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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 230 · F reitag, 4. Oktober 2019 – S eite 21 *<br />
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Feuilleton<br />
Terezia Morabeendet<br />
ihre Romantrilogie<br />
um Darius Kopp<br />
Seite 23<br />
„Solches Gähnen stößt ab und steckt zugleich an.“<br />
Ulrich Seidler über Kay Voges’ Internetkritik „Don’tbeevil“ an der Volksbühne Seite 22<br />
Performance<br />
Dresden war<br />
eine Flamme<br />
Susanne Lenz<br />
über dasAbtippen eines<br />
Buchs mit Schreibmaschine.<br />
Der amerikanische Performance-<br />
Künstler Tim Youd arbeitet seit<br />
2012 an einem Projekt namens „100<br />
Novels“. Dabei schreibt er berühmte<br />
Romane auf einer Schreibmaschine<br />
ab,ambesten auf einer,wie sie auch<br />
der Autor nutzte, und entweder an<br />
dem Ort, an dem der Roman geschrieben<br />
wurde, oder dort, wo er<br />
spielt. Youd hat Hemingways „Farewell<br />
to Arms“ abgeschrieben, Faulkners<br />
„The Sound and the Fury“ und<br />
Kerouacs „Big Sur“. Im Oktober<br />
kommt Youd nach Dresden, wo Kurt<br />
Vonneguts 50 Jahre alter Roman<br />
„Schlachthof 5“ spielt. Vom 8. bis<br />
zum 16. Oktober wirderihn dortabtippen.<br />
Es ist der 64. Roman, den er<br />
auf diese Weise reproduziert.<br />
Vonneguts Werk thematisiert die<br />
Luftangriffe auf Dresden im Februar<br />
1945. Es ist autobiographisch geprägt,<br />
denn als Kriegsgefangener hat<br />
Vonnegut (1922–2007) im Keller des<br />
städtischen Schlachthofes mit anderen<br />
Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern<br />
die Zerstörung der Stadt<br />
durch Bomber der Alliierten überlebt.<br />
„Dresden war eine einzige riesige<br />
Flamme. Diese eine Flamme<br />
verschlang alles Organische, alles,<br />
was irgendwie brennbar war“,<br />
schrieb Vonnegut. Sein Buch ist ein<br />
Antikriegsroman.<br />
Nicht nur, dass man bei dieser<br />
Performance ein fast schon vergessenes<br />
Geräusch wieder hören kann.<br />
Man kann TimYoud um das genaue<br />
Lesen beneiden, das eine solche Kopie<br />
erfordert, um seine außerordentlichen<br />
Begegnungen mit Literatur in<br />
Zeiten vonKindle und anderen elektronischen<br />
Lesegeräten.<br />
Der Künstler schreibt auf einem<br />
einzigen Blatt Papier, das er immer<br />
wieder neu in die Maschine spannt,<br />
dahinter ein weiteres, zur Stabilisierung.<br />
Denn das eine Blatt, auf dem<br />
am Ende der Text mehrerer hundert<br />
Seiten steht, saugt all die Tinte auf,<br />
wirdbeschädigt, Schichten lösen sich<br />
ab.Und so generiertdie Performance<br />
eine Art Palimpsest, das die Geschichte<br />
zwar enthält. Gelesen werden<br />
aber kann sie nicht.<br />
VonMarkus Schneider<br />
Ganz zum Schluss hört<br />
man das verlorene E<br />
noch einmal. Als letzten<br />
Track ihres neuen Albums<br />
„Bam Bam“ haben Seeed ein<br />
Stück vonDemba Nabé alias Boundzound<br />
alias Ear gesetzt, das dieser<br />
vor seinem überraschenden Todim<br />
letzten Jahr aufgenommen hat. Gemeinsam<br />
mit Frank Dellé und Peter<br />
Fox hatte er die Band 1998 in Berlin<br />
gegründet. „What aDay“ heißt das<br />
Stück, das einzige englische auf dem<br />
Album. Die sonst inspiriert gemischtsprachige<br />
Gruppe singt nämlich<br />
diesmal nur auf Deutsch.<br />
Mitgewohnter Souveränität<br />
Nabés Beitrag fällt auch musikalisch<br />
aus dem Rahmen, eine sehnsüchtige,<br />
ausladend gecroonte Soulballade<br />
mit Streichern, die hoch über<br />
den Titel wehen. Die restlichen Stücke<br />
