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8* <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 244 · M ontag, 21. Oktober 2019<br />
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Meinung<br />
Mietendeckel<br />
ZITAT<br />
Die Arbeit<br />
beginnt erst<br />
Elmar Schütze<br />
erwartet vonRot-Rot-Grün einen<br />
gerichtsfesten Gesetzesentwurf.<br />
Der Gesetzesentwurf für den Mietendeckel<br />
ist durch. Kurz vor knapp –<br />
wenn der Fahrplan eingehalten werden<br />
soll, das Gesetz Anfang 2020 zu beschließen.<br />
Es brauchte drei krisenhafte Sitzungen<br />
des Koalitionsausschusses und förderte<br />
erstmals seriöse Zweifel an der<br />
Kompromissfähigkeit des Bündnisses zutage.<br />
Selten ist unter den Partnern sogestritten<br />
worden. Und das gerne auch öffentlich,<br />
als etwa der Regierende Bürgermeister<br />
im ZDF Positionen festklopfte,die<br />
internnoch nicht entschieden waren.<br />
Dass es am Ende doch zu einem Gesetzesentwurf<br />
gereicht hat, hatte zwei<br />
Gründe – einen vordergründig-politischen<br />
und einen strategischen: Natürlich<br />
wollten alle Koalitionäreeine„Atempause<br />
für die Mieter“, wie sie so häufig sagten.<br />
Ebenso wahr ist auch, dass ein Scheitern<br />
des Deckels auch als Scheitern von Rot-<br />
Rot-Grün gewertet worden wäre. Alle drei<br />
hätten verloren, das zwingt zusammen.<br />
Doch die eigentliche Arbeit im Detail<br />
beginnt ohnehin erst. Im parlamentarischen<br />
Verfahren wird die Koalition noch<br />
einmal das knappe Dutzend Rechtsgutachten<br />
durchackern, das in den vergangenen<br />
Monaten vorgelegt wurde. Ziel muss<br />
eine gerichtsfeste Formulierung sein.<br />
Die ganze Republik wird genau hinsehen,<br />
denn es handelt sich nicht nur um<br />
ein <strong>Berliner</strong> Thema. Andere Großstädte<br />
leiden auch unter explodierenden Angebotsmieten.<br />
In München ist gerade ein<br />
Volksbegehren für einen sogar sechsjährigen<br />
Mietenstopp gestartet worden.<br />
Interessant wirdauch sein, ob die CDU<br />
ihren Widerstand gegen den populären<br />
Eingriff in den Mietenmarkt durchhält.<br />
Zwar hat die Unions-Bundestagsfraktion<br />
Klage gegen das <strong>Berliner</strong> Gesetz angekündigt.<br />
Malabwarten …<br />
Brexit<br />
Verloren hat<br />
Johnson noch nicht<br />
Katrin Pribyl<br />
denkt, es ist nur eine Frageder Zeit,<br />
bis das Abkommen durchkommt.<br />
Essollte ein historischer „Supersamstag“<br />
werden. Doch die britischen Abgeordneten<br />
verschoben die Entscheidung<br />
über den Deal. Alles wie immer in der leidigen<br />
Brexit-Saga. Sobald das britische<br />
Unterhaus in den vergangenen Monaten<br />
aufgerufen war, eine endgültige Wahl zu<br />
treffen, drehte und krümmte und wand es<br />
sich. Folglich hat Premier Boris Johnson<br />
am Samstagabend um eine Verlängerung<br />
der Brexit-Frist gebeten, auch wenn das<br />
Gesuch in Form von drei Briefen mehr<br />
von trotziger Unreife denn von staatsmännischer<br />
Fähigkeit zeugt.<br />
Wie geht es weiter? Das Chaos auf der<br />
Insel wirkt größer als je zuvor. Als wahrscheinlich<br />
gilt, dass die Regierung diese<br />
Woche das Gesetz zur Ratifizierung des<br />
Abkommens einbringt. Denn der Premier<br />
mag am Sonnabend das Votum zurückgezogen<br />
haben, womit der große Boris-<br />
Johnson-Jubeltag fürs Erste ausblieb.Verloren<br />
hat der Regierungschef trotzdem<br />
nicht. Seine Rhetorik, dass das Parlament<br />
den Willen des Volkes untergrabe und er<br />
allein im Auftrag der enttäuschten Brexit-<br />
Wähler agiere, kann er weiter verschärfen.<br />
Für baldige Neuwahlen wirdihm die Taktik<br />
helfen. Gleichzeitig scheint es nur eine<br />
Frage der Zeit, bis er sein Abkommen<br />
durch das Parlament bringt. Johnson<br />
