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8 6./7. APRIL 2019<br />
NORWEGEN I<br />
VonPeter Urban-Halle<br />
LIVE<br />
VonChristian Seidl<br />
Schwärmerisches Pathos<br />
GesammelteWerkeauf 90 Seiten, das ist konzis!<br />
Dagny Juel (1867–1901) aus dem Buchmesseland<br />
Norwegen schrieb zwar auch,<br />
aber vor allem lebte sie. Der Herausgeber<br />
Lars Brandt schildertihr Leben in einem ausholenden,<br />
leider verquasten Nachwort. 1893<br />
kam sie nach Berlin, Edvard Munch führte<br />
sie in die deutsch-skandinavische Boheme<br />
ein, die sich im „SchwarzenFerkel“ in Berlin<br />
traf. Alle waren ihr verfallen, sie hatte eine<br />
„schlangenhafte, müde Lässigkeit“ und sah<br />
aus wie die junge Virginia Woolf. Munch hat<br />
sie gemalt, mit geöffneter Bluse und geschlossenen<br />
Augen auf dem Bett, das Bild<br />
heißt „Der Tagdanach“. Vermutlich gab es<br />
viele solcher Tage danach, auch noch als sie<br />
mit dem Bohemien Stanislaw Przybyszewski<br />
verheiratet war. Doch Brandt will uns zeigen,<br />
dass sie auch eine ernst zu nehmende<br />
Dichterin war.Alle ihreTexte (Prosa, Drama,<br />
Lyrik) drehen sich um die Liebe, sie haben<br />
ein schwärmerisches Pathos. Aber die „statuarisch<br />
stilisierten“ Charaktereihrer Stücke<br />
sprechen „deklamatorisch“, wie Brandt selber<br />
meint. Dagny Juels poetische Substanz<br />
sei eben, sagte der Kunstkritiker Julius<br />
Meier-Graefe, inihre persönliche<br />
Präsenz eingeflossen.<br />
1901 wurde sie<br />
vonihrem Reisegefährten<br />
in Tiflis erschossen. Sie<br />
hinterließ zwei Kinder.<br />
Wasfür ein Schicksal.<br />
Durchdachtes Chaos<br />
DagnyJuel: FlügelinFlammen<br />
Gesammelte Werke. Deutsch von<br />
Lars Brandt. Weidle, Bonn2019.<br />
174S., 20 Euro<br />
Das Buch des 1946 geborenen Svein Jarvoll<br />
sieht aus wie eine Zeitschrift ohne Umschlagbild,<br />
ganz weiß, geheftet, zweispaltig<br />
gedruckt. Im ersten Teil, „Das gelbe Buch“,<br />
reist der Norweger Mark Stoller vonValencia<br />
über Irland und Italien bis nach Australien.<br />
Für den kürzeren zweiten Teil, „Lonaquemor“,<br />
muss man das Heft drehen. Da<br />
sind wir schon in Australien, wo eine Emmi<br />
sich mit ihrer Freundin Alice aufmacht, um<br />
ihren Vater im Dschungel zu suchen. Jarvolls<br />
Roman erschien 1988 und wurde in Norwegen<br />
nahezu ignoriert. Er ist auch nicht ganz<br />
einfach zu lesen, es ist ein durchdachtes<br />
Chaos (um den Autor zu paraphrasieren),<br />
mit deutlichen Einflüssen von Dante, Rabelais<br />
und Joyce. Aber auch, weil es bei Jarvoll<br />
um den Todgeht. Doch stoßen wir immer<br />
wieder auf beinahe amüsante,einfach herrliche<br />
Passagen. Das schönste Wort, als Emmi<br />
„ins Lesefieber kam“, war „Melancholie“. Es<br />
hatte für sie mit dem Duft von Magnolien in<br />
einem dunklen Zimmer zu tun, ehe man das<br />
Licht anmacht.Wasfür ein wunderbarerVergleich!<br />
So schön, so dunkel, so sonderbar ist<br />
das ganzeBuch. Manversteht es nur,<br />