bewegen sich mit gewohnter<br />
Souveränität über die Ländereien<br />
aus Dancehall-Reggae, HipHop und<br />
Verwandtem, die sie seit je aufs Ertragsreichste<br />
verkuppeln, diesmal<br />
unterstützt von den Produzenten<br />
The Krauts,die einst ihren Hit„Ding“<br />
verantwortet hatten, aber neben Peter<br />
Fox’ enormem „Stadtaffe“ auch<br />
das erste Solo von Nabé als Boundzound<br />
produzierten.<br />
Wobei Seeed in erster Linie eine<br />
Liveband sind, und zwar eine der<br />
besten, die man erleben kann –fast<br />
alle 13 Musiker sind seit den Anfängen<br />
dabei. Die sieben Jahre, die zwischen<br />
diesem fünften Album seit<br />
2001 und demVorgänger„Seeed“ liegen,<br />
deuten dieses Gewicht an. Sie<br />
brauchen nicht ständig neue Songs,<br />
zumal sie die alten ja aufpolieren<br />
oder neu denken können. In den<br />
Konzerten am Dienstag und Mittwoch<br />
im kleinen Festsaal bestätigten<br />
sie das ganz wunderbar. Klar, eswar<br />
ein Aufwärmen für die anstehenden<br />
Konzerte –zweimal Schmelinghalle<br />
im November, dreimal Wuhlheide,<br />
dreimal Waldbühne plus Zusatzkonzert<br />
im nächsten Sommer –die nach<br />
drei Jahren Tourabstinenz längst<br />
ausverkauft sind. Aber man konnte<br />
nur staunen über die lässige Tightness<br />
des Treibens.<br />
Eine gute Handvoll „Bam Bam“<br />
hat die beste Danceband Deutschlands<br />
schon im Programm, wie das<br />
Wasfür ein Tag<br />
Seeed stellen ihr schönes neues Album im Festsaal vor<br />
Seeed-Frontman Peter Fox<br />
IMAGO<br />
Album beginnen sie auch das Konzert<br />
mit „Ticket“. Eintoller Track, mit<br />
gedämpfter,aber dichter Percussion,<br />
klingelnden Juju-Gitarren und herrlichem<br />
Afrobeat-Bläsersatz, wie vielleicht<br />
überhaupt, muss ich später bei<br />
Tracks wie„Waterpumpee“ oder Fox’<br />
„SchwarzzuBlau“ denken, der beste<br />
Trick des Seeedsounds die fantastischen<br />
Bläser sind. In „Ticket“ geht es<br />
um die wunderlichen Wege des Lebens,<br />
das bei aller Pein auf dem Weg<br />
eben doch das tollste ist –eine Bilanz,<br />
die vielleicht auch an die Zeiten<br />
erinnert, in denen vor allem Peter<br />
Fox vor dem atemlosen Ruhm floh,<br />
aber wohl auch an die Zeit nach<br />
Demba Nabés Tod: „Irgendwann ist<br />
alles vorbei/ doch so sieht der Deal<br />
aus/ ich würd ihn wieder nehmen“,<br />
singen Fox und Dellé mit entschlossener<br />
Wehmut.<br />
Lebensfreude trifft mehr noch als<br />
Party den Kern ihrer Musik, und das<br />
neue Album scheint in diesem Sinne<br />
etwas verhaltener,aber nicht weniger<br />
grundsätzlich. „Lass sie gehn“, das<br />
zweite Stück, auch eine Single,<br />
kommt mit einer dicken Kopfnickersense<br />
aus dem Reggae angeschwappt,<br />
über die Foxund Dellé von<br />
einer unerfreulich ans Ende geratenden<br />
Beziehung berichten –aber es<br />
handelt vom Loslassenkönnen und<br />
Weitermachen. So ist das Album trotz<br />
allem ein Seeedalbum, bunt und breit<br />
wie die schicken Fatsuits, die sie im<br />
Video zum Pfeffersack-Diss „Geld“<br />
tragen, dessen karg zickiger Beat wie<br />
ein stolz zu eng geschnallter Gürtel<br />
klingt; bauchig gebeult wie im Partytrack„Love<br />
and Courvoisier“; und mit<br />
weit offenen Rootsreggae-Armen wie<br />
in „Komm in mein Haus“, dessen<br />
Geste sich als Beitrag zur Fluchtlage<br />
inWelt und Land verstehen lässt.<br />
„Demba, siehst du das?“<br />
Ins Haus geholt haben sie sich auch<br />
ein paar Featuregäste,Deichkind für<br />
eine minimale Elektrofigur, die an<br />
alte Dr.-Dre-Schlaufen einnert und<br />
den SeximHellen feiert, R&B-Sänger<br />