weiß nicht nur das Momentum auf seiner<br />
Seite nach dem EU-Gipfel letzte Woche,<br />
von dem er triumphierend mit Deal auf<br />
die Insel zurückkehrte. Helfen dürften<br />
ihm vorallem die Frustration etlicher Abgeordneter,<br />
die das Thema erledigt sehen<br />
wollen. Hauptsache Brexit, wie auch immer<br />
der aussehen mag. Dasist die eigentliche<br />
Tragik der Geschichte. Sollte nicht<br />
ein Wunder geschehen, haben die europaskeptischen<br />
Hardliner wohl gewonnen.<br />
Revier Nahost<br />
Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung<br />
ist laut Bundesverfassungsgericht<br />
„in gewissem<br />
Sinn die Grundlage jeder Freiheit<br />
überhaupt“. Meinungen sind Werturteile<br />
und lassen sich somit weder als wahr noch<br />
als unwahr qualifizieren. Es spielt für den<br />
verfassungsrechtlichen Schutz keine Rolle,<br />
ob die Meinungsäußerung begründet oder<br />
grundlos erscheint, ob sie von anderen für<br />
nützlich oder für schädlich, für wertvoll oder<br />
für wertlos gehalten wird.<br />
Vonden Meinungsäußerungen sind die<br />
Tatsachenbehauptungen abzugrenzen. Hier<br />
geht es um Äußerungen über gegenwärtige<br />
oder vergangene Zustände oder Ereignisse,<br />
die dem Beweise zugänglich sind. Allerdings<br />
sind Meinungsäußerungen oftmals nahezu<br />
untrennbar mit Tatsachenbehauptungen<br />
vermischt. Deshalb fallen auch Tatsachenbehauptungen<br />
unter den Schutz der Meinungsfreiheit<br />
des Artikel 5Absatz 1GG, wenn und<br />
soweit sie Voraussetzung der Bildung von<br />
Meinungen sind.<br />
Dem Grundrecht der Meinungsfreiheit<br />
sind allerdings von Verfassung wegen Grenzengesetzt.<br />
Diese ergeben sich aus Art. 5Abs.<br />
2GG, wobei die Schranke der allgemeinen<br />
Gesetze imVordergrund steht. Unter einem<br />
allgemeinen Gesetz versteht man gemeinhin<br />
ein Gesetz, das dem Schutz eines schlechthin,<br />
also ohne Rücksicht auf eine bestimmte<br />
Meinung, zu schützenden Rechtsguts dient.<br />
Das Bundesverfassungsgericht geht darüber<br />
hinaus von einer Wechselwirkung zwischen<br />
den allgemeinen Gesetzen, die der Meinungsfreiheit<br />
Grenzen setzen, und den Rechten<br />
aus Art. 5Abs.1GG aus.Somit setzen die<br />
allgemeinen Gesetze zwar dem Wortlaut<br />
nach dem Grundrecht Schranken, müssen<br />
ihrerseits aber in ihrer das Grundrecht begrenzenden<br />
Wirkung selbst wieder eingeschränkt<br />
werden.<br />
Neben der klassisch-liberalen Funktion<br />
des Grundrechts der Meinungsfreiheit als<br />
Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe ist<br />
Die Koordinaten in der Gesellschaft verschieben<br />
sich. Auch diejenigen, die das<br />
Gefühl dafür bestimmen, was normal ist und<br />
was nicht. Nach dem Anschlag von Halle<br />
geht die Verschiebung weiter. Und bedauerlicherweise<br />
nicht zum Besseren.<br />
Es gibt diesen berühmten Satz von Golda<br />
Meir, der legendären israelischen Politikerin.<br />
Sie sagte: „Die Juden können sich Pessimismus<br />
nicht leisten.“Wassie damit sagt, ist, dass<br />
die Anlässe für Pessimismus wohl weit zahlreicher<br />
sind als für Optimismus.Und dass Optimismus<br />
immer eine Option bleiben muss,<br />
weil alles andereSchicksalsergebenheit wäre.<br />
Auch in schweren Zeiten bleibt die Möglichkeit,<br />
bleibt die Pflicht zu handeln. „So ist es<br />
eben“, das ist demnach kein akzeptabler Satz.<br />
Viele Menschen hat die Tatvon Halle erschüttert.<br />
Mir ging es so und vielen anderen<br />
auch. Die Tat rührte an ein Trauma. Für die<br />
jüdische Gemeinschaft, für alle,inderen Familiengeschichte<br />
jener kollektive Wahn des<br />
Antisemitismus zu unvorstellbaren Grausamkeiten<br />
geführt hatte. Deshalb ist es für<br />
die Juden in Deutschland so wichtig, dass<br />
