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RegioBusiness Nr. 200 - März 2019

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<strong>März</strong> <strong>2019</strong> I Jahrgang 18 I <strong>Nr</strong>. <strong>200</strong><br />

Blickpunkt 07<br />

Absolute Chefsache!<br />

Die Belegschaften in den Unternehmen werden immer internationaler.<br />

Firmen, die diese Entwicklung für sich nutzen, reduzieren Kosten, eröffnen<br />

sich neue Märkte und zusätzliche Umsätze. VON HERIBERT LOHR<br />

Zum Frühling wird es wieder<br />

offiziell: Am 28. Mai ist Diversity-Tag.<br />

Der Tag der Vielfalt<br />

– ein Thema, dem gerade auch in<br />

der Region Heilbronn-Franken immer<br />

mehr Bedeutung beigemessen<br />

wird. Der eigentliche Startschuss<br />

fiel im Januar 2018 als<br />

rund 20 Unternehmen und Organisationen<br />

in der Innovationsfabrik<br />

in Heilbronn, unter der Führung<br />

der Kontaktstelle Frau und Beruf<br />

und des Welcome Centers, das Diversity-Netzwerk<br />

Heilbronn-Franken<br />

ins Leben riefen.<br />

Der Hintergrund: Heilbronn-Franken<br />

als Wirtschaftsregion mit ausgeprägter<br />

internationaler Anbindung<br />

ist allein schon durch die<br />

Globalisierung und den demografischen<br />

Wandel auf den offenen<br />

Austausch von Waren und Dienstleistungen<br />

und damit auch den<br />

Austausch zwischen den Kulturen<br />

angewiesen.<br />

Denn ein gutes Diversity Management<br />

schätzt und fördert jeden<br />

Mitarbeiter. Nicole Knaack, Projektleiterin<br />

Charta der Vielfalt in<br />

Berlin: „Hier werden neue Potentiale<br />

freigesetzt, die Attraktivität<br />

als Arbeitgeber steigt und die Innovationsfähigkeit<br />

des Unternehmens<br />

wird gestärkt.“<br />

Unter Diversity wird die Wertschätzung<br />

aller Menschen verstanden –<br />

unabhängig von Geschlecht, Nationalität,<br />

ethnischer Herkunft, Religion<br />

oder Weltanschauung, Behinderung,<br />

Alter, sexueller Orientierung<br />

und Identität. Der „Charta<br />

der Vielfalt“, die auch die Mitglieder<br />

des Diversity-Netzwerkes unterschrieben<br />

haben, liegt die Überzeugung<br />

zugrunde, dass Arbeitgeber,<br />

die eine vorurteilsfreie Organisationskultur<br />

etablieren, für Mitarbeiter<br />

und Bewerber attraktiv<br />

sind, die neuen Strukturen selbst<br />

die Basis für Innovationen und<br />

wirtschaftlichen Erfolg bilden.<br />

Immer mehr Firmen<br />

unterzeichnen Charta<br />

Die Charta ist eine Initiative, die<br />

im Dezember <strong>200</strong>6 von vier Unternehmen<br />

ins Leben gerufen wurde.<br />

Bisher wurde sie von über 3000<br />

Unternehmen und Institutionen<br />

mit insgesamt 10,4 Millionen Beschäftigten<br />

unterzeichnet. Stetig<br />

kommen weitere hinzu. In Heilbronn-Franken<br />

sind mittlerweile<br />

80 Unternehmen und Organisationen<br />

unter den Unterzeichnern.<br />

Ramona Hofmann, Head of Diversity<br />

Management Rheinmetall Automotive<br />

AG wird deutlich: „Diversity<br />

ist kein Selbstzweck. Diversity<br />

ist Chefsache und betrifft alle Bereiche<br />

im Unternehmen.“ Hofmann<br />

ist überzeugt: „Kein Unternehmen<br />

wird in der Zukunft ohne<br />

Diversity-Management: Durchdachte Umsetzung sichert Wettbewerbsvorteile.<br />

Diversity Management auskommen.“<br />

Ausdruck dieser Entwicklung<br />

ist auch der Inklusionspreis,<br />

der in diesem Jahr bereits zum<br />

siebten Mal verliehen wird und<br />

auf den sich bereits über <strong>200</strong> Unternehmen<br />

aus ganz Deutschland<br />

beworben haben.<br />

Wie ernsthaft sich heimische Unternehmen<br />

mit der Thematik beschäftigen,<br />

zeigten zuletzt auch<br />

die jüngsten Veranstaltung des Diversity-Netzwerkes.<br />

Da besuchten<br />

Teilnehmer von mehr als 20 Unternehmen<br />

und Einrichtungen aus<br />

der gesamten Region den Textilhersteller<br />