Trettmann für einen massigen Autotune-Dub-Hop<br />
und die Rapperin<br />
Nura, die den Grund für die britzelnde<br />
Umwölkung von„Sieist geladen“<br />
mit den Worten erklärt: „Wegen<br />
dir hab ich ständig meine Tage/ und<br />
der Sexist ne Blamage“.<br />
Für diese kam Nura am Mittwoch<br />
auch kurz und knackig auf die<br />
Bühne, mit einer Beiläufigkeit, die<br />
den ganzen Auftritt prägte, indem<br />
nicht nur die Zivilkleidung oder eben<br />
die „neuen Outfits“, wie Fox von der<br />
Bühne scherzte, sondern auch die<br />
eher anchoreographierten Bewegungen<br />
der zwei verbliebenen<br />
Frontleute sehr charmant den Bolzplatz-Charakter<br />
anspielten.<br />
„What a day“ fehlte selbstverständlich.<br />
Aber Nabé war dennoch<br />
auf anrührende Weise dabei.<br />
„Demba, siehst du das?“, rief Fox in<br />
den Jubel, bevor sein Part in „You &I“<br />
vomBandkam, die leereBühnenposition<br />
zwischen Dellé und Foxvon einem<br />
hellen Spot markiert. Man weiß<br />
es nicht. Aber Auftritt und Album<br />
klingen, als hätten Seeed erfolgreich<br />
und mutig losgelassen.<br />
Seeed-Bam Bam (BMG/Warner)<br />
NACHRICHTEN<br />
Plácido Domingo tritt als Chef<br />
der Oper in Los Angeles ab<br />
Nach den Belästigungsvorwürfen<br />
mehrerer Frauen gegen Plácido Domingo<br />
hat der 78-Jährige die Oper in<br />
Los Angeles verlassen. Er trete von<br />
seinem Posten als Leiter der Oper zurück<br />
und sage geplante Auftritte ab,<br />
hieß es am Mittwoch in einer Mitteilung<br />
des Spaniers,die der Deutschen<br />
Presse-Agentur vorlag. Er tue dies<br />
mit „schwerem Herzen“, aber angesichts<br />
der jüngsten Anschuldigungen<br />
gegen ihn sei dieser Schritt „im<br />
besten Interesse“ für das Opernhaus.<br />
Erst vorige Woche hatte der Opernstar<br />
kurzvor einem geplanten Auftritt<br />
die NewYorker Metropolitan<br />
Oper verlassen. (dpa)<br />
Banksy eröffnet Geschäft in<br />
London, das zubleibt<br />
DerbritischeStreet-Art-Künstler<br />
Banksy hat in London ein Geschäft<br />
eröffnet. Allerdings können Interessierte<br />
die Kunstwerke darin nicht<br />
ansehen oder vorOrt kaufen, da die<br />
Türen geschlossen bleiben, wie<br />
Banksy mitteilte.Die Objekte können<br />
übers Internet erstanden werden.<br />
DerErlös solle an eine Flüchtlingsorganisation<br />
gehen, deren Rettungsschiff<br />
vonden italienischen<br />
Behörden festgesetzt worden sei.<br />
Dasgrößte bekannte Banksy-Gemälde,das<br />
das britische Unterhaus<br />
voll besetzt mit Schimpansen zeigt,<br />
ist am Donnerstag für mehr als elf<br />
Millionen Euro verkauft worden –<br />
vomLondoner Auktionshaus Sotheby's.Das<br />
Werk trägt denTitel<br />
„Devolved Parliament“ („Dezentralisiertes<br />
Parlament“). Über den<br />
Käufer wurden keine Informationen<br />
bekannt.(dpa)<br />
Kunstverein Aachen hält an<br />
Ehrung für Walid Raad fest<br />
Trotz Antisemitismus-Vorwürfen<br />
will ein Aachener Kunstverein einen<br />
Preis an den amerikanisch-libanesischen<br />
Künstler Walid Raad überreichen.<br />
Manhabe dieVorwürfe recherchiert,<br />
„aber nichts gefunden, was<br />
wirklich stichhaltig ist“, sagte der<br />
Vorstandssprecher der Freunde des<br />
Ludwig Forums,Michael Müller-<br />
Vorbrüggen, am Mittwoch dem<br />
Deutschlandfunk. (dpa)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Bedienungsanleitung<br />
Wieman einen<br />
Partner findet<br />
VonRuth Herzberg<br />
Ich habe ja jetzt wieder einen Partner.Nach<br />
fast drei Monaten Einsamkeit bin ich jetzt<br />
endlich wieder glücklich. Singles beneiden<br />