das Motiv des Täters wirklich beim Namen<br />
genannt wird. Es war Antisemitismus. Jeder,<br />
absolut jeder Rechtsextremist ist ein Antisemit.<br />
Dieser Wahn vonder Weltverschwörung<br />
der Juden, diese Idee,dass Juden finster,böse<br />
und mächtig sind, dass sie kleine Kinder<br />
schlachten, die Welt vergiften, die „Völker“<br />
zersetzen und was weiß ich noch alles –all<br />
das gehört zum Betriebssystem des Rechtsextremismus.Zujedem<br />
Rechtsextremismus.<br />
Zehn Debatten in zehn Wochen.<br />
Die <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>,der Tagesspiegel und die Bundeszentrale<br />
für politische Bildung feiern30Jahre Meinungsfreiheit.<br />
Diese Woche: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen?<br />
Argumente und Ideen bitte an<br />
leser-blz@dumont.de; Stichwort: Meinungsfreiheit<br />
Alle Debatten online unter<br />
berliner-zeitung.de/meinungsfreiheit<br />
Die Basis<br />
der Freiheit<br />
Hans-Jürgen Papier<br />
warbis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Er forderteine<br />
effiziente Durchsetzung des Rechts, auch im Internet.<br />
KOLUMNE<br />
Wasist noch<br />
normal nach der<br />
Tatvon Halle?<br />
Anetta Kahane<br />
Amadeu Antonio Stiftung<br />
Wenn Juden mit diesem Hass konfrontiert<br />
werden, der mehr als 2000 Jahre Zeit<br />
hatte, sich im Gedächtnis festzutackern,<br />
dann erschüttertdas,esrührtaneiner tiefen<br />
Angst.<br />
Es ist wie der Geruch von Feuer im Wald,<br />
der jedem Lebewesen signalisiert, sich sofort<br />
in Sicherheit zu bringen. Antisemitismus ist<br />
das Urfeuer. Wenn es eine Gesellschaft erfasst,<br />
verbrennt es alles.<br />
BERLINER ZEITUNG/HEIKO SAKURAI<br />
dieses Grundrecht auch Ausdruck einer objektiv-rechtlichen<br />
Wertentscheidung. Es<br />
setzt mithin Maßstäbe bei der Auslegung<br />
und Anwendung allen Gesetzesrechts, vor<br />
allem auch des Privatrechts. Bei der Überprüfung<br />
von straf- oder zivilgerichtlichen<br />
Sanktionen wegen mehrdeutiger Meinungsäußerungen<br />
ist vondem Grundsatz auszugehen,<br />
dass die Gerichte beider Auslegungder<br />
Meinungsäußerung nicht für den zur Sanktion<br />
führenden Sinn entscheiden dürfen,<br />
ohne zuvor die Alternativen mit tragfähigen<br />
Gründen ausgeschlossen zu haben. Andernfalls<br />
müsste der Meinungsäußernde stets befürchten,<br />
wegen einer Deutung, die den gemeinten<br />
Sinn seiner Äußerung verfehlt, mit<br />
staatlichen Sanktionen belegt zu werden.<br />
In Zeiten der Digitalisierung und des Internets<br />
wirddie Frage diskutiert, ob die Meinungsfreiheit<br />
neu zu denken sei. Es ist unzweifelhaft,<br />
dass das Internet kein rechtsfreier<br />
Raum ist, die materiell-rechtlichenVorschriften<br />
zum Schutz öffentlicher oder<br />
privater Rechtsgüter gelten selbstverständlich<br />
uneingeschränkt auch bei der Nutzung<br />
des Internets. Was nötig ist, ist die vom<br />
Rechtsstaatsprinzip geforderte effiziente<br />
Durchsetzung geltenden Rechts. Hier muss<br />
die Gesetzgebung durcheineAnpassung von<br />
Organisation und Verfahren dafür Sorge tragen,<br />
dass unter den veränderten technologischen<br />
Bedingungen sowohl die Herrschaft<br />
des Rechts wie auch die staatliche Justizgewährung<br />
uneingeschränkte Geltung behalten<br />
oder wiedererlangen.<br />
Herausforderungen wie die durch den Populismus,Hassreden<br />
und die Verbreitung von<br />
Fake News gehören schon immer zu den Risiken,<br />
die die Demokratien um der Freiheit willen<br />
stets aufs Neue eingehen und bestehen<br />
müssen. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit<br />
darfauf gesetzlicher Grundlage und zum<br />
Schutz höher-oder zumindest gleichrangiger<br />
Rechtsgüter der Allgemeinheit oder des Einzelnen<br />
