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10 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 230 · F reitag, 4. Oktober 2019<br />
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Berlin<br />
Er sorgte in den vergangenen<br />
Jahren für Diskussionsstoff<br />
mit seinen Studien<br />
über die wachsende soziale<br />
Spaltung in Deutschland. DerSozialwissenschaftler<br />
Marcel Helbig arbeitet<br />
im Wissenschaftszentrum Berlin<br />
für Sozialforschung (WZB), einem<br />
großen Neorenaissance-Bau am<br />
Reichpietschufer 50, einst Sitz des<br />
Reichsversicherungsamts. 1988 zog<br />
hier das WZB ein. Mitseinen modernen,<br />
pastellfarbenen Anbauten im<br />
Stil einer Bastei ist es schon vonweitem<br />
sichtbar. Ein Teil ist eingerüstet.<br />
Hier entstehen weitereGeschosse.<br />
Marcel Helbig ist 1,96 Meter groß<br />
und wirkt sehr jugendlich für einen<br />
Professor. Wir sitzen in einer Loggia<br />
mit Blick auf den Landwehrkanal.<br />
Marcel Helbig redet schnell, mit<br />
leichter thüringischer Sprachfärbung,<br />
was auf seine Herkunft hinweist.<br />
Geboren wurde er 1980 in Erfurt.<br />
Zu seinem Forschungsthema<br />
„Bildung und soziale Ungleichheit“<br />
sei er eher durch Zufall gekommen,<br />
erzählt er. Aber wenn man ihm eine<br />
Weile zuhört, merkt man, dass es<br />
durchaus viel mit seinem eigenen<br />
Leben zu tun hat.<br />
Eigentlich habe er nie studieren<br />
wollen, sagt er. Seine Eltern stammen<br />
aus der Arbeiterschicht. Wirklichen<br />
Bildungs-Ehrgeiz entwickelte<br />
er –wie viele Jungen –erst spät. Helbig<br />
lernte am Erfurter Gutenberg-<br />
Gymnasium, genau an jener Schule,<br />
an der 2002, zwei Jahrenach seinem<br />
Abitur,der ehemalige Schüler Robert<br />
Steinhäuser während eines Amoklaufs<br />
sechzehn Menschen tötete und<br />
dann sich selbst. Der„Amoklauf von<br />
Erfurt“ –ein Schock fürs ganzeLand<br />
– ließ auch Helbig über manches<br />
nachdenken, was den persönlichen<br />
Wegund sein Umfeld betrifft.<br />
Auch wenn sich vieles nicht<br />
zwangsläufig ergab –das Bachelorstudium<br />
für Sozialwissenschaften in<br />
Erfurt, der Master an der Humboldt-<br />
Universität (HU) Berlin, der Wechsel<br />
ans WZB als wissenschaftlicher Mitarbeiter,<br />
die Professur –, so hat Helbig<br />
am Ende doch genau das Thema<br />
gefunden, das ihn bewegt und antreibt.<br />
Dasmerkt man daran, wie engagierterdarüber<br />
spricht.<br />
„Jemehr ich über Bildung gelesen<br />
habe,desto klarer wurde mir,wie unglaublich<br />
ungerecht das deutsche<br />
Bildungssystem ist“, sagt er.Esseien<br />
die Strukturen der Gesellschaft und<br />
des Bildungswesens, die sozial ungleiche<br />
Chancen vermittelten. Einen<br />
Beleg dafür lieferten Marcel Helbig<br />
und der Bildungsjurist Michael<br />
Wrase Ende 2016 mit einer aufsehenerregenden<br />
Studie über Privatschulen.<br />
„Die Privatschulen sind<br />
mittlerweile ein Symptom für die<br />
sich spaltende Gesellschaft“, sagt<br />
Helbig. „Besonders im Osten werden<br />
sie vor allem von Akademikerkindern<br />
besucht.“ Kinder von Eltern<br />
ohne Berufsabschluss seien eine<br />
Ausnahmeerscheinung.<br />
Den Bundesländern stellten Helbig<br />
und Wrase ein schlechtes Zeugnis<br />
aus. Ihr Urteil: Nahezu alle –bis<br />
auf Rheinland-Pfalz und Nordrhein-<br />
Westfalen –verstießen mit ihrer Bildungspolitik<br />
und Verwaltungspraxis<br />
permanent gegen das Grundgesetz,<br />
dem zufolge es im Bildungssystem<br />
keine „Sonderung nach den Besitzverhältnissen<br />
der Eltern“ geben<br />
dürfe. Sogebe es fast nirgendwo die<br />
klare Ansage an die Privatschulen,<br />
dass Transferleistungsempfänger<br />
kein Schulgeld zahlen dürften oder<br />
dass es eine soziale Staffelung der<br />
Schulgelder geben müsse.<br />
Eine zweite Studie, die Marcel<br />
Helbig mit seiner Kollegin Stefanie<br />
Jähnen im vergangenen Jahr vorstellte,<br />
ging noch tiefer in die Strukturen.<br />
Sie zeigte am Beispiel von 74<br />
deutschen Städten, wie dort die soziale<br />
Spaltung voranschreitet. „In<br />
Die Gesellschaft<br />
ist gespalten<br />
Der Sozialwissenschaftler Marcel Helbig spürt mit seinen Studien<br />
der Entwicklung in den Städten und im Bildungswesen nach.<br />
Vorallem im Osten wächst die Kluft zwischen Arm und Reich<br />
Marcel Helbig im Innenhof des Wissenschaftszentrums Berlin<br />
Job, Familie, Alltag: Auch 30 Jahre nach<br />
dem Fall der Mauer prägt die einstigeTeilung<br />
Berlins noch das Leben vieler Menschen in<br />
dieser Stadt. Wirstellen Menschen und ihre<br />
Geschichte vor. Heute ist es: Marcel Helbig,<br />
geboren 1980 in Erfurt, Professor an der Universität<br />
Erfurtund am Wissenschaftszentrum<br />
Berlin für Sozialforschung (WZB).<br />
VonTorsten Harmsen<br />
DIE SERIE<br />
BERLINER ZEITUNG/MARKUS WÄCHTER<br />
Im Internet: Seit Mai sind in unserer Serie<br />
zum Mauerfall bislang bereits etwa zwanzig<br />
Teile erschienen. Jeder einzelne Teil<br />
kann auch im Internet gelesen werden und<br />
ist zu finden unter:www.berliner-zeitung.<br />
de/mauerfall oder auf der neuen App<br />
der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> (kostenlos im Apple<br />
Store oder Google Play).<br />
etwa 80 Prozent<br />
der<br />
Städte konzentrieren<br />
sich die<br />
Menschen, die<br />
Grundsicherung beziehen,<br />
zunehmend in bestimmten<br />
Stadtteilen. Besorgniserregend ist<br />
der Befund mit Blick auf arme Kinder“,<br />
sagt Helbig. „Inüber 30 Städten<br />
finden sich Stadtteile,indenen mehr<br />
als jedes zweite Kind arm ist.“ 2017<br />
lagen neun der zehn Städte mit der<br />
stärksten räumlichen Trennung von<br />
Arm und Reich in den neuen Bun-<br />
desländern. Beispiele dafür sind<br />
Schwerin, Potsdam, Erfurt, Halle,<br />
Weimar und Rostock. „Über die soziale<br />
Spaltung werden auch die Bildungschancen<br />
gesteuert“, sagt Helbig.<br />
Besonders kritisch sieht Helbig<br />
„das Wirken privater Grundschulen<br />
in städtischen Räumen“. Hier beginne<br />
die Differenzierung bereits bei<br />
den kleinen Kindern.<br />
Aber nicht nur Ost und West sind<br />
laut Helbig drei Jahrzehnte nach<br />
dem Mauerfall tief gespalten. Die<br />
Kluft bestehe auch zwischen Nord<br />
und Süd, wie eine Nachfolgestudie<br />
Helbigs aus diesem Jahr zeigte.Diese<br />
sei von der Öffentlichkeit kaum registriert<br />
worden, stellt der Soziologe<br />
verwundert fest. Dabei passe sie genau<br />
in die aktuelle Debatte. Aber<br />
vielleicht sei genau das der Grund für<br />
das Schweigen der Medien.<br />
In der Studie hatten dieWZB-Forscher<br />
86 Städte daraufhin untersucht,<br />
wie sich Zuwanderer im Zeitraum<br />
von 2014 bis 2017 räumlich<br />
verteilten. Dabei sei es nicht nur um<br />
Asylbewerber gegangen, sondern<br />
auch um viele andere, die zum Beispiel<br />
aus Osteuropa wegen der Arbeit<br />
nach Deutschland gekommen<br />
seien. Die Forscher stellten fest:<br />
Menschen ohne deutschen Pass<br />
seien vor allem in den ärmsten<br />
Stadtvierteln gelandet. Besonders<br />
stark sei das im Osten ausgeprägt,<br />
wo es in einigen Städten einen hohen<br />
Leerstand an billigen Wohnungen<br />
in den sozial benachteiligten<br />
Stadtteilen gebe,aber auch im Ruhrgebiet<br />
und dem Nordwesten<br />
Deutschlands.„DieFolge ist, dass die<br />
ärmsten Städte in ihren ärmsten Gebieten<br />
die Last der Integration tragen<br />
müssen“, sagt Helbig.<br />
Manspürt, dass Helbig mit seinen<br />
Studien Debatten auslösen will. Und<br />
zwar Debatten, die sich um die „großen,<br />
zentralen Probleme des<br />
Landes“ drehen. Diese sieht Helbig<br />
nicht in einer angeblichen Überfremdung<br />
durch Migration. Er sieht<br />
sie in der sozialen Ungleichheit, der<br />
Spaltung der Vermögen und Einkommen.<br />
Und auch in der „Meritokratie“,<br />
deren Mantraessei,„dass die<br />
Erfolgreichen deshalb erfolgreich<br />
sind, weil sie sich mehr anstrengen<br />
oder mehr leisten als die weniger Erfolgreichen“.<br />
Diese Rechtfertigung<br />
sozialer Ungleichheiten verschleiere<br />
aber deren strukturelle Ursachen.<br />
Der Arbeitersohn aus Erfurt<br />
schaffte das, was viele andere nicht<br />
schaffen. Er ist seit 2015 Professor,<br />
pendelt wöchentlich zwischen dem<br />
WZB in Berlin und Erfurt, wo er mit<br />
Frau und zwei Kindernlebt und auch<br />
an der Uni lehrt. Erst jüngst stellte<br />
Helbig den Thüringer Sozialstrukturatlas<br />
vor, der unter anderem zeigt,<br />
dass hier im Jahre2030 etwa 60 Menschen<br />
im Alter von über 65 Jahren<br />
etwa 100 Erwerbstätigen gegenüberstehen<br />
werden. „Thüringen und<br />
weite Teile Ostdeutschlands werden<br />
Japan beim Altenquotienten überholen“,<br />
sagt er.<br />
Eine Frage treibt den Sozialwissenschaftler<br />
besonders um: „Warum<br />
haben wir so wenige Ostdeutsche in<br />
der ostdeutschen Elite?“ Und das<br />
noch immer,dreißig Jahrenach dem<br />
Fall der Mauer.„Ichwürde gerne verstehen,<br />
warum das so ist.“<br />
VonTorsten Harmsen<br />
Eswar fast zu erwarten, dass der Gegenstand,<br />
der einem Wissenschaftler besonders<br />
am Herzen liegt, ein Buch sein wird.<br />
Für Marcel Helbig ist es das Werk „Das Kapital<br />
im 21. Jahrhundert“, geschrieben vom<br />
französischen Ökonomen Thomas Piketty.<br />
