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Berliner Kurier 29.09.2019

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REPORT 15<br />

„Ja.“<br />

Stimmte das, was drin stand?<br />

„Nein.“<br />

Aber Alois Heidl hat dann doch<br />

etwas Gutes zu sagen über seine<br />

Aufpasser. Sie hätten ihn nie in<br />

die Pfanne gehauen, sagt er. „Teilweise<br />

haben sie kritisch über<br />

mich geschrieben. Aber zwei Sätze<br />

später haben sie mich wieder<br />

für irgendetwas gelobt.“ Der Apparat<br />

hatte ihn im Blick, aber er<br />

ließ ihn nie direkt spüren, was<br />

passieren könnte, wenn er von der<br />

Linie abwiche.<br />

Vielleicht war es sein Engagement<br />

fürs Dorf, das die Mächtigen<br />

gnädig stimmte. Den Gehweg bis<br />

zur Schule zum Beispiel, den baute<br />

er an seinen Feierabenden zusammen<br />

mit den Schülern. Das<br />

gab es bis dahin nicht in der Rhön,<br />

gepflasterte Gehwege. 31 Jahre<br />

saß Heidl auch in der Gemeindevertretung<br />

für die NDPD. Aber<br />

politisch war er nicht. „Wir wollten,<br />

dass die Menschen zufrieden<br />

sind, dass es ihnen besser<br />

geht. Das war unser Sinn.“<br />

Und wer ist schon zufrieden<br />

in kaputten Schuhen?<br />

Eva-Marie Heß, eine Generation<br />

jünger als Alois Heidl,<br />

hat das auch von klein auf gelernt:<br />

für andere da zu sein,<br />

für sie zu schuften. In den frühen<br />

Dreißigerjahren hatte ihr<br />

Großvater den Grünen Baum<br />

übernommen, sich tief verschuldet<br />

so wie sie sechzig<br />

Jahre später, als sie die Gaststätte<br />

übernahm. „Meine<br />

Großeltern haben sich nichts<br />

gegönnt, die haben immer gearbeitet.<br />

Irgendwie haben sie<br />

mir das vorgelebt.“<br />

Künstlerin wollte sie werden<br />

als junge Frau. Man ahnt<br />

ihre Leidenschaft in der Gaststube,<br />

wo bunte Filzüberzüge<br />

manche Lampen und Blumentöpfe<br />

bedecken. Im alten Festsaal<br />

hat sie ihre Eier ausgestellt, die sie<br />

nachts filigran bemalt und ausfräst.<br />

Aber das Leben kam anders.<br />

Ihr Vater ging früh aus dem Leben,<br />

er starb bei einem Unglück.<br />

Ihre Tochter kam früh auf die<br />

Welt, als Eva-Marie Heß gerade<br />

erst erwachsen geworden war. Also<br />

machte sie eine Ausbildung im<br />

Interhotel Suhl.<br />

Und dann half sie ihrer Mutter,<br />

den Familienbetrieb am Laufen<br />

zu halten. Zu tun gab es viel. Manche<br />

sagen, die Kneipen in der<br />

DDR seien nur deshalb so voll gewesen,<br />

weil das Bier so günstig<br />

war: 40 Pfennige pro Halbliter, da<br />

ließ sich über manche Zumutung<br />

des Sozialismus hinwegsehen.<br />

Aber der Gasthof war mehr damals,<br />

sagt Eva-Marie Heß. Er war<br />

der Ort, wo Neuigkeiten ausgetauscht<br />

wurden –auch solche, die<br />

nicht in den staatlich gelenkten<br />

Medien standen. Er war eine<br />

Tauschbörse für Waren und<br />

Hilfsleistungen.<br />

Und dann kam eines Abends ein<br />

Stammgast durch die Tür und sagte:<br />

„Ich nehme jetzt mein Fahrrad<br />

und fahre über die Grenze.“ Es<br />

war der November 1989. In den<br />

Wochen darauf kamen die Leute<br />

von der anderen Seite der Grenze<br />

ins Dorf, die den gleichen Dialekt<br />

sprechen und doch so anders lebten.<br />

Eva-Marie Heß erinnert sich<br />

an große Gelage, und oft zahlten<br />

die Wessis die gesamte Rechnung.<br />

Es dauerte eine Weile, ehe sie<br />

draufkam, warum sie so über die<br />

Beträge lachten. Der schwarze<br />

Umtausch blühte in diesen Tagen,<br />

20 Ost- bekam man für 1Westmark.<br />

Das Meininger Pils im Grünen<br />

Baum kostete die Besucher<br />

gerade mal zwei West-Pfennige.<br />

Damals ahnte Eva-Marie Heß,<br />

welcher Umbruch vor ihr stünde.<br />

Sie übernahm den Gasthof, ihre<br />

Mutter fühlte sich nicht bereit, ihn<br />

im neuen System weiterzuführen.<br />

Mitte 30 war sie damals, alleinerziehende<br />

Mutter einer Tochter.<br />

Alt genug, um den neuen Verhältnissen<br />

mit Lebenserfahrung zu begegnen.<br />

Jung genug, um sich auf<br />

sie einzulassen. Was passierte, beschreibt<br />

sie heute so: „Wir wurden<br />

ins Wasser geschmissen, und dann<br />

mussten wir erst mal schwimmen<br />

lernen.“ Also lernte sie schwimmen.<br />

Dieser Gedenkstein erinnertandie<br />

„Aktion Ungeziefer“ 1952.<br />

Aber wie schafft man es heute,<br />

ein Gasthaus in einem 750-Einwohner-Dorf<br />

