Berliner Zeitung 15.04.2019
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 88 · M ontag, 15. April 2019 – S eite 21<br />
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Feuilleton<br />
Sportund Sex:<br />
Ulrich Seidlers<br />
Premierenwochenende<br />
Seite 22<br />
„Der Maidan war das Wichtigste, das ich geleistet habe.“<br />
Der auf der Krim aufgewachsene ukrainische Filmregisseur Oleg Senzow erzählt autobiografische Geschichten Seite 23<br />
Lesen<br />
Öffentlich<br />
weinen<br />
Cornelia Geißler<br />
geht ohne Buch<br />
nirgendwohin.<br />
Ich sitze im Wartezimmer beim<br />
Arzt. Ich muss mich zusammenreißen,<br />
denn mir kommen die Tränen.<br />
Zwinkern hilft nicht mehr. Ich<br />
krame nach einem Taschentuch,<br />
während ich schon fast so laut<br />
schniefe wie die Frau mit der Erkältung<br />
neben mir.Dann perlt das Wasser<br />
aus den Augen. Es tropft auf mein<br />
Buch. Aber ich kann es jetzt nicht<br />
deswegen schließen. „Verletzt war<br />
ein trauriger Ausdruck dafür, dass er<br />
noch lebte“, schreibt Sorj Chalandon<br />
in „Am Tagdavor“, seinem Roman<br />
über ein verheerendes Grubenunglück<br />
1974 in Nordfrankreich. Die<br />
Seiten, auf denen noch nicht klar ist,<br />
wie sich das Schicksal des jungen<br />
Bergarbeiters Joseph entscheidet,<br />
sind so dicht geschrieben, so genau,<br />
dass sich jede Empfindung der handelnden<br />
Personen aus den Buchstaben<br />
durch die Augen ins limbische<br />
System des Leserhirns überträgt.<br />
Ich weiß, dass hier im Wartezimmer<br />
Leute mit anderen Sorgen um<br />
das eigene Leben hocken können<br />
und schaue mich beim Tränentrocknen<br />
vorsichtig um. Die Frau, die mir<br />
gegenübersitzt, nickt mir aufmunternd<br />
zu. Sie ist eine Komplizin, sie<br />
hat ein Buch auf den Knien. Und<br />
auch der Mann neben der Tür hält<br />
ein Buch in der Hand. Jetzt fällt mir<br />
auf, warum aus seiner Richtung so<br />
ein schnarrendes Geräusch kam. Er<br />
lacht beim Lesen. Leider kann ich<br />
den Titel nicht erkennen, will mich<br />
auch nicht weiter ablenken lassen.<br />
Zehn Leute sitzen im Wartezimmer;<br />
zwei horchen in sich hinein,<br />
fünf tippen aufTelefonen herum.Wir<br />
drei Bücherleser sind potenzielle<br />
Teilnehmer der „Demonstration für<br />
mehr Literatur im öffentlichen<br />
Raum“, der Read Parade, für die der<br />
Tropen Verlag gerade wirbt. Die soll<br />
am 9. Maium18Uhr am Spreewaldplatz<br />
in Kreuzberg beginnen. Bringt<br />
mehr Bücher in Wartezimmer!,<br />
könnte ich auf mein Plakat schreiben.<br />
Oder: Bringt Bücherboxen auf<br />
U-Bahnhöfe! Lasst Regionalzüge<br />
und ICEs nicht buchlos! Zusammen<br />
sind wir Leser weniger allein.<br />
Verwechslungen bei guter Beleuchtung<br />
VonPeter Uehling<br />
Die Staatsoper nimmt Prokofjews „Verlobung im Kloster“ den Witz und die Schärfe<br />
Aida Garifullina als Luisa und Violeta Urmana als ihre Amme<br />
Das sei „geradezu Champagner“,<br />
soll Sergej Prokofjew<br />
ausgerufen haben,<br />
als ihn seine Librettistin<br />
und spätere Frau Mira Mendelssohn<br />
mit der Komödie „The<br />
Duenna“ von1775 bekannt gemacht<br />
hatte. Angeregt von den Verwechslungen<br />
und Liebesverwicklungen<br />
begann Prokofjew voneinem Musiktheater<br />
im Geiste Mozarts und Rossinis<br />
zu träumen, von einer lebhaften<br />
Komödie voller lyrischer und charakteristischer<br />
Passagen.<br />
An der Staatsoper Unter den Linden<br />
stand diese Champagnerflasche<br />
namens „Die Verlobung im Kloster“<br />
zu lange offen und im Warmen, und<br />
