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RegioBusiness 08.2019

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06 Blickpunkt<br />

August 2019 I Jahrgang 18 I Nr. 205<br />

183 Tage für eine<br />

neue Pflegekraft<br />

Der Bedarf an Fachkräften in der Pflege ist auch in der Region<br />

Heilbronn-Franken ungebrochen hoch. Die Branche ist eine der<br />

mitarbeiterstärksten im ganzen Land – trotzdem bleiben im<br />

bundesweiten Schnitt offene Stellen rund ein halbes Jahr unbesetzt,<br />

bis es zu einer Neueinstellung kommt. VON MARIUS STEPHAN<br />

»Schwerwiegender<br />

Fachkräftemangel<br />

in der<br />

Pflege«<br />

Rund 1,6 Millionen Menschen<br />

waren im vergangenen<br />

Jahr in der Alten- und<br />

Krankenpflege beschäftigt, das<br />

geht aus einer Statistik der Arbeitsagentur<br />

hervor: Die besondere<br />

Brisanz des Themas für den Arbeitsmarkt:<br />

Die Pflegebranche beschäftigt<br />

heute schon mehr Mitarbeiter<br />

als beispielsweise die Automobilindustrie<br />

– es sind aber<br />

noch lange nicht genug.<br />

Nach Branchenschätzungen sind<br />

knapp 3,5 Millionen Menschen in<br />

Deutschland pflegebedürftig. Eine<br />

Zahl, welche die vorhandenen Kapazitäten<br />

weit übersteigt. Auch die<br />

IHK Heilbronn-Franken sieht in<br />

der Region einen Fachkräftemangel<br />

in diesem Bereich. Der Mangel<br />

sei nicht flächendeckend, aber<br />

einige Regionen und Branchen<br />

seien besonders betroffen. In manchen<br />

Berufen kämen 20 Arbeitslose<br />

auf 100 offene Stellen. Engpässe<br />

gebe es unter anderem<br />

auch in der Pflege.<br />

Rainer Holthuis, Geschäftsführer<br />

des Arbeiter-Samariter-Bundes<br />

Heilbronn-Franken, sprach in diesem<br />

Zusammenhang kürzlich auf<br />

der letzten Mitgliederversammlung<br />

von einem „schwerwiegenden<br />

Fachkräftemangel in der<br />

Pflege“.<br />

MASSNAHMEN Auf Bundesebene<br />

kämpfen Arbeitgeberverbände<br />

vor allem für die Öffnung<br />

der Branche. Die Verbände wollen<br />

„neuen Berufsgruppen wie Ergotherapeuten,<br />

Logopäden, Physiotherapeuten<br />

oder Heilerziehungspflegern<br />

die Arbeit in den<br />

stationären Einrichtungen ermöglichen“,<br />

teilt der Arbeitgeberverband<br />

Pflege (AGVP) mit. „Ein Mindestlohn<br />

für Pflegefachkräfte von<br />

Verteilung: Von den 583 000 Kräften in der Altenpflege sind derzeit rund 270 000 in Helfertätigkeiten<br />

beschäftigt. 313 000 Fachkräfte üben das Berufsbild aus.<br />

Foto: NPG-Archiv<br />

2500 Euro pro Monat und entsprechender<br />

Refinanzierung, die die<br />

alten Menschen finanziell nicht<br />

überfordert, gehört zum Prioritätenprogramm<br />

sowie Vorschläge<br />

zur Gewinnung ausländischer<br />

Fachkräfte. Es muss Schluss sein<br />

damit, dass auf den Philippinen<br />

hervorragend ausgebildete Fachkräfte<br />

auf gepackten Koffern sitzen,<br />

wir hier großen Bedarf haben,<br />

aber die Leute wegen bürokratischer<br />

Hürden nicht nach<br />

Deutschland bekommen“, heißt<br />

es im Programm des AGVP weiter.<br />

Die Arbeitsagentur setzt dagegen<br />

auf Qualifizierung: Bei den Stellenangeboten<br />

richte sich „die deutliche<br />

Mehrheit an examinierte Pflegefachkräfte,<br />

gleichzeitig verfügen<br />

aber nur wenige Prozent der Arbeitslosen<br />

in der Alten- und Krankenpflege<br />

über eine Qualifikation<br />

als Pflegefachkraft.“ Für Helferberufe<br />

stelle sich diese Situation genau<br />

umgekehrt dar. Dies sei ein<br />

Ansatzpunkt.<br />

„Die Pflegekraft ist eine sehr begehrte Fachkraft“<br />

Die Landtagsabgeordnete Jutta Niemann spricht über die derzeitige Situation und den Änderungsbedarf in der Pflege.<br />

INTERVIEW VON ANNIKA SCHNEIDER<br />

Körperlich anpacken und<br />

mental belastbar sein? Pflegeberufe<br />

verlangen den Beschäftigten<br />

viel ab. Noch dazu<br />

herrscht ein Fachkräftemangel in<br />

der Branche. Grünen-Landtagsabgeordnete<br />

Jutta Niemann stellt<br />

ihre Ideen vor, wie man trotzdem<br />

Pflegefachkräfte gewinnen kann.<br />

REGIOBUSINESS Frau Niemann,<br />

erst kürzlich haben Sie an<br />

einer Veranstaltung im Crailsheimer<br />

Pflegeheim des Diakoneo teilgenommen.<br />

Das Thema: Altenpflege.<br />

Mit Arbeitsmarktexperten<br />

sind Sie auf der Suche nach Lösungen,<br />

wie man den täglichen Herausforderungen<br />

in Altenheimen<br />

besser begegnen kann. Welche Lösungsansätze<br />

gibt es?<br />

JUTTA NIEMANN Die größte Herausforderung<br />

ist der Fachkräftemangel.<br />

Das geht auf Kosten der<br />

Pflegefachkräfte, die mit hohem<br />

Arbeitseinsatz die Lücken zu<br />

schließen versuchen, und der pflegebedürftigen<br />

Patienten gleichermaßen.<br />

Um mehr Fachkräfte zu<br />

gewinnen, setzen wir Grünen uns<br />

auf allen Ebenen für die Aufwertung<br />

und Stärkung des Berufs ein.<br />

Zentral sind etwa erweiterte Zuständigkeiten<br />

und eine stärkere Eigenständigkeit.<br />

Wir wollen, dass 20 Prozent aller<br />

Pflegeausbildungsplätze akademisiert<br />

werden. Zusätzlich muss es<br />

mehr Möglichkeiten geben, sich<br />

weiterzubilden und mehr Verantwortung<br />

zu übernehmen. Das<br />

macht das Berufsbild für viele attraktiver.<br />

Pflegebedürftig: Eine demente Frau in einem Seniorenheim. Im Hintergrund das Pflegepersonal, welches<br />