Hakro in Schrozberg.<br />

Bei dem Netzwerktreffen unter<br />

dem Titel „Vielfaltsbewusster Betrieb“<br />

erhielten die Teilnehmer einen<br />

Einblick, wie Vielfalt in der<br />

Praxis gelebt wird. Das Familienunternehmen<br />

mit rund 180 Mitarbeitern<br />

gehört zu den Trendsettern.<br />

Aus 15 verschiedenen Nationen<br />

kommen die Mitarbeiter in<br />

den Räumen mit Wohnzimmeratmosphäre<br />

und ihnen wird Raum<br />

zur freien Entfaltung geboten.<br />

„Jeder Einzelne ist uns wichtig“,<br />

betont Maria Schneider von der<br />

Abteilung Personal & Zufriedenheit.<br />

Bei Bewerbern geht es darum,<br />

„ob derjenige zu uns und unserer<br />

Unternehmenskultur passt<br />

oder nicht.“ Alexander Mohr, Bereichsleiter<br />

Logistik & Dienstleistungen<br />

zählt Beispiele auf: „Wir<br />

haben Inklusions-Projekte mit<br />

Werkstätten, Sonderurlaub für soziale<br />

Projekte oder einen Freutag<br />

– jeden Freitag gibt es für die Mitarbeiter<br />

ein gemeinsames Essen<br />

als kleines Dankeschön.“<br />

Auf der Veranstaltung erläuterte<br />

Andreas Ihm, vom Institut der<br />

Technik der Betriebsführung<br />

(itb) den INQA-Check „Vielfaltsbewusster<br />

Betrieb“. Mit diesem<br />

Selbstbewertungstool können Unternehmen<br />

überprüfen, ob sie die<br />

Vielfältigkeit ihrer Belegschaft in<br />

betriebliche Prozesse einbeziehen.<br />

In den Unternehmen gibt es<br />

ganz unterschiedliche Ansätze der<br />

Umsetzung. „Es muss aber deutlich<br />

werden, dass Diversity ein Managementansatz<br />

ist, der die Effizienz<br />

im Unternehmen verbessert“,<br />

erklärt Kai Teckentrup, Geschäftsführer<br />

des gleichnamigen<br />

Unternehmens, das Türen und<br />

Tore produziert. Als der Export in<br />

einen neuen Markt nicht wie erwartet<br />

anlief, reagierte das Unternehmen<br />

sofort und bildete multinationale<br />

Teams, um die kulturelle<br />

Mentalität im Team der des<br />

Absatzmarktes anzunähern.<br />

Diversity eröffnet gerade auch<br />

hochqualifizierten Frauen zusätzliche<br />

Chancen. „Heutzutage bekommen<br />

die Frauen oft erst Kinder,<br />

wenn sie über 30 und bereits<br />

hochqualifiziert sind“, erklärt<br />

Ralf Sturm, Personalleiter von<br />

EBM-Papst in Mulfingen. Dort gibt<br />

es deshalb flexible Arbeitszeitmodelle.<br />

15- bis 20-Stunden-Wochen<br />

nach der Rückkehr aus der Elternzeit<br />

sind Standard. So bleiben<br />

Fachkräfte im Unternehmen und<br />

es entstehen keine Mehrkosten<br />

für die Suche nach Mitarbeitern.<br />

Je diverser die Mitarbeiter sind,<br />

desto vielfältiger sind die Talente,<br />

auf die ein Unternehmen zurückgreifen<br />

kann. Personalleiter Franz<br />

Seuling erklärt seine Strategie zur<br />

Foto: Axa<br />

Auswahl von Vertrieblern: „Wir<br />

versuchen die richtigen Personen<br />

an die richtigen Auftragspositionen<br />

zu bringen. Dadurch, dass er<br />

Mitarbeiter und Kunden „intern<br />

matched“, also passend zusammenbringt,<br />

könne sein Unternehmen<br />

die Kunden anders ansprechen.<br />

Studien belegen, dass Mitarbeiter,<br />

deren Potential gezielt gefördert<br />

wird, weniger schnell das<br />

Unternehmen verlassen und weniger<br />

Fehltage haben. Wo Mitarbeiter<br />

Förderung und Wertschätzung<br />

erfahren, sinken Fehlzeiten und<br />

Fluktuation erheblich. So hat<br />

auch der bekannte Maschinenbauer<br />

Voith in Crailsheim die Themen<br />

Diversity und Inklusion in seiner<br />

Unternehmenskultur aufgenommen<br />

und fördert Arbeitsmodelle,<br />

die die Vereinbarkeit von Familie<br />

und Beruf unterstützen.<br />

www.charta-der-vielfalt.de<br />

www.deutscher-diversity-tag.de<br />

Wer auf Vielfalt setzt, schöpft aus großem Potenzial<br />

Mitarbeiter, die erst auf den zweiten Blick ins Schema passen, sind oft motivierter und bleiben dem Unternehmen lange Zeit treu.<br />