mich um den regelmäßigen Sex, das positive<br />
Feedback, die Unterstützung im Alltag, das<br />
Geliebtwerden. Die armen einsamen Loser<br />
fragen mich oft, wie ich das geschafft habe,<br />
geliebt zu werden. Tja, sage ich dann, das ist<br />
keine Magie.Einen Partner findet man so:<br />
Erstmal ist es ganz wichtig, die Einsamkeit<br />
nicht zu ertragen. Manmuss wirklich extrem<br />
leiden, wenn man alleine ist. Man darf<br />
nicht nur allein sein, man muss sich auch allein<br />
fühlen, man muss tiefen Verlassenheitsschmerz<br />
empfinden. Man muss also extrem<br />
verzweifelt sein, sich mental richtig am Boden<br />
befinden, richtig, richtig, richtig extrem<br />
traurig sein.<br />
Wenn man nachts allein im Bett liegt,<br />
muss man ein Kissen umklammern und es<br />
sich zwischen die Beine pressen. Man muss<br />
dem Kissen den Namen der Person geben,<br />
deren Nähe man sich am meisten wünscht.<br />
Manmuss in das Kissen weinen und sich an<br />
dem Kissen reiben und schließlich einschlafen.<br />
Wenn man morgens aufwacht, dann<br />
muss man sich noch in genau der gleichen<br />
Position befinden, in der man eingeschlafen<br />
ist, nämlich fest um das Kissen gewickelt.<br />
Um es kurzzusagen: Manmuss extrem verzweifelt<br />
sein und gleichzeitig absolut starke<br />
Lust auf Sexhaben.Warumdas so sein muss?<br />
Weil man ohne Verzweiflung und Sexlust<br />
nicht auf die Idee käme, sich auf Partnersuche<br />
zu begeben. Undwenn doch, dann nicht<br />
mit dem nötigen Ernst. Denn normalerweise<br />
geht’s einem allein doch viel besser,oder? Na<br />
also.Verzweiflung allein reicht aber nicht.<br />
ANNE TRIEBA<br />
Manmuss auch gut aussehen, damit man<br />
für potenzielle Partner in Frage kommt. Also<br />
sollte man regelmäßig Sport treiben, auf<br />
seine Ernährung achten und die Körperpflege<br />
nicht vernachlässigen. Egal, was einem<br />
die Frauenmagazine predigen, vonwegen,<br />
dass man sich in seinem Körper so wie<br />
er ist, wohlfühlen soll, etc.Nein, tut mir leid:<br />
Der Body muss straff sein. Nächster Schritt:<br />
Ist man verzweifelt, geil und hat einen straffen<br />
Body, muss man rausgehen, dorthin, wo<br />
potenzielle Partner herumschwirren. Die<br />
kommen dann blitzschnell angeflogen, da<br />
muss man sich keine Sorgen machen.<br />
Man suche sich den Schönsten aus und<br />
schieße sich richtig ab, umalle Warnsignale<br />
abzuschalten. Denn nun kommt das Wichtigste:<br />
Man muss sich in den verlieben. Man<br />
muss sich komplett verlieben und den Ausgesuchten<br />
komplett gut finden. Körper,<br />
Geist, Körper, Stimme, Geruch, Körper, Klamotten,<br />
Körper und Körper. Muss man unbedingt<br />
gut finden, egal was die anderen sagen,<br />
egal was die innere Stimme sagt. Man<br />
muss alle Warnungen inden Wind schlagen<br />
und sich auf den draufstürzen, so dass er<br />
keine Zeit hat, sich zu besinnen und er sich<br />
deswegen auch verliebt.<br />
Dann braucht man viel viel viel Alkohol,<br />
Zigaretten, Essen, Blumen, Zeit, Liebe,<br />
Wärme, Aufmerksamkeit, Geduld, Geld etc.<br />
Das alles muss man dem neuen Partner jederzeit<br />
unbegrenzt zur Verfügung stellen.<br />
Man muss ihm immer alles verzeihen. Man<br />
muss sich immer alles bieten lassen. Man<br />
muss immer alles gut finden, was er sagt und<br />
tut, denn er ist das wertvollste Wesen, das<br />
Gottes Erdboden jemals betreten hat. Dafür<br />
muss man immer alles geben und zwar sofort.<br />
Und wenn es dann da ist, das Glück?<br />
Dann muss man es nur noch festhalten, bis<br />
man nicht mehr kann.