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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 250 · M ontag, 28. Oktober 2019 – S eite 21 *<br />
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Feuilleton<br />
PetraKohse empfiehlt,<br />
den 77. Geburstag von<br />
Ginka Steinwachs zu<br />
feiern–Seite 24/25<br />
„Im klassischen Western ist die Zeit stehen geblieben …“<br />
Irene Bazinger über „Die 5glorreichen Sieben“ in der Bar jeder Vernunft Seite 23<br />
1989/2019<br />
Null Wirkung<br />
im Westen<br />
Cornelia Geißler<br />
hörtAutoren<br />
vondamals zu<br />
Was habt ihr damals gelesen?,<br />
fragt Birgit Dahlke die drei<br />
Schriftsteller neben sich. Die Literaturwissenschaftlerin<br />
kennt sie gut,<br />
denn sie hat über die inoffizielle Literatur<br />
aus der DDR promoviert.<br />
„Diensthunde richtig führen“, nennt<br />
Katja Lange-Müller als Beispiel.<br />
Klingt ulkig, entspricht aber der<br />
Wahrheit, weil sie als Schriftsetzer<br />
natürlich die Manuskripte kennen<br />
musste, die sie zum Druck brachte.<br />
Ihr eigenes Schreiben sei auch aus<br />
Notwehr gegen das entstanden, was<br />
sie im Osten lesen musste.<br />
„Widerständiges Schreiben im<br />
geteilten Berlin“ heißt das Nachmittagsthema<br />
am Sonnabend innerhalb<br />
eines lehrreichen Schwerpunkts zu<br />
1989/2019 im Literaturforum im<br />
Brecht-Haus.Birgit Dahlke,die an der<br />
Humboldt-Universität arbeitet, ist es<br />
zu danken, dass auch Nachgeborene<br />
im Publikum sitzen und nicht nur alte<br />
Leute sich die Erzählungen alter<br />
Leute anhören. Die hier Schreibende<br />
weiß: Werdie Achtziger bewusst erlebte,ist<br />
heute nicht mehr jung.<br />
Jan Faktor und Bert Papenfuß, in<br />
der (Ost-)Runde neben Lange-Müller,sprechen<br />
darüber,dass sie Öffentlichkeit<br />
fast nur durch dieWohnungs-<br />
Lesungen in Prenzlauer Berg erreichten.<br />
In der West-Autoren-Runde stellt<br />
Michael Wildenhain den Hauptunterschied<br />
zwischen den beiden Podien<br />
klar: „Bei uns konnte man<br />
schreiben, was man wollte, und es<br />
hatte null Wirkung“, sagte er. Tanja<br />
Dückers erzählt, auf ihrem Gymnasium<br />
in Grunewald „die aus Wilmersdorf“<br />
gewesen zu sein. Das hatte vor<br />
der Gentrifizierung des Westens einen<br />
ärmlichen Beiklang. Die Ostberliner,<br />
sagt sie, seien ihr nie so fremd<br />
gewesen wie die Bayern, zudenen<br />
früher die Familienurlaube führten.<br />
Da meldet sich Katja Lange-Müller<br />
aus dem Publikum. Sie war 1984<br />
ausgereist und erinnert daran, dass<br />
in West-Berlin alle so taten, als kämen<br />
sie aus Hannover. Die Mauer<br />
war auch eine Sprachgrenze. Und<br />
heute? Das Berlinische stirbt aus.<br />
Aber das ist eine andereGeschichte.<br />
Das große Ausmisten<br />
Der 4. <strong>Berliner</strong> Herbstsalon will Zugehörigkeit ohne Hierarchien und Ausschlüsse denken<br />
VonAnna Gyapjas<br />
Das noble Unterfangen,<br />
Zugehörigkeit neu zu<br />
denken, beginnt mit einer<br />
Erklärung der Frauenverteidigung<br />
aus Rojava: „Stoppt<br />
den türkischen Besatzungskrieg gegen<br />
Nordostsyrien sofort.“ Verlesen<br />
von der Theaterschaffenden Anina<br />
Jendreyko auf der Bühne des Gorki-<br />
Theaters und annekdotisch ergänzt<br />
vonHito Steyerl, Heja Netirkund Bilgin<br />
Ayata, ersetzt die Intervention<br />
„Frauen für Rojava“ die Eröffnungsrede<br />
zum Auftakt des vierten <strong>Berliner</strong><br />
Herbstsalons.<br />
Seit 2013 widmet sich das interdisziplinäreFestival<br />
neuen Ideen der<br />
Gemeinsamkeit jenseits tradierter<br />
Hierarchien. Die Intervention verdeutlicht,<br />
welch Privileg es ist, diesen<br />
Diskurs im friedlichen Berlin zu führen,<br />
aber auch, welche Dringlichkeit<br />
ihm innewohnt: Ausgrenzung, Vertreibung<br />
und Auslöschung sind die<br />
Folgen eines Heimatbegriffs, der<br />
nicht alle einzuschließen vermag.<br />
Wo die Mittel der Politik solche Ungleichheit<br />
nicht zu korrigieren vermögen,<br />
verpflichtet dieses Privileg<br />
Kunst- und Kulturschaffende,hinzuschauen.<br />
Daher auch das Ausrufezeichen<br />
im Titel „De-Heimatize It!“<br />
Sprich: Der politische Diskurs um<br />
Heimat gehörtausgemistet.<br />
DerPass und das Gewehr<br />
Daniel Cremer präsentiert„Das Wunder der Liebe“ ab Freitag im Herbstsalon. MELANIE BONAJO<br />
Im Zeughauskino offenbart eine Videoinstallation<br />
vonYael Bartana das<br />
reinigende Potenzial dieser Maßnahme.<br />
Rettungsweste, Wasserkanister,<br />
Pass: In Zeitlupe fallen alltägliche<br />
Zeugnisse aus Geschichte und<br />
Gegenwart durch einen schwarzen<br />
Raum. Michelangelos David, ein Gewehr,<br />
traditionelle Gewänder, Schädel,<br />
dazu bedrohliches Dröhnen, das<br />
in den Fußsohlen vibriert, zwischendurch<br />
schneit es „Judensterne“. Assoziationen<br />
vonUnterdrückung und<br />
Genozid drängen sich auf, umso erleichterter<br />
ist man, wenn die Objekte<br />
aus dem Bild verschwinden. Die Arbeit<br />
ist inspiriert vom jüdischen<br />
Brauch des „Taschlich“, bei dem Taschen<br />
und Kleider an Ufern entleert<br />
werden, um die Vergebung der Sünden<br />
zu erbitten.<br />
„Unrettbar“ ist einzig der Begriff<br />
Heimat, weiß Bilgin Ayata, eine der<br />
„Frauen für Rojava“. Die Politikwissenschaftlerin<br />
lieferte mit ihremVortrag<br />
„De-Heimatize Belonging“ das<br />
Motto des vierten Herbstsalons. Als<br />
Schlagwort diverser Verflechtungen<br />
von Patriarchat, Kapitalismus und<br />
Rassismus stifte Heimat als politisches<br />
Konzept längst kein inklusives<br />
kollektives Bewusstsein mehr.<br />
Mit einer Ausstellung, einer Plattformfür<br />
Kurator*innen mit zukunftsweisenden<br />
Ansätzen und einer Konferenz<br />
greifen die Organisator*innen<br />
um die Gorki-Intendantin Shermin<br />
Langhoff diese These auf. Rund 40 in-<br />
ternationale Künstler*innen mit feministisch-intersektionalem<br />
Ansatz<br />
zeigen drei Wochen lang, welcher Erkenntnisgewinn<br />
der Vielheit innewohnt<br />
(die Gender-Sternchen gehören<br />
für die Akteurinnen und Akteure<br />
dazu). Aufdie Zweifler angesprochen,<br />
sagte Ayata bereits auf einem Podium:<br />
„Wir müssen darüber nachdenken,<br />
was wir schaffen können<br />
und nicht, was wir verlieren.“<br />
Neue Verbindungen zum Beispiel.<br />
Geht man durch die Ausstellung<br />
im benachbarten Palais am Festungsgraben,<br />
findet sich im zweiten<br />
StockwerkTanja Ostojics „Lexicon of<br />
Tanja Ostojic“. Über Jahre besuchte<br />
die inBerlin lebende Performance-<br />
Künstlerin Frauen, die denselben<br />
Namen wie sie tragen (auf dem Cam<br />
Ende fehlt noch ein Accent aigu, das<br />
hier im Schriftbild nicht darstellbar<br />
ist). Sie wollte untersuchen, was sie<br />
eint, was sie unterscheidet. Die Auszüge<br />
dieser künstlerischen Erforschung<br />
von Arbeitsbedingungen,<br />
Migrationswegen und Geschlechterfragen<br />
lesen sich wie ein Dokument<br />
solidarischer Praxis.<br />
VomLeben am Rand<br />
Ähnlich motiviert ist auch „TLDR“,<br />
eine Videoinstallation von Candice<br />
Breitz, die einige Räume weiter ausgestellt<br />
ist. Dorterzählen aktivistisch<br />
tätige Sexarbeiterinnen aus Kapstadt<br />
von Arbeit und Leben am Rand der<br />
Gesellschaft. Breitz verhandelt, inwiefernweiße<br />
Künstler alsVerstärker<br />
marginalisierter Stimmen fungieren<br />
können, zumal angesichts immer<br />
kürzerer Aufmerksamkeitsspannen.<br />
DerWeg, den sie mit den Mitgliedern<br />
des Kollektivs Sweat erarbeitet hat,<br />
ist ein Musical –das ist vonder Form<br />
her so ungewöhnlich, dass man tatsächlich<br />
dranbleiben will.<br />
WerAmbiguitäten zulässt, findet<br />
auch Klarheit. Davon erzählt Rola<br />
Khayyat im Container vor dem<br />
Gorki-Theater,wonoch bis Montagabend<br />
der Young Curators Academy<br />
Marathon stattfindet. Ihr Aufwachsen<br />
prägte ein Amalgam aus libanesischem<br />
Nationalismus und USamerikanischer<br />
Vorstadtkultur.<br />
Khayyats Großvater mütterlicherseits<br />
bekleidete eine Schlüsselposition<br />
bei der weltgrößten Erdölfördergesellschaft,<br />
die als amerikanisches<br />
Privatunternehmen ihren Anfang<br />
nahm: