Berliner Kurier 03.04.2019
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*<br />
AKTUELL<br />
Von<br />
HOLGER SCHMALE<br />
und<br />
MARKUSDECKER<br />
Berlin – Sein Blick auf die<br />
deutsche Einheit ist schon<br />
immer messerscharf gewesen.<br />
Jetzt äußerte sich Joachim<br />
Gauck erneut zur Lage<br />
der Nation: wie immer<br />
hochkompetent, aber kritisch.<br />
Eine seiner Äußerungen<br />
dürfte nicht jedem<br />
schmecken: Der Ex-Bundespräsident<br />
glaubt, Ostdeutschen<br />
fehle der absolute<br />
Durchsetzungswille.<br />
Hätte sich Joachim Gauck vor<br />
drei Jahren anders entschieden,<br />
wäre jetzt seine zweite<br />
Amtszeit als Bundespräsident<br />
auch schon wieder fast zur<br />
Hälfte vorüber. Man fragt<br />
sich, warum er es nicht tat.<br />
Gauck erscheint körperlich<br />
und geistig fit und engagiert<br />
wie eh und je. Und er hat etwas<br />
zu sagen zur Lage im<br />
Land. Das konnte man Montagabend<br />
erleben, als das ZDF<br />
einen Film mit ihm und über<br />
ihn präsentierte: „30 Jahre<br />
Mauerfall –Joachim Gaucks<br />
Suche nach der Einheit“.<br />
Die Filmemacher Florian<br />
Huber und Stephan Lamby<br />
sind mit ihm durch das Land<br />
gefahren in einer Zeit, da die<br />
Fehlentwicklungen, die Vorwürfe<br />
und Missverständnisse<br />
zwischen West- und Ostdeutschen<br />
so heftig wie lange nicht<br />
diskutiert werden. Befreit von<br />
den Zwängen des Amtes trifft<br />
Gauck sich vor der Kamera<br />
mit Leuten, mit denen er eigentlich<br />
nie reden wollte: dem<br />
Pegida-Gründer René Jahn<br />
aus Dresden zum Beispiel,<br />
oder der ehemaligen AfD-<br />
Vorsitzenden Frauke Petry.<br />
Während er bei Jahn immerhin<br />
einen Prozess ausmachen<br />
kann, der von bloßer Wut zur<br />
Bereitschaft führen könnte,<br />
sich an demokratischer Willensbildung<br />
zu beteiligen, ist<br />
er über Petrys Positionen empört.<br />
Sie behauptet in dem Gespräch,<br />
die Menschen im Osten<br />
seien gegenüber der politischen<br />
Elite heute so ohnmächtig<br />
wie zu DDR-Zeiten.<br />
Sie selbst, die als Ostdeutsche<br />
eine einflussreiche Partei mit<br />
aufgebaut und geführt habe,<br />
sei doch das beste Gegenbeispiel,<br />
ruft Gauck. „Wie können<br />
Sie so etwas sagen!“<br />
Im Film und nach der Vorführung<br />
im Gespräch mit dem<br />
ZDF-Chefredakteur Peter<br />
Frey zeigt Gauck seinen sehr<br />
eigenen Blick auf die Probleme<br />
der deutschen Einheit. Er<br />
glaube ja, „dass die Unterschiede<br />
zwischen Ossi und<br />
Ossi oft größer sind als die<br />
zwischen Ossi und Wessi“. Er<br />
widerspricht der These, für<br />
den Niedergang der ostdeutschen<br />
Wirtschaft seien vor al-<br />
Gaucks<br />
Ossi-Zeugnis:<br />
Durchsetzung<br />
gefährdet!<br />
Mangelnder Erfolgswille? Der Ex-Präsident stößt mal wieder<br />
eine Ost-West-Debatte an –und erntet nicht nur Zustimmung<br />
lem Westunternehmen und<br />
die Treuhand verantwortlich.<br />
„Die SED hat doch das Land<br />
40 Jahre heruntergewirtschaftet!“<br />
Dazu habe sie mit<br />