wenn man entweder viel weiß<br />
oder ganz eigene Erklärungen<br />
für all die Rätsel<br />
findet. Die Übersetzung<br />
muss eine Herkules-Arbeit<br />
gewesen sein!<br />
SveinJarvoll:<br />
Eine Australienreise<br />
Roman. Deutschvon Matthias<br />
Friedrich. Urs Engeler,Schupfart<br />
2019. 116 S.,21Euro<br />
Blick durchs Schaufenster eines Souvenirladens in St. Petersburg.Dortsind Stalin, Gorbatschow und Jelzin (v.l.) vereint.<br />
Nach 70 Jahren aufgetaut<br />
In Jewgeni Wodolaskins Roman „Luftgänger“ treffen altes und neues Russland aufeinander<br />
Ein Mann, etwa dreißig Jahre alt,<br />
wacht mit totaler Amnesie in einer<br />
Klinik auf. Der Arzt namens Geiger<br />
sowie eine ihn rundum betreuende<br />
Schwester sprechen russisch mit ihm und<br />
benehmen sich übertrieben fürsorglich. Sie<br />
bleiben aber geheimnisvoll, was die Situation<br />
des Patienten angeht. Er soll sich seine<br />
Erinnerungen, sein Leben selbst zurückerobern.<br />
DerArztverrät ihm jedoch, wie er heißt,<br />
und erklärt, dass Innokenti Platonow nach<br />
langem Schlaf in Petersburgerwacht sei.<br />
Nach und nach kommen Erinnerungsfetzen,<br />
Mosaikstücke der Vergangenheit hoch:<br />
Namen von Menschen, Gefühle, Erfahrungen,<br />
Ereignisse. Geiger rät ihm, diese aufzuschreiben.<br />
So werden der Arzt und auch wir<br />
Zeuge von Innokentis Suche nach der verlorenen<br />
Zeit, denn die Tagebuchaufzeichnungen<br />
entsprechen dem Roman, der uns vorliegt,<br />
Jewgeni Wodolaskins „Luftgänger“.<br />
Die erste Erinnerung hat Innokenti an<br />
seine Großmutter, die dem Kleinen „Robinson<br />
Crusoe“ vorliest. EinGlücksgefühl, doch<br />
die Lektüre stimmt auch ein Motiv an, das<br />
den Verlauf des Romans wie eine traurige<br />
Melodie durchzieht: Einsamkeit und Verlorenheit.<br />
Eine weitere Insel, so rekonstruiert<br />
der Patient, hat sein Leben entscheidend beeinflusst,<br />
Erinnerungen an ein Lager, Erfahrungen<br />
von Verrat, Gewalt und Folter tauchen<br />
auf. UndVerluste: Sein Vater wurde von<br />
Matrosen erschlagen, der Vater seiner großen<br />
Liebe von der Polizei erschossen. Und<br />
Anastassija selbst, was ist aus ihr geworden?<br />
Das Merkwürdigste aber: Innokenti, so<br />
weiß er bald, wurde im Jahr 1900 geboren,<br />
hat die Schrecken des Roten Terrors miterlebt<br />
–imKrankenhaus aber gibt es Computer,<br />
und seine Tabletten tragen das Haltbarkeitsdatum<br />
1999.<br />
Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler<br />
Jewgeni Wodolaskin, 1964 geboren,<br />
gilt schon seit Längerem als einer der interessantesten<br />
russischen Autoren. Seit mehr als<br />
VonMathias Schnitzler<br />
Jewgeni Wodolaskin: Luftgänger<br />
Ausdem Russischen vonGanna-Maria Braungardt.<br />
Aufbau, Berlin 2019. 429 S.,24Euro<br />
dreißig Jahren arbeitet er in Petersburg am<br />
Puschkinhaus,dem Institut für Russische Literatur.Historische<br />
Fachbücher und drei Romane<br />
hat er veröffentlicht. Für sein Gesamtwerk<br />
erhält er nun den Solschenizyn-Preis,<br />
der von Alexander Solschenizyn ins Leben<br />
gerufen wurde und seit 1997 verliehen wird.<br />
Bereits in Wodolaskins letztem Roman<br />
„Laurus“, der in zwanzig Sprachen übersetzt<br />
wurde, reflektierte und erzählte er poetischphilsophisch<br />
über das Wesen der Zeit. In der<br />
Geschichte eines von Schuld geplagten Heilers<br />
und späteren Mönchs, der durch das<br />
mittelalterliche Russland wandertund in die<br />
Zukunft sehen kann, setzte er dieVergangenheit<br />
raffiniert mit der Gegenwart inVerbindung.<br />
Ein Höhepunkt der russischen Literatur<br />
der letzten Jahre.<br />
Ähnliches tut Wodolaskin auch im „Luftgänger“,<br />
denn Innokenti –soviel müssen wir<br />
IMAGO IMAGES/KLAUS ROSE<br />
verraten –ist das Opfer eines wissenschaftlichen<br />
Experiments: Als menschliche Laborratte<br />
wurde er Anfang der 30er-Jahremit anderen<br />
Gefangenen der Bolschewisten in flüssigem<br />
Stickstoff eingefroren. Innokenti ist<br />
der einzige Überlebende, der nun, im postsowjetischen<br />
Chaos der Jelzin-Zeit, aufgetaut<br />
und als moderner Lazarus von den Toten<br />
zurückgekehrtist.<br />
Er versucht, sich mit der neuenWelt zu arrangieren,<br />
verdient sein eigenes Geld, lernt<br />
eine Frau kennen; trotz großer Anstrengungen<br />
und neuer Kontakte fühlt er sich dennoch<br />
fremd und einsam wie Frankensteins<br />
Monster. Der Blick des Fremden gibt Wodolaskin<br />
die Gelegenheit, die Schattenseiten<br />
der freiheitlich-konsumistischen Gesellschaft<br />
offenzulegen, ohne aber den kommunistischen<br />
Terror,der sich in Innokentis Erinnerungen<br />
immer wieder Bahn bricht, zu<br />
relativieren.<br />
Ganz im Gegenteil: Da eine Vergangenheitsbewältigung<br />
in Russland nie stattgefunden<br />
hat und Putins aggressive Innen- und<br />
Außenpolitik Kontinuität verheißt, setzt der<br />
in der Heimat populäreWodolaskin mit seinen<br />
Schilderungen totalitärer Willkür und<br />
Verbrechen ein Zeichen. Der Roman endet<br />
kurzvor der Machtübergabe Jelzins an Putin.<br />
Die Tagebuchform des Romans ermüdet<br />
mit der Zeit leider etwas; die ergänzenden<br />
Notate von Geiger und Anastassijas Nichte<br />
im zweiten Teil machen die Sache keineswegs<br />
besser.Der Höhepunkt des Romans ist<br />
aber prickelnd: Anders als sein Name vermuten<br />
lässt, ist das Gewaltopfer Innokenti selbst<br />
nicht frei von Schuld. Der Denunziant, der<br />
Anastassijas Vater einst der Polizei ausgeliefert<br />
hatte, wurde bald darauf ermordet aufgefunden.<br />
Die Liebe seines Lebens bekam<br />
Innokenti so nicht zurück, jetzt aber, siebzig<br />
Jahre später, gibt es ein „unverhofftes Wiedersehen“<br />
zwischen junger und alter Liebe –<br />
eine russischeVariation auf Johann Peter Hebels<br />
berühmte Erzählung gleichen Namens.<br />
Der Seelensucher<br />
EinLive-Album ist ein Statement dieser Tage,<br />
da Unmittelbarkeit, Direktheit und Risiko nahezu<br />
verschwunden sind aus der Popmusik.<br />
Es braucht schon ein gesundes Selbstbewusstsein,<br />
um die Hörer dem Wagnis eines<br />
musikalischen Schnappschusses auszusetzen.<br />
Natürlich auch die Eleganz des Könners.<br />
Und Paul Weller hat beides. Der ewig störrische<br />
Modfather erlaubt es sich sogar,eine Art<br />
Themenabend zu inszenieren, dessen Motto<br />
spätestens mit„The Soul Searchers“ klar wird,<br />
dem schönsten Song seines letzten Albums<br />
„True Meanings“: „I’m asearching soul/For<br />
searching’s sake/And Iwouldn’t want it any<br />
other way“, singt er da, so lässig wie feinsinnig<br />
unterstützt vom London Metropolitan Orchestra.<br />
Er war ja immer mehr Soulboy als<br />
Rock’n’Roller, und nicht vielen ist es gelungen,<br />
den herzrasenden Thrill des Soul mit britischem<br />
Songwriter-Sentiment zu verschmelzen.<br />
Ihm selbst auch nicht durchweg. Inzwischen<br />
ist er aber wieder bei sich: ElfSongs von<br />
„TrueMeanings“ haben es ins Programm geschafft,<br />
andere wie „One Bright Star“ oder<br />
„Strange Museum“ scheinen nur darauf gewartet<br />
zu haben, mit der Easiness gespielt zu<br />
werden wie an diesen zwei Abenden in der<br />
Royal Festival Hall in London. Undweil das alles<br />
zu schön klingt, um wahr zu sein, ist noch<br />
eine DVDbeigelegt,<br />
auf der das Ganzein<br />
bewegten Bildern<br />
festgehalten ist.<br />
Abende wie dieser<br />
PaulWeller:<br />
OtherAspects –Live at the<br />
RoyalFestival Hall<br />
Parlophone/Warner<br />
Mit Soul hatten die Toten Hosen nie was im<br />
Sinn. Während der junge Paul Weller den<br />
Punk als Neuübersetzung der Mod-Kultur<br />
und deren schwarzerMusikstile begriff, sahen<br />
Campino und Freunde darin eher eine Lizenz<br />
zu exzessiver Schlichtheit: Hier „A Town Called<br />
Malice“, dortdas„Altbier-Lied“. Dasist bis<br />
heute dieWelt, dieWeller und Campino –etwa<br />
gleich alt und in der gleichen Ära geprägt –<br />
trennt. Man tut den Toten Hosen da gar kein<br />
Unrecht: DieNähe zum Schlager und die Verbrüderung<br />
mit dem ehrlichen Biertrinker hat<br />
sie schließlich vom Ratinger Hof indie Düsseldorfer<br />
Arena geführt. Dortwurde auch das<br />
Finale der letzten Tour bestritten, das auf„Zuhause<br />
live“ dokumentiert ist. Ein Heimspiel<br />
also,eine Party. Undselbst wenn die Band dabei<br />
selten über das kleine musikalische Einmaleins<br />
hinausgeht, so tut sie das doch mit<br />
Erhabenheit; zumal durch die fast symbiotische<br />
Verschmelzung vonBand und Publikum<br />
Energieströme frei werden, denen man sich<br />
schwer entziehen kann. 34 Songs hat das Set,<br />
ein Best-of-Programm:„Das ist der Moment“,<br />
„Tage wie diese“,„Alles aus Liebe“, alles dabei.<br />
Undalles gut, solange die gute Telecaster den<br />
Tonangibt: Das ehrliche Gitarrenriff –das ist<br />
das Romantische an Abenden wie diesen –<br />
hält hier noch immer als Utopie einer gerechteren<br />
Welt her. Und<br />
mit viel Altbier<br />
glaubt man für zwei<br />
Stunden sogar<br />
daran.<br />
DieTotenHosen:<br />
Zuhause Live<br />
JKP<br />
OL