Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
2* <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 91 · 1 8./19. April 2019<br />
·························································································································································································································································································<br />
Report<br />
Drei Tage Leben<br />
Durchschnittliches Sterbealter<br />
nach Todesursachen<br />
Männer<br />
90<br />
85<br />
80<br />
75<br />
70<br />
65<br />
60<br />
55<br />
50<br />
45<br />
1980 2015<br />
90<br />
85<br />
80<br />
75<br />
70<br />
65<br />
60<br />
55<br />
50<br />
Krankheiten des<br />
Kreislaufsystems<br />
Krankheiten des<br />
Atmungssystems<br />
Bösartige Neubildungen<br />
(z.B. Krebs)<br />
Frauen<br />
Krankheiten des<br />
Verdauungssystems<br />
Infektiöse und<br />
parasitäre Krankheiten<br />
Äußere<br />
Ursachen<br />
45<br />
1980 2015<br />
Den eigenen Vater über Tage in<br />
den Todbegleiten, darauf kann<br />
man sich nicht vorbereiten. Es ist<br />
eine Erfahrung, die über Grenzen<br />
hinweggeht. Grenzen der Vertrautheit,<br />
Grenzen dessen, was man glaubt leisten zu<br />
können. Undtrotzdem würde ich mich wieder<br />
dafür entscheiden, wenn ich müsste.<br />
Diese Wahl werde ich nicht noch einmal<br />
treffen müssen. Mein Vater starb vorein paar<br />
Wochen. Er wurde 79 Jahrealt. Kein Alter,eigentlich,<br />
finde ich. Bis vor wenigen Wochen<br />
habe ich nicht damit gerechnet, dass das Leben<br />
meines Vaters jetzt enden könnte.Wenn<br />
jemand ernsthaft krank wird, ist plötzlich alles<br />
anders.Manchmal geht es sehr schnell.<br />
Ich habe nicht gewusst, wie es ist zu sterben.<br />
Nicht, bevor ich drei Tage lang am Sterbebett<br />
meines Vaters gesessen habe.Tag und<br />
Nacht zu hören, wie er atmet, und zu wissen,<br />
dass dies seine letzten Atemzüge sind. Sich<br />
zu fürchten, weil man nicht weiß, wie das<br />
dann sein wirdfür einen selbst, wenn er aufhört<br />
zuatmen, ob man das dann aushalten<br />
kann. Seine warme Hand zu halten, während<br />
er stirbt.<br />
Mitten im Wohnzimmer<br />
So geht es heutzutage den meisten Menschen.<br />
Kaum jemand kommt wirklich mit<br />
dem TodinKontakt. Erst wenn die eigenen<br />
Eltern sterben, ändert sich das. Und auch<br />
dann noch hat man die Wahl. Mankann das<br />
alles fernhalten von sich, das Sterben, das<br />
Mitleiden, das Trösten. Man kann den Sterbenden<br />
in einer Einrichtung versorgen lassen.<br />
Ab und zu kommt man zu Besuch, leidet<br />
eineWeile mit und geht dann wieder.Irgendwann<br />
stirbt die Mutter, der Vater. Vielleicht<br />
war man zufällig gerade da, sonst ist man angewiesen<br />
auf fremde Menschen, damit sie<br />
erzählen, wie es war, obesleicht ging loszulassen<br />
oder ob die Elternsich gequält haben.<br />
Genau wirdman es nie wissen.<br />
Dass es so läuft wie bei uns, dass man so<br />
nah dran ist, dass man den Sterbenden zu<br />
Hause hat, in der Mitte des Hauses, mitten<br />
im Wohnzimmer, das ist heutzutage eigentlich<br />
nicht mehr vorgesehen.<br />
Früher wurde überall gestorben. Mitten<br />
unter uns und in jedem Alter. ImJahr 1901<br />
war jeder zweite männliche Gestorbene<br />
ein Kind unter zehn Jahren, schreibt das<br />
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.<br />
Vier von fünf dieser Kinder konnten<br />
nicht einmal das erste Lebensjahr vollenden.<br />
Bei den Mädchen lagen die Anteile<br />
nur leicht niedriger.<br />
Heute sterben fast nur alte Menschen. Die<br />
meisten Menschen sterben im Alter zwischen<br />
60 und 80. Und das Sterbealter verschiebt<br />
sich weiter. Bald wird die größte<br />
Gruppe weit über 80 Jahre alt sein. Die Lebenserwartung<br />
bei der Geburthat sich drastisch<br />
verändert. Lag sie in den 1870er-Jahren<br />
noch bei 35 Jahren für Jungen und 38 Jahren<br />
für Mädchen, liegt sie heute bei 78 und 83<br />
Jahren. Das liegt vor allem an der Senkung<br />
der Säuglings- und Kindersterblichkeit, aber<br />
auch an den allgemeinen medizinischen<br />
Fortschritten und der Verbesserung der hygienischen<br />
Verhältnisse.<br />
Dashat zur Folge, dass in unserem näherenUmfeld<br />
seltener gestorben wird. Unddie<br />
Eltern sterben erst, wenn sie alt sind. Und<br />
dann sind sie nicht in unserer Nähe,weil die<br />
Familien heute meist nicht mehr am selben<br />
Ortleben.<br />
Und noch etwas anderes hat sich verändert.<br />
Menschen sterben heutzutage nicht<br />
mehr dort, wo wir sind. Sie sterben in Heimen,<br />
Krankenhäusernund Hospizen. In Einrichtungen,<br />
die wie Maschinen funktionieren.<br />
Nach eigenen Regeln und mit einem<br />
durchgetakteten Ablauf. In diesen Häusern<br />
arbeiten Menschen. Manche sind fürsorglich,<br />
andere nicht. In jedem Fall machen sie<br />
auch mal Fehler oder haben keine Zeit.<br />
Bei meinem Vater gab es viele solche Vorkommnisse.<br />
Zwei davon haben sich mir besonders<br />
eingeprägt, weil ich es kaum glauben<br />
konnte.Aneinem Taghaben ihm Pflegekräfte<br />
ein GlasWasser hingestellt zumTrinken. Allerdings<br />
stellten sie es so weit weg, dass er, der<br />
Mann, der das Bett aus eigener Kraft nicht<br />
mehr verlassen konnte, es nicht erreichen<br />
konnte.Wenndann kein Angehöriger am Bett<br />
sitzt, trinkt der Patient eben nicht.<br />
An einemanderen Tagfiel mein Vateraus<br />
dem Bett. Eshat Stunden gedauert, bis sie<br />
ihn fanden. Wie muss es für ihn gewesen<br />
sein, auf dem Boden zu liegen und sich nicht<br />
helfen zu können, weit weg von jedem Nothilfeknopf?<br />
So kann es sein. Es arbeiten Menschen in<br />
diesen Einrichtungen. In der Regel sind sie<br />
sicher freundlich und guten Willens. Aber es<br />
bleiben fremde Menschen, und sie haben<br />
viel zu tun.<br />
Das Menschen insolchen Häusern sterben,<br />
geschieht nicht freiwillig. Fast alle Menschen<br />
wünschen sich, zu Hause zu sterben.<br />
Mein Vater war derjenige,<br />
der am Nordseestrand mit mir Treibgut sammelte<br />
und im großen Priel schwamm.<br />
Oh, daist eine Scholle unter meinem Fuß,<br />
sagte er, und ich tauchte unter im<br />
salzigen trüben Wasser und<br />
versuchte zu sehen, wovon ersprach.<br />
Es geschieht, weil unser modernes Leben so<br />
ist. Für den Todist kein Platz. Es istniemand<br />
da, der die Pflege leisten könnte.Die Frauen,<br />
die dies früher taten, die die eigenen Eltern,<br />
Onkel, Tanten, Schwiegereltern pflegten,<br />
während sie gleichzeitig Kinder bekamen<br />
und sich um den Haushalt kümmerten, arbeiten.<br />
Siehaben keine Zeit. Siesind sowieso<br />