sich um die Seniorin kümmert.<br />

Foto: imageBROKER/Jan Tepass<br />

REGIOBUSINESS Immer wieder<br />

berichten die Medien über die<br />

„schleppende Umsetzung von<br />

mehr Pflegestellen“. Ist es der<br />

hohe Arbeitsaufwand, der junge<br />

Menschen abschreckt?<br />

JUTTA NIEMANN Es gibt viele<br />

unbesetzte Pflegestellen in<br />

Deutschland. Aber: Heute arbeiten<br />

75 Prozent mehr Pflegefachkräfte<br />

in ambulanter und stationärer<br />

Pflege als vor 20 Jahren.<br />

Nur ist gleichzeitig die Anzahl der<br />

pflegebedürftigen Menschen gestiegen,<br />

allein in Baden-Württemberg<br />

gibt es 400 000. Die hohe Arbeitsbelastung<br />

gibt es. Leider wird<br />

die Pflege in der öffentlichen Diskussion<br />

oft darauf reduziert. Dabei<br />

hat der Beruf durch den engen<br />

Kontakt mit Menschen auch<br />

sehr schöne Seiten.<br />

REGIOBUSINESS Wird das Pflegeberufegesetz<br />

die Situation verbessern?<br />

JUTTA NIEMANN Es enthält<br />

gute Ansätze: Eine generalistische<br />

Ausbildung eröffnet den Zugang<br />

zu verschiedenen Tätigkeitsfeldern<br />

in der Pflege. Eine bessere<br />

Praxis-Begleitung erhöht die Qualität<br />

der Ausbildung. Eine ordentliche<br />

Ausbildungsvergütung und<br />

Schulgeldfreiheit sind vorgesehen,<br />

es soll ein Pflegestudium<br />

etabliert werden.<br />

REGIOBUSINESS Was kann die<br />

Politik sonst noch tun, um die Situation<br />

zu verbessern?<br />

JUTTA NIEMANN Die Pflege<br />

und ihre Bedürfnisse müssen<br />

sichtbarer werden – in Gesellschaft<br />

und Politik. In Baden-Württemberg<br />

richten wir deshalb eine<br />

Pflegekammer ein, die die Interessen<br />

der Pflege vertritt. Die Kammer<br />

wird durch Pflegefachkräfte<br />

selbst verwaltet und wird ganz<br />

konkret an der Weiterentwicklung<br />

des Berufes mitwirken.<br />

Die Bundestagsfraktion der Grünen<br />

hat letztes Jahr Vorschläge für<br />

Sofortprogramme gemacht, um<br />

25 000 zusätzliche Stellen in der<br />

Krankenhauspflege und 25 000<br />

Stellen in stationären Pflegeeinrichtungen<br />

zu fördern.<br />

Für einen Strukturwandel in der<br />

Pflege brauchen wir auch eine<br />

neue Finanzierung. Eine Lösung<br />

wäre eine Pflegebürgerversicherung.<br />

Durch die Einbeziehung aller<br />

Bürger und aller Einkommensarten<br />

würde sie für mehr soziale<br />

Gerechtigkeit sorgen und die Finanzierung<br />

der Pflege auf eine<br />

nachhaltige Basis stellen.<br />

REGIOBUSINESS Was muss<br />

eine Pflegefachkraft vor allem mitbringen,<br />

um in dem Beruf standzuhalten?<br />

JUTTA NIEMANN Der Pflegeberuf<br />

lebt von menschlicher Nähe<br />

und dem Kontakt zwischen Pflegefachkraft<br />

und Patienten. Empathie<br />

und eine „soziale Ader“ sind wichtig.<br />

Ebenso wichtig ist es, sich für teils<br />

sehr komplexe medizinische Zusammenhänge<br />

zu interessieren<br />

und sie zu verstehen. Eine gewisse<br />

Belastbarkeit ist unerlässlich.<br />

Zur Person<br />

Jutta Niemann (*1970) wurde am 13. März<br />

2016 als erste grüne Abgeordnete für den<br />

Wahlkreis Schwäbisch Hall in den badenwürttembergischen<br />

Landtag gewählt. Zudem<br />

ist sie Betreuungsabgeordnete für den<br />

Wahlkreis Hohenlohe. Sie arbeitet im Ausschuss<br />

für Umwelt, Klima und Energie, im<br />

Ausschuss für Verkehr, sowie im Ausschuss<br />

für Soziales und Integration. Das Motto der<br />

Grünen-Politikerin lautet: „Nur wer den<br />

Menschen zuhört, kann gute Politik machen“.<br />

REGIOBUSINESS Und wie können<br />

Pflegeeinrichtungen attraktiver<br />

für junge Fachkräfte werden?<br />

JUTTA NIEMANN Durch Wertschätzung,<br />

die sich in guter Bezahlung<br />

und vor allem in Anerkennung<br />

und Unterstützung für die Arbeit<br />

ausdrückt. Dazu gehört etwa<br />

ein gutes betriebliches Gesundheitsmanagement.<br />

REGIOBUSINESS Was macht<br />

den Pflegeberuf ganz allgemein attraktiv?<br />

JUTTA NIEMANN Viele Pflegefachkräfte<br />

gehen ihrem Beruf mit<br />

großer Hingabe und Freude nach<br />

und machen einen tollen Job. Pflegende<br />

versorgen und betreuen<br />

kranke, alte oder behinderte Menschen<br />

und ermöglichen ihnen ein<br />

möglichst selbstbestimmtes Leben.<br />

Das ist für viele eine wichtige<br />

Motivation. Außerdem ist die Pflegefachkraft<br />

eine sehr begehrte<br />

Fachkraft. Sorgen um die berufliche<br />

Zukunft muss man sich nicht<br />

machen.<br />

www.jutta-niemann.de<br />

www.gruene-landtag-bw.de<br />

Foto: Lena Lux Fotografie

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