VON KERSTIN DORN<br />

Diversity heißt, Vielfalt zuzulassen.<br />

Es bedeutet, ethnische<br />

Zugehörigkeiten, Alter, Geschlecht<br />

oder Behinderungen<br />

nicht als Makel zu sehen, sondern<br />

die unterschiedlichen Potenziale,<br />

Hintergründe und Erfahrungen zu<br />

nutzen. Dass der Begriff derzeit in<br />

aller Munde ist, hat unterschiedliche<br />

Gründe: Die Erfordernisse<br />

der Globalisierung gehören dazu,<br />

ebenso wie der Arbeitskräftemangel<br />

wegen der guten konjunkturellen<br />

Lage und des demografischen<br />

Wandels. Die Unternehmen können<br />

es sich schlichtweg nicht<br />

mehr leisten, auf Arbeitskräfte zu<br />

verzichten, die auf den ersten<br />

Blick nicht ins Schema passen.<br />

Die ihre Qualifikationen vielleicht<br />

auf Umwegen erreicht haben, die<br />

sich wegen einer Behinderung<br />

oder Krankheit neu orientieren<br />

mussten oder die längere Zeit<br />

nicht berufstätig waren.<br />

Unsere drei Beispiele zeigen, dass<br />

es sich für die Unternehmen<br />

durchaus lohnt, diesen Menschen<br />

eine Chance zu geben. Denn sie<br />

haben loyale und engagierte Mitarbeiter<br />

gewonnen, die sich eng mit<br />

dem Unternehmen identifizieren<br />

und lange bleiben. Diese drei Menschen<br />

haben keine schnurgeraden<br />

Lebensläufe vorzuweisen.<br />

Aber sie sind durch eigene Kraft<br />

und durch die Unterstützung von<br />

Unternehmen oder Verbänden in<br />

Jobs angekommen, die sie gern<br />

und gut ausüben und in denen sie<br />

geachtet und wertgeschätzt werden.<br />

TEMPERAMENT Enza Mega ist<br />

33 Jahre alt und arbeitet beim Gewindehersteller<br />

Bass in Niederstetten.<br />

Ihre offizielle Berufsbezeichnung<br />

lautet Teamassistentin. Die<br />

inoffzielle: „gute Seele des Hauses“.<br />

Enza erledigt alle organisatorischen<br />

Aufgaben wie die Ein- und<br />

Ausgangspost, firmeninterne Meetings<br />

sowie die Planung von Geschäftsreisen.<br />

Sie empfängt ausländische<br />

Gäste und sorgt dafür, dass<br />

sie gut untergebracht sind und<br />

Motiviert: Enza Mega.<br />

Foto: Bass<br />

sich im Unternehmen wohl fühlen.<br />

Das alles hat sie nie gelernt,<br />

aber es macht ihr großen Spaß.<br />

Eine Begeisterung, die auf ihre Arbeit<br />

und ihre Kollegen abfärbt. Dabei<br />

ist Enza Mega eigentlich diplomierte<br />

Biotechnologin. Eine Ausbildung,<br />

mit der sie in ihrer süditalienischen<br />

Heimat wenig Chancen<br />

hatte, einen ansprechenden Job<br />

zu finden. Deshalb setzte sich die<br />

damals 28-Jährige 2014 in den<br />

Bus, um in Deutschland ihr Glück<br />

zu versuchen. Bereits einen Tag<br />

später nahm sie, noch ohne ein<br />

Wort Deutsch zu sprechen, einen<br />

Job als Zahnarzthelferin an. Ihre<br />

mittlerweile sehr guten Sprachkenntnisse<br />

erlernte sie im VHS-<br />

Kurs, wo sie ein halbes Jahr lang<br />

zugleich Schülerin im Deutschkurs<br />

und Lehrerin im Italienischkurs<br />

war. Enza hat sich durchgebissen:<br />

Heute sagt sie, sei sie in<br />

Deutschland angekommen und<br />

hier wirklich glücklich. Nach Italien<br />

fährt sie nur noch, um Urlaub<br />

zu machen und – um zu heiraten.<br />

KINDHEITSTRAUM Bei Xaver<br />

