<br />
Anna Królikiewicz hat jene europäischen<br />
Arten bemüht, die<br />
farblich am besten kommen:<br />
Eisvogel, Stieglitz, Grünspecht.<br />
Dabei soll hier keine Vogelhochzeit<br />
gefeiert werden, es ist<br />
symbolischer. Mit der Heirat<br />
von Margarete von Valois und<br />
Heinrich von Navarra sollte der<br />
Krieg zwischen den Katholiken<br />
und Protestanten in Frankreich<br />
befriedet werden, stattdessen<br />
mündete die Hochzeitsnacht<br />
in der Abschlachtung von gut<br />
10.000 Hugenotten ‒ der so genannten<br />
Bartholomäusnacht.<br />
Wie bereits beim „Sommernachtstraum“<br />
der jungen polnischen<br />
Regisseurin so ist auch<br />
der Schauwert von „Die Bartholomäusnacht“<br />
hoch – die Inszenierung<br />
basiert auf Motiven<br />
des historischen Romans von<br />
Alexandre Dumas (Textfassung:<br />
Jan Czaplinski und Michael Billenkamp).<br />
Marciniak ist stark<br />
von der Kunstgeschichte inspiriert.<br />
Hieronymus Boschs „Garten<br />
der Lüste“ ist auf einigen der<br />
historisch anmutenden Kostüme<br />
gedruckt und tatsächlich stammt<br />
die Vogelschar auch aus diesem<br />
Bild. Mutter Katharina von<br />
Medici (Anja Schweitzer) und<br />
ihre Tochter Claudia (Stefanie<br />
Mrachacz) stecken zusammen<br />
in einem Hemd. Man muss sich<br />
ihre Beziehung deshalb nicht<br />
gleich als symbiotisch vorstellen.<br />
Denn die eigentlichen Themen<br />
sind auch in der zweiten Freiburger<br />
Inszenierung von Ewlina<br />
Marciniak die Machtverhältnisse<br />
zwischen den Geschlechtern<br />
und die Gewalt, die gegen<br />
Frauen ausgeübt wird. Das 16.<br />
Jahrhundert ist mehr Ambiente<br />
als wirkliches Anliegen und<br />
es lässt sich kaum als Folie für<br />
heutige Zustände verstehen. Das<br />
weiß man auch auf der Bühne,<br />
nicht grundlos macht sich Lukas<br />
Hupfelds Heinrich von Anjou<br />
über den „Renaissancefeminismus“<br />
lustig. Frauen werden im<br />
monastischen Kalkül auf dem<br />
Altar der Politik geopfert, und<br />
wirklich sieht die Hochzeitstafel<br />
von Margarete (Rosa Thormeyer)<br />
und Heinrich von Bourbon<br />
(Thieß Brammer) ein bisschen<br />
wie das letzte Abendmahl<br />
aus, nur dass es hier mehr als<br />
einen Judas gibt und Margarete<br />
trotz aller Frömmelei (katholisch)<br />
lebensfroh und aufmüpfig<br />
genug ist, sich kurz vor ihrer<br />
Vermählung mit La Môle (Tim<br />
Al-Windawe) einen gar protestantischen<br />
Liebhaber anzulachen.<br />
Auch das politische Chaos<br />
beginnt mit der weiblichen<br />
Machtübernahme der Macht<br />
durch eine Frau, Katharina von<br />
Medici greift zu, als Heinrich<br />
II. (Hartmut Stanke) noch nicht<br />
einmal richtig kalt ist. Auch<br />
wenn er wie Holbeins toter<br />
Christus ausgestreckt auf dem<br />
Boden liegt, hält ihn dies nicht<br />
davon ab, noch ein paar letzte<br />
Worte zu verkünden, aufzustehen<br />
und zu gehen. Und schon<br />
bald sind, was eben noch Bürger<br />
von Paris waren, nur noch<br />
Katholiken und Protestanten.<br />
„Die Bartholomäusnacht“<br />
schaut mit dem Wissen über die<br />
Gegenwart auf die Vergangenheit.<br />
Ereignisgeschichte wird<br />
aufgerufen, Massaker gegenüber<br />
Protestanten in einer Kirche verübt,<br />
die kurzerhand angezündet<br />
wird, Pogrome gegen Juden,<br />
dann der Völkermord in Ruanda<br />
und das Attentat auf Utoya.<br />
Alles ist aus dem gleichen Geist<br />
entstanden, der Sündenfall der<br />
Glaubenskriege setzt sich fort.<br />
Der Protestantenhasser Heinrich<br />
de Guise (Henry Meyer) interessiert<br />
sich kein bisschen für den<br />
Wortlaut der Bibel, die gerade auf<br />
Französisch veröffentlicht wurde.<br />
Religion ist nichts anderes<br />
als ein Unterscheidungsmerkmal<br />
und Katharina de Medici<br />
ist nur wenig an einem gütlichen<br />
Ende des Konflikts gelegen, die<br />
Rolle der Friedensstifterin soll<br />
jedoch ihr zu kommen, da wird<br />
die Rivalin Johanna von Navarra<br />
(Janna Horstmann) noch auf der<br />
Zielgeraden vergiftet. Die Stoßrichtung<br />
der Inszenierung jedoch<br />
hat man bald verstanden und so<br />
können die drei Stunden durchaus<br />
lang werden. Da helfen auch<br />
diverse Splattereffekte nicht.<br />
Weitere Vorstellungen: 8./16.<br />
und 29. März, im Großen Haus<br />
des Theater Freiburg.<br />
Annette Hoffmann