ihrer Planwirtschaft Fantasie,<br />
schöpferische Kraft und die<br />
Lust an Eigenverantwortung<br />
vertrieben, auch ein Grund<br />
für die Nachteile Ostdeutscher<br />
in Konkurrenz mit<br />
Westdeutschen. Sie hätten<br />
sich eine Wettbewerbsmentalität<br />
wie ihre Landsleute im<br />
Westen nicht auf natürlichem<br />
Wege antrainieren können.<br />
Nun fehle ihnen „dieser absolute<br />
Durchsetzungswille“.<br />
Der Soziologe Raj Kollmorgen<br />
von der Hochschule Zittau-<br />
Görlitz gibt Gauck recht. „Ich<br />
glaube,dass es da Defizite gibt“,<br />
sagt er. „Dieser Kollektivismus<br />
aus der DDR färbt ab.“ Allerdings<br />
sei die Sozialstruktur im<br />
Osten anders als im Westen,<br />
weil zahlreiche Menschen aus<br />
bürgerlichen Kreisen und junge<br />
Menschen abgewandert seien.<br />
„Viele, die typischerweise<br />
so einen Durchsetzungswillen<br />
zeigen, sind gar nichtmehr vor<br />
Ort.“ ÜberdieshättenvieleOstdeutsche<br />
aus den Umbrüchen<br />
der 1990er-Jahre den Schluss<br />
gezogen, besser nicht allzurisikobereit<br />
zu agieren.Der Soziologe<br />
warnte davor, die westdeutsche<br />
Konkurrenznorm<br />
einfach zu übernehmen. Er riet<br />
den Westdeutschen, selbstkritisch<br />
zu sein.<br />
Der SPD-Ostbeauftragte<br />
Martin Dulig äußerte sich<br />
ähnlich. „30 Jahre nach dem<br />
Mauerfall haben es die Ostdeutschen<br />
satt, an einem<br />
westdeutschen Ideal der Vergangenheit<br />
gemessen zu werden“,<br />
sagte er dem KURIER<br />
(Redaktionsnetzwerk<br />
Deutschland). „Wir sollten<br />
die Menschen nicht für eine<br />
Ellbogengesellschaft abrichten,<br />
sondern gerechte Verhältnisse<br />
schaffen.“<br />
Erst am Montag löste die<br />
Studie des Deutschen Zentrums<br />
für Integrations- und<br />
Migrationsforschung eine Debatte<br />
aus. Sie fragte nach Parallelen<br />
zwischen Ostdeutschen<br />
und Migranten und<br />
kommt zu der Erkenntnis,<br />
dass beide oft deklassiert sind<br />
–bei Einkommen, Führungspositionen<br />
und negativen Zuschreibungen<br />
von außen –<br />
und sich entsprechend deklassiert<br />
fühlen.<br />
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung,<br />
Christian Hirte<br />
(CDU), sieht das skeptischer:<br />
„Ich halte die Grundannahme<br />
hinter solchen Untersuchungen<br />
für nicht ganz einfach“,<br />
sagte er dem KURIER (RND).<br />
„Denn da wird eine westdeutsche<br />
Mehrheitsgesellschaft<br />
genommen und dann geschaut,<br />
wer in welcher Form<br />
davon abweicht oder sich<br />
selbst anders wahrnimmt. Dahinter<br />
steckt die Erwartung –<br />
auch vieler Westdeutscher<br />
selbst –, als gäbe es einen gesellschaftlichen<br />
westdeutschen<br />
Null-Meridian, an dem<br />
sich alle zu orientieren hätten.“<br />
Der Vorsitzende der Linksfraktion<br />
im Bundestag, Dietmar<br />
Bartsch, sagte hingegen,<br />
das Ergebnis der Studie sei<br />
„keine Überraschung, sondern<br />
Ergebnis von drei Jahrzehnten<br />
vielfach unsozialer<br />
Regierungspolitik, die den gesellschaftlichen<br />
Zusammenhalt<br />
massiv beschädigte“.