schon überfordertmit Kindern, Küche,Partnerschaft<br />
und Berufstätigkeit gleichzeitig.<br />
Der Tod ist nicht verschwunden. Es gibt<br />
ihn noch. Jeden Tagsterben Menschen in<br />
diesem Land, in dieser Stadt, in der eigenen<br />
Straße. Aber wir sehen den Todnicht mehr.<br />
Er ist verschwunden aus dem Bewusstsein<br />
der meisten Menschen. Als existiere ergar<br />
nicht. Der Tod ist eine Sache, die uns nicht<br />
betrifft, die wir nicht mehr sehen, meist nicht<br />
einmal dann, wenn es die eigenen Angehörige<br />
betrifft.<br />
Wie schrecklich eigentlich, dieses unpersönliche<br />
Ende. Essteht doch im krassen Widerspruch<br />
zu den wunderbaren Gefühlen,<br />
die mit allem anderen verbunden sind, was<br />
das Leben betrifft: Geburt. Liebe.Eltern. Kinder.<br />
Partner. Zuall dem gibt es eigenes Erleben.<br />
Es wird erzählt, wie es ist, ein Kind zu<br />
bekommen, wie man sich das erste Mal verliebt<br />
hat, welche Reibereien es mit den heranwachsenden<br />
Kindern gibt, mit dem Partner,<br />
mit den alten Eltern. Wie sie sterben,<br />
darüber spricht niemand.<br />
Unddabei hat sich die eigentliche Beziehung<br />
zu den Eltern jasoentscheidend gar<br />
nicht verändert. Noch immer ist das Verhältnis<br />
zur eigenen Mutter und zum eigenen Vater<br />
in der Kindheit die für unser weiteres Leben<br />
wahrscheinlich prägendste Beziehung.<br />
Ichhabe meinenVater sehr geliebt. Als ich<br />
noch ein Kind war, war er der große Mann<br />
mit der tiefen Stimme, den ich liebte. Der<br />
Mann mit der Modelleisenbahn im Keller,<br />
der Mann, der mich imWohnzimmer auf den<br />
Rücken warf und auskitzelte. Eine Erinnerung,<br />
die ich mit meinem Bruder teile.<br />
Mein Vater war für mich auch als Erwachsene<br />
noch derjenige,mit dem ich Asterix Comics<br />
gelesen hatte,als ich klein war,mit dem<br />
ich bei Spaziergängen von den Wegen abgewichen<br />
war, der Mann, der mit mir über Bäche<br />
sprang. Der nichts dagegen hatte, dass<br />
ich lieber auf Bäumen saß als auf Bänken<br />
und dass ich ein Mädchen war, das keine<br />
Kleider mochte.<br />
Er war derjenige, der am Nordseestrand<br />
mit mir Treibgut sammelte und im großen<br />
Priel schwamm. Oh,daist eine Scholle unter<br />
meinem Fuß, sagte er,und ich tauchte unter<br />
im salzigen trüben Wasser und versuchte zu<br />
sehen, wovon ersprach. Ich habe Hunderte<br />
solcher Bilder in meinem Kopf.<br />
Die Bilder aus der Kindheit<br />
Sie kommen jetzt alle wieder hervor. Wie<br />
Grüßeaus dem Jenseits tauchen sie plötzlich<br />
auf in meinem Kopf und machen ein warmes<br />
Gefühl.<br />
Es sind diese Bilder aus der Kindheit vor<br />
allem, die jetzt wieder zurückkommen. Und<br />
jene aus den letzten Jahren, als ich ihn mit<br />
meinen eigenen Kindernbesuchte.<br />
Da war er ein anderer Mann. Ein Opa.<br />
Nicht mehr so mobil, wie früher. Mein Vater<br />
natürlich, noch immer, aber auch der Mann<br />
mit einem eigenen Leben, das meines nur<br />
noch hin und wieder berührte. Die Zeit dazwischen<br />
ist irgendwie verloren gegangen.<br />
Ich erinnere mich nicht an so vieles, was in<br />
den Jahren zwischen Kindheit und Großvaterdasein<br />
liegt.<br />
In den letzten 15 oder 16 Jahren sind es<br />
vor allen Dingen Gespräche, die ich in Erinnerung<br />
behalten werde. Über Politik und das<br />
Leben. Seinen besonderen Humor.Wie er ei-