das schon bei der Premiere am<br />
Sonnabend. DmitriTcherniakovs Inszenierung<br />
des Werks ist schal, es<br />
perlt nicht mehr allzu viel, Charakteristik<br />
scheint durch Parodie ersetzt<br />
und bleibt dennoch handzahm.<br />
Nun fragte man sich schon bei<br />
der Ankündigung: Warum gerade<br />
dieses Stück als repräsentative Premiereder<br />
Staatsopern-Festtage? Der<br />
Opernkomponist Prokofjew ist hierzulande<br />
eine ziemlich unbekannte<br />
Größe; von der „Liebe zu den drei<br />
Orangen“ abgesehen kennt man<br />
Prokofjew in Deutschland als Komponist<br />
von Klavier- und Violinkonzerten,<br />
der 5. Symphonie und einiger<br />
Klaviersonaten. Dabei ist das musikdramatische<br />
Werk eine Konstante<br />
seines Schaffens und entsprechend<br />
vielfältig: Neben Dostojewskis„Spieler“<br />
steht der vor fünf Jahren an der<br />
Komischen Oper ausprobierte, dämonisch<br />
überspannte „Feurige Engel“,<br />
darauf folgt der Gozzi-Stoff der<br />
„Drei Orangen“; „Semjon Kotko“<br />
(1939) handelt von der sowjetischen<br />
Revolution auf dem Lande; es folgt<br />
das gewaltige Epos „Krieg und Frieden“<br />
nach Tolstoi.<br />
Die Verwechslungs-Komödie<br />
„Verlobung im Kloster“ von 1940/41<br />
ist vielleicht Prokofjews harmloseste<br />
Oper.Ein Edelmann will ins Geschäft<br />
eines Fischhändlers einsteigen und<br />
verspricht ihm zur Bekräftigung<br />
seine Tochter als Frau. Die ist in einen<br />
armen Teufel verliebt; ihre<br />
Amme entwickelt einen Plan und<br />
tauscht mit ihr die Kleider,sodass die<br />
Tochter fliehen kann und die Amme<br />
den Fischhändler heiratet. Ins Kloster<br />
führteine Nebenhandlung mit einem<br />
weiteren Liebespaar.<br />
Wer Oper schon immer als Mogelpackung<br />
empfand, in der die<br />
Handlung zum Vorwand für Musik<br />
wird, hat hier ein Paradebeispiel vor<br />
sich. Tcherniakov als Regisseur verkauft<br />
uns die Personen als „Gemeinschaft<br />
anonymer Opern-Abhängiger“,<br />
deren Therapeut auf einem<br />
Flipchart als Heilung vorschlägt:<br />
„Wir erfinden eine Oper.“ Darunter<br />
finden sich die Rollen aufgelistet, die<br />
von den Mitgliedern der Selbsthilfe-<br />
RUTH UND MARTIN WALZ<br />
gruppe übernommen werden. Alles<br />
findet bei einheitlicher Beleuchtung<br />
und Szene sowie ohne Auf- und Abtritte<br />
statt, die in einer Verwechslungskomödie<br />
unabdingbar sind –<br />
wie soll man verwechseln, wenn<br />
man jeder Verwandlung Zeuge wird?<br />
Erstaunlicherweise leidet die Komik<br />
einer der zentralen Verwechslungsszenen<br />
darunter nicht: Wenn<br />
nämlich der Fischhändler den<br />
Schleier über der ihm bis dahin unbekannten<br />
Braut hebt und statt der<br />
erwarteten jungen Tochter die alternde<br />
Amme vor sich sieht. Künstlich<br />
sind derartige Szenen immer gewesen,<br />
und mehr als das will Tcherniakovwohl<br />
auch nicht zeigen. Schal<br />
wird die Produktion, weil mit dieser<br />
Versuchsanordnung kein Leben in<br />
die Bude kommt. Auch gelingt keine<br />
gegenseitige Befruchtung des eigentlichen<br />
Opern-Plots mit dem Selbsthilfegruppen-Plot.<br />
Im Grunde erzählt<br />
Tcherniakov den Opern-Plot, aber<br />
eben derart indirekt, dass man als<br />
Zuschauer auch auf die Idee kommt,<br />
den Sinn dieser Oper zu bezweifeln<br />
und sich zu fragen, warum man sich<br />
das eigentlich anschauen soll.<br />
Immerhin lässt es sich oft gut anhören.<br />
Aida Garifullina als Tochter<br />
Luisa muss inszenierungsbedingt<br />
ihren jugendlich-jubelnden Sopran<br />