Es erschien 2014 auf Deutsch beim Verlag<br />
C.H. Beck. Marcel Helbig hatte sich das<br />
Buch, das es bis in die Bestsellerlisten<br />
schaffte,vor fünf Jahren gekauft und die 800<br />
Seiten „ausnahmsweise vonvornbis hinten<br />
durchgelesen“. Denn es befasst sich genau<br />
mit den Fragen, die den Sozialwissenschaftler<br />
interessieren.<br />
Das Buch zeige, welches Niveau an Ungleichheit<br />
die westlichen Gesellschaften<br />
Eine Zeitreise –hundert Jahre zurück<br />
wieder erreicht haben, sagt Helbig. „Die<br />
höchste Ungleichheit, was Vermögen und<br />
Einkommen betrifft, gab es um 1900 bis kurz<br />
vor dem Ersten Weltkrieg. Das traf auf<br />
Deutschland, Frankreich, die USA und andere<br />
zu“, erklärt er. Die beiden Weltkriege<br />
hätten die Anhäufung von Kapital bei Einzelnen<br />
aufgebrochen, das Gefälle sei kleiner<br />
geworden. Doch seit den 50er-Jahren habe<br />
es zunächst langsam, ab den 80er-Jahren<br />
wieder extrem zugenommen. „Mittlerweile<br />
ist man in einigen Ländernauf dem gleichen<br />
Niveau wie vor dem Ersten Weltkrieg.“ In<br />
Deutschland sei es noch nicht ganz erreicht,<br />
in den USA aber schon.<br />
Helbig beschäftigt auch die systematische<br />
Zerstörung des Sozialstaates,nicht erst<br />
durch die „Reaganomics“ und den „That-<br />
Das besondere Ding<br />
Das Buch, das Marcel Helbig zu vielen Reflexionen<br />
anregt.<br />
BLZ/HARMSEN<br />
cherismus“ in den 80er-Jahren. Bereits 1947<br />
gründete sich in der Schweiz die Mont<br />
Pèlerin Society, „deren Hauptziel es ist, die<br />
neoliberale Ideologie in die Gesellschaft hineinzutragen“.<br />
In Deutschland habe sich<br />
etwa die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft<br />
dieser Aufgabe verschrieben.<br />
„All diese Ideologen und Initiativen haben<br />
es geschafft, den wirklich starken Sozialstaat<br />
in vielen Ländern auszuhöhlen“, sagt<br />
Helbig. Aufder anderen Seite häufe sich immer<br />
mehr Reichtum an. „Das Unglaublichste<br />
für mich ist, wie es die reiche Elite<br />
schafft, über Jahrzehnte zu verhindern, dass<br />
Deutschland eine ordentliche Erbschaftssteuer<br />
bekommt und dies auch noch als positiv<br />
für alle anderen Schichten darzustellen“,<br />
sagt Helbig. Alles,was er in seiner Forschung<br />
mache, spreche genau „von diesen<br />
Ungerechtigkeiten, die sich überall vergrößern<br />
statt sich zu verkleinern“. In Pikettys<br />
Buch fand er auch eine „ganz einfach Überlegung“,<br />
die aber ständig ignoriert werde.<br />
Überall höre man die Forderung nach<br />
„Wachstum, Wachstum, Wachstum“, sagt<br />
Helbig. „Eine alternde Gesellschaft, wie wir<br />
eine sind, kann langfristig kein Wirtschaftswachstum<br />
mehr erzielen. Dies war für mich<br />
auch ein Aha-Erlebnis des Buches, obwohl<br />
es ja eigentlich trivial ist.“<br />
Übrigens habe er sich einmal mit einem<br />
Ökonomen unterhalten, der Pikettys Buch<br />
auch im Schrank hatte, erzählt Helbig. „Ich<br />
fragte: Hast du es auch gelesen? Er sagte:<br />
Nein, wir Ökonomen lesen keine Bücher<br />
mehr.Essteht nur so als Staffage herum.“