eingeschränkt werden –nicht aber zur<br />
Durchsetzung einer„besseren Moral“.<br />
Eine junge Frau war voreinigen Tagen bei<br />
mir. Ihr gingen die Ereignisse von Halle sehr<br />
nah. Ich habe mit einigen Leuten gesprochen,<br />
die wie sie und ich selbst dieses Gefühl<br />
vonBodenlosigkeit hatten. Ob wir nicht eine<br />
Supervision bräuchten, fragte uns jemand.<br />
Ich fand die Frage erstaunlich, aber für die<br />
Stimmung im Land normal.<br />
Normal, weil als unnormal angesehen<br />
wird, wenn Antisemitismus als Urfeuer<br />
wahrgenommen wird. Normal, weil es als<br />
unangemessen oder übertrieben angesehen<br />
wird, darauf mit Tränen und Erschütterung<br />
zu reagieren. Das Gegenteil ist aber richtig,<br />
es ist angemessen und normal, auf den Angriff<br />
und seine Folgen emotional und tief besorgt<br />
zu reagieren.<br />
Undwas,folgt man Golda Meiers Gedanken,<br />
kann man nun tun? Wiekann man handeln?<br />
Was wäre im besten Sinne normal?<br />
Vielleicht doch nicht die Mittel gegen<br />
Rechtsextremismus und Antisemitismus<br />
streichen, wie es das Bundesfamilienministerin<br />
Franziska Giffey gerade tut?<br />
Ja, esist normal und angemessen, darüber<br />
wütend und enttäuscht zu sein. Ja, es<br />
wäre normal, das bürokratische „So ist es<br />
eben“-Zuständigkeitsgelaber zu lassen und<br />
die Menschen vor Ort zu unterstützen, die<br />
kompetent sind und handeln können. Was<br />
für ein Armutszeugnis für die Bundesregierung,<br />
dass das hier gesagt werden muss.<br />
Gerade jetzt daran erinnern zumüssen,<br />
was geschehen wird, wenn erst alles in Flammen<br />
steht, das ist nicht normal.<br />
„Die Mutter hat eine große<br />
Verantwortung. Und sie<br />
trägt dazu bei, dass die<br />
Jungen nicht selbstständig<br />
werden, weil sie ihnen alles<br />
abnimmt.“<br />
AhmetToprak, Professor für Erziehungswissenschaften<br />
an der Fachhochschule Dortmund,<br />
über die Erziehung muslimischer Jungs<br />
AUSLESE<br />
Wasbringt die<br />
Grundsteuer-Reform?<br />
Der Bundestag hat am Freitag nach<br />
langen Verhandlungen die Reform<br />
der Grundsteuer beschlossen. Die Kommentatoren<br />
sehen Vor- und Nachteile.<br />
Die Frankfurter Allgemeine <strong>Zeitung</strong> urteilt<br />
zufrieden:„Die letztendliche Höhe der<br />
Grundsteuer in einem Ort verbleibt in der<br />
Hand der jeweiligen Kommune. (...) Das<br />
stärkt die Bedeutung kommunaler Politik<br />
und den Wettbewerb der Kommunen untereinander.Wie<br />
teuer die Grundsteuer im<br />
nächsten Jahrzehnt wird, obliegt entscheidend<br />
den Gemeinden und deren Hebesätzen.<br />
Das liegt wiederum auch in der Verantwortung<br />
derBürgermeister.“<br />
In der Hannoverschen Allgemeinen<br />
<strong>Zeitung</strong> ist zu lesen:„Es wärebessergewesen,<br />
wenn sich der Gesetzgeber auf ein<br />
bundesweit einheitliches und einfaches<br />
System verständigt hätte –dennoch hat<br />
die nun beschlossene Lösung auch einen<br />
gewissen Charme. Bei der Grundsteuer<br />
entwickelt sich ein Wettbewerb, welches<br />
Bundesland sich für das vernünftigste<br />
Verfahrenentscheidet.“<br />
Die Fuldaer <strong>Zeitung</strong> kommentiert enttäuscht:<br />
„Eine Steuerreform, die überfällig<br />
war und beschlossene Sache ist, von der<br />
aber niemand weiß, ob es teurer oder billiger,<br />
einfacher oder komplizierter wird –<br />
das ist einWiderspruch in sich. Denn keine<br />
Reform sollte das Alte, das ersetzt werden<br />
soll, verkomplizieren. Doch der Beschluss<br />
liegt in der Natur einer großen Koalition,<br />
die zusammenbringen muss,was nicht zusammengehört.“<br />
Bettina Cosack<br />
PFLICHTBLATTDER BÖRSE BERLIN<br />
Chefredakteur: Jochen Arntz.<br />
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