nicht groß modulieren, aber er klingt<br />
schön genug, dass man seiner nicht<br />
müde wird. Dasgilt erst recht für die<br />
zugleich warme wie explosive Mezzostimme<br />
Anna Goryachovas inder<br />
elegischen Nebenrolle der Clara: Vor<br />
allem hier wirddie große Ausdrucksspanne<br />
von Prokofjews Musik greifbar.<br />
In der schillernden Rolle der<br />
Amme glänzt Violeta Urmana mit<br />
hintergründigem und trockenem<br />
Humor. Stephan Rügamer charakterisiert<br />
den Edelmann Don Jerome<br />
scharf mit hellem Tenor und großer<br />
Spielfreude, Goran Juric als Fischhändler<br />
Mendoza passt mit reich differenziertem<br />
Bariton bestens dazu.<br />
Die Liebhaber, Bogdan Volkov als<br />
Antonio und Andrey Zhilikhovsky als<br />
Ferdinand klingen zauberhaft, bleiben<br />
aber in ihren Spießerklamotten<br />
und ihrer regieseitig wenig ausgearbeiteten<br />
Bühnenpräsenz farblos.<br />
Daniel Barenboim zeigt am Pult<br />
der Staatskapelle vor allem Gespür<br />
für die satten und gelegentlich originellen<br />
Orchesterfarben dieser Partitur,weniger<br />
für ihren Rhythmus und<br />
ihre geschärften melodischen Konturen.<br />
Auch aufdieseWeise hörtman<br />
viel von der differenzierten Ausdruckskraft<br />
dieser Musik. Doch sie<br />
verliert, so in die Fläche gebreitet,<br />
starkanWitz und Tempo.Sucht man<br />
nach Erklärungen für die Langatmigkeit,<br />
wirdman nicht nur den Regisseur,<br />
sondern auch den Dirigenten<br />
zur Verantwortung ziehen wollen.<br />
DieBegeisterung der anonymen<br />
Opern-Abhängigen im Publikum<br />
beim Schlussapplaus ließ sich indes<br />
davon nicht bremsen.<br />
NACHRICHTEN<br />
Max Bronski erhält<br />
Friedrich-Glauser-Krimipreis<br />
DerSchriftsteller MaxBronski hat für<br />
seinen Kriminalroman „Oskar“ den<br />
renommierten Friedrich-Glauser-<br />
Preis 2019 erhalten. Diemit 5000<br />
Euro dotierte Auszeichnung wurde<br />
am Sonnabend beim Treffen<br />
deutschsprachiger Krimi-Autoren<br />
„Criminale“ in Aachen verliehen,<br />
wie die Autorenvereinigung Syndikat<br />
als Veranstalter mitteilte. (dpa)<br />
MDR-Intendantin will starke<br />
Frauen auf dem Bildschirm<br />
MDR-Intendantin Karola Wille sieht<br />
Frauen auch in ihrer Branche weiterhin<br />
benachteiligt. „Wir brauchen<br />
mehr starke Frauen auf den Bildschirmen“,<br />
sagte sie laut Mitteilung<br />
bei einer Konferenz in Leipzig. Stereotype<br />
vonden Geschlechternim<br />
Kopf beeinflussten noch immer das<br />
Verhalten und Entscheidungen,<br />
gleichwohl die Branche auf einem<br />
guten Wegsei. (dpa)<br />
Ai Weiwei schafft Skulptur<br />
für verschleppte Studenten<br />
Miteinem Wandbildnis aus Lego-<br />
Steinen setzt der chinesische Künstler<br />
Ai Weiwei den verschleppten Studenten<br />
vonAyotzinapa in Mexiko ein<br />
Denkmal. Miteiner Million Steinen<br />
hat der im <strong>Berliner</strong> Exil lebende<br />
Künstler die Gesichter der 43 jungen<br />
Männer nachgebildet, die seit einem<br />
Polizeieinsatz vorfast fünf Jahren als<br />
vermisst gelten. DieEntführung der<br />
Studenten hatte auf der ganzen Welt<br />
einen Sturmder Empörung ausgelöst<br />
und ist bis heute nicht aufgeklärt.<br />
(dpa)<br />
Ai Weiwei erinnertmit einer Lego-Skulptur<br />
an mexikanische Studenten. DPA<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Klaus &Peter<br />
Wärmendes<br />
Bauchgefühl<br />
VonPeter Wawerzinek<br />
Klaus wollte mit seiner Frau zum Konzert<br />
kommen, sagt aber kurzfristig für beide<br />
ab. Der Mann mit der Violine ist sein guter<br />