am Laufen zu halten?<br />

Die Stammgäste wurden älter<br />

über die Jahre, einer nach dem anderen<br />

blieb weg. Viele im Dorf<br />

müssen nach Bayern pendeln zur<br />

Arbeit, sind abends zu müde, um<br />

noch ins Gasthaus zu gehen. Viele<br />

Touristen sausen einfach vorbei.<br />

Eva-Marie Heß hat’s ja probiert,<br />

sich auf den Wandel einzustellen.<br />

Sie hat Gästezimmer eingerichtet,<br />

veranstaltet Liederabende, hat regionale<br />

Gerichte auf die Speisekarte<br />

genommen, im alten Festsaal<br />

organisiert sie jedes Jahr eine<br />

Kunstausstellung. Sie hat es geschafft,<br />

sich über Wasser zu halten<br />

und auch noch drei Kredite abzuzahlen<br />

über all die Jahre.<br />

Aber schwimmen reicht nicht<br />

mehr heutzutage. Man muss auch<br />

Turmspringerin sein, scheint es.<br />

Manche haben ihr gesagt, sie solle<br />

doch schließen. Aber sie kann das<br />

nicht, sagt sie. Zu groß ist das<br />

Pflichtgefühl. Und das Heimatgefühl<br />

in den alten Gemäuern. „Ich<br />

bin ein Nesthocker“, sagt sie. „Ich<br />

liebe mein Zuhause.“<br />

Im Landratsamt hatten sie vor<br />

ein paar Jahren eine im wahrsten<br />

Sinne schräge Idee, wie sich die<br />

Rhön aus ihrer Abgeschiedenheit<br />

wecken und in die Freizeitgesellschaft<br />

integrieren ließe. Ein Aussichtsturm<br />

sollte auf das Plateau<br />

der Hohen Geba gebaut werden,<br />

gleich oberhalb von Bettenhausen,<br />

wo die Rote Armee einst mit ihrem<br />

Radar den nahen Westen abtastete,<br />

70 Meter hoch.<br />

Und jetzt kommt der Clou: Es<br />

sollte ein schiefer Turm werden,<br />

der schiefste der Welt, um 23,5<br />

Grad geneigt. Wie ein Periskop<br />

sollte er gen Himmel ragen.<br />

100000 Besucher im Jahr, so lautete<br />

die Prognose. Familien, Radfahrer,<br />

Busgruppen, Sternengucker<br />

–alle sollten rauffahren, um<br />

dann in die Ferne zu gucken. Und<br />

wenn sie schon einmal da wären,<br />

dann würden sie auch kaufen und<br />

essen und trinken, vielleicht ja sogar<br />

in Bettenhausen.<br />

Es geschah aber, was in der Provinz<br />

gar nicht so häufig vorkommt,<br />

zumal in der ostdeutschen: Einige<br />

Leute begehrten auf. Sie bildeten<br />

eine Bürgerinitiative und<br />

sammelten Unterschriften für<br />

einen Volksentscheid, der im<br />

September 2014 stattfand.<br />

Die Wähler in den Gemeinden<br />

rund um den Berg stimmten für<br />

den Turm. Aber das Referendum<br />

fand im ganzen Landkreis<br />

statt. Und drüben im Thüringer<br />

Wald, in Oberhof, da stimmten<br />

sie dagegen. Warum sollten<br />

schließlich die Rhöner so viel<br />

Fördermittel bekommen?<br />

Statt der Hunderttausend<br />

Touristen kamen im vorigen<br />

Jahr die Hippies und probten<br />

eine ganz andere Utopie. Zum<br />

zweiten Mal schon fand auf der<br />

Hohen Geba ein „Rainbow Gathering“<br />

statt. Hunderte Menschen<br />

lebten im Wald, kochten<br />

veganes Essen, musizierten und<br />

diskutierten und liefen – teilweise<br />

nackt, was für Gespräche<br />

sorgte –durch die Sommerwiesen.<br />

Ein Aussteigertum, das sich nur in<br />

der Abgeschiedenheit erproben<br />

lässt. Es heißt, es gab erstaunlich<br />

freundliche Begegnungen mit den<br />

Bettenhausenern.<br />

Auch in Bettenhausen wird die<br />

Zeit kommen, wo welche von außen<br />

kommen müssen, wenn das<br />

Dorf erhalten bleiben soll. Noch<br />

ist die Einwohnerzahl einigermaßen<br />

stabil, aber das liegt wesentlich<br />

am Neubaugebiet, das hinter<br />

dem Grünen Baum entstanden ist.<br />

Inden Häusern im alten Dorfkern,<br />

wo früher noch kinderreiche Familien<br />

lebten, gibt es heute oft nur<br />

noch einen oder zwei Bewohner.<br />

Wenn man genau hinschaut, entdeckt<br />

man auch Leerstand. Der<br />

Platz, der in den Städten fehlt, hier<br />

wird er nach und nach frei.<br />

Zum Abschied hat Eva-Marie<br />

Heß noch einmal gekocht. Es gibt<br />

Geschnetzeltes, dazu eine Flasche<br />

Kellerbier auf der Veranda. Es ist<br />

vielleicht der letzte richtige Sommertag,<br />

23 Grad warm, die Sonne<br />

scheint durch die Zweige des Wilden<br />

Weins. Von irgendwo tönt leise<br />

Musik, jede Viertelstunde<br />

schlägt die Kirchenglocke, ab und<br />

zu radeln Ausflügler vorbei. Es<br />

fehlt an nichts in diesem Moment.<br />

An gar nichts.<br />

Frederik Bombosch

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