Kohler ging vor drei Jahren gar<br />

nichts mehr. Ein Bandscheibenvorfall<br />

hat den damals 52-Jährigen<br />

aus dem Berufsleben gerissen.<br />

25 Jahre lang hat er als Instandhaltungsmechaniker<br />

gearbeitet<br />

und seinen Job geliebt. Aber<br />

Umgeschult: Xaver Kohler. Foto: privat<br />

nach einer Wirbelsäulenoperation<br />

war schnell klar, dass damit<br />

schlagartig Schluss war. Ein guter<br />

Freund gab ihm damals den Tipp<br />

mit der Umschulung und Kohler<br />

hat sich mit 54 Jahren noch einmal<br />

auf die Schulbank gesetzt und<br />

in zehn Monaten eine Ausbildung<br />

zum Lokomotivführer gemacht.<br />

Heute fährt er – immer noch in<br />

Vollzeit – einen Zug der Westfrankenbahn,<br />

die zum RegioNetz der<br />

Deutschen Bahn gehört. Er pendelt<br />

zwischen Aschaffenburg und<br />

Crailsheim und sagt: „Als kleiner<br />

Junge wollte ich Lokomotivführer<br />

werden. Das hat damals nicht geklappt.<br />

Nun habe ich mir auf Umwegen<br />

doch noch diesen Traum<br />

erfüllen können und das Geld<br />

stimmt auch.“<br />

WANDEL Leslie Brenner ist der<br />

Meinung, dass es den Fachkräftemangel,<br />

so wie er oftmals dargestellt<br />

und beklagt wird, in Wirklichkeit<br />

nicht in dieser Ausprägung<br />

gibt. Sie findet vielmehr,<br />

dass die Unternehmen zu viele potentielle<br />

Bewerber nicht berücksichtigen.<br />

Diese These hat eine<br />

gute Freundin in einer Masterarbeit<br />

untersucht und belegt, dass<br />

die meisten Stellenangebote auf<br />

männliche Bewerber mittleren Alters<br />

abzielen. Wenn sich dann<br />

nicht genügend Männer dieser Altersgruppe<br />

bewerben, werteten<br />

die Firmen das als Fachkräftemangel.<br />

Mit einer solchen Einschränkung<br />

jedoch würden sich die Unternehmen<br />

keinen Gefallen tun,<br />

schlussfolgert Brenner, weil gerade<br />

diese Zielgruppe die höchsten<br />

Gehaltsvorstellungen aufrufe<br />

und noch dazu häufiger den Job<br />

wechsle. Demzufolge investierten<br />

die Firmen in die falschen Leute<br />

und beschwörten einen Mangel<br />

herauf, den es so in vielen Bereichen<br />

nicht gebe.<br />

Brenner ist eine transsexuelle<br />

Frau und hat die Ressentiments<br />

aufgrund geschlechtlicher Diskriminierung<br />

selbst zu spüren bekommen.<br />

In vielen Berufsjahren<br />

hat sie ihre weibliche Identität<br />

überkompensiert und die Rolle<br />

als Mann erfolgreich gespielt. Bis<br />

sie in eine Krise geraten ist, die sie<br />

mit viel persönlichem Ehrgeiz und<br />

professioneller Hilfe überwinden<br />

konnte. Mehr noch: aus der sie gewandelt<br />

und gestärkt hervorgegangen<br />

ist. Sie hat gelernt, ihre Stärken<br />

– eine gute Ausbildung, Ausdauer<br />

und Toleranz – bewusster<br />

einzusetzen.<br />

Heute arbeitet sie als Business<br />

Coach und leitet die Agentur<br />

„Change by Coaching“. Sie begleitet<br />

andere Menschen – Führungskräfte<br />

wie auch Mitarbeiter – beispielsweise<br />

auf dem Weg aus Konflikten<br />

und Krisen in der Firma<br />

und unterstützt sie dabei, ihre<br />

Selbstbestimmung zu finden und<br />

zu stärken.<br />

Selbstständig: Leslie Brenner. Foto: privat

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