Bekannter,wir sollen ihn grüßen. Dersitzt irgendwann<br />
im Vorraum, ich gehe hin und<br />
richte die Grüße aus. Ansonsten sind wir<br />
zwei Stunden zu früh vor Ort, esist viel zu<br />
kalt, um in die nahen Gärten vonMarzahn zu<br />
spazieren. Eisiger Polarwind.<br />
Also sehen wir uns im Forum die ausgestellten<br />
Fotografien mehrmals an und suchen<br />
danach eine nahe Wärmestube.Dauert<br />
eine Weile, bis wir etwas finden, ist eher die<br />
Wohngebietsstammkneipe mit lauter Bierund<br />
Sekttrinkern. Tee, sagt die Kellnerin,<br />
kann sie uns machen, hilft sicher gegen die<br />
Kälte draußen, ihr unbestimmter Kommentar.Wir<br />
wärmen uns auf und verbringen die<br />
Wartezeit recht gut, bis es endlich so weit ist,<br />
wir zum Konzertpilgernkönnen.<br />
Klaus hat immer Geburtstag, sagt Toni der<br />
Sänger vom Schlagzeuger der Band. Waser<br />
damit meint, ist nicht zu entschlüsseln. Egal.<br />
Meine Freundin wartet vor allem auf einen<br />
Titel:„Am Fenster“. Für das Lied ist sie sechshundert<br />
Kilometer nach Berlin angereist.<br />
Den werden sie erst zum Schluss spielen,<br />
sage ich zu ihr.Und so kommt es auch.<br />
Als letzte Zugabe erklingen die berühmten<br />
Violinenklänge zum Song, der<br />
Meisterhit aus der DDR erobert den Saal,<br />
die Leute stehen auf, klatschen und singen<br />
mit. Altersdurchschnitt 60 plus<br />
möchte ich sagen, viele Pärchen. Meine<br />
Freundin hält es nicht auf dem Sitz, wird<br />
„Am Fenster“ gespielt, muss sie tanzen.<br />
Ich soll kein Spaßverderber sein, mit ihr<br />
über die gesamte Länge zappeln. Sie wird<br />
KLAUS ZYLLA<br />
sich dafür, dass sie von soweit her angereist<br />
ist, jetzt ordentlich belohnen.<br />
Nun ja, sagt sie nach dem Konzert, ist<br />
schon mit Abstand der beste Song von der<br />
Truppe. Was der Toni so zwischendurch<br />
quatscht, ist grenzwertiger Schwachsinn.<br />
Zum Beispiel die Sache mit der Liebe zwischen<br />
zwei Menschen und derer über die<br />
Jahre veränderten Haltungen zum gekochten<br />
Frühstücksei soll man sofort als Strunz<br />
vergessen. Dafür buht sie den Toni nachträglich<br />
noch einmal aus,nennt seine Pausenbelustigung<br />
gequirlten Mist.<br />
DieGeschichte,sage ich, hat er wortwörtlich<br />
vordreiJahren in Magdeburgerzählt. Da<br />
war aber Zoofest, die Band trat im Freien auf,<br />
hinten tobten Affen in ihrem Gehege. Die<br />
konnte ich schön beobachten und über<br />
Tonis Geplapper hinweghören. Ist nicht die<br />
Spur besser geworden, die Eierstory. Ist das<br />
Letzte,sagt meine Freundin. Basta.<br />
Den Tag drauf verreisten wir. Und das<br />
muss ich denn raschnochberichten. Als wir<br />
um die Mittagsstunde am Zielbahnhof ankamen,<br />
da musste sie erst einmal eine rauchen,<br />
konnte sich aber nicht auf die kalten Steine<br />
setzen. Verkühlung. Also lege ich ihr ganz<br />
Gentleman meinen Pulloverzum Daraufsetzen<br />
hin. Wir reden miteinander, haben nur<br />
Blicke für uns, erheben uns und? Freilich!<br />
DerPulloverbleibt allein zurück.<br />
In der Straßenbahn, nach etlichen Stationen,<br />
fällt es mir auf. Wir fahren zurück, sagt<br />
meine Freundin. Der ist längst weg, winke<br />
ich ab und gebe das schöne Stück verloren.<br />
Adieu, du guter, warmer Pullover. Doch<br />
meine Freundin lässt nicht locker. Sie habe<br />
so ein Bauchgefühl, sagt sie, dass der Pullover<br />
noch da ist. Und sokommt es auch, er<br />
liegt dortluftgetrocknet, unfassbarezwanzig<br />
Stunden unberührt. Und ich denke nur, bei<br />
so einer Bauchfrau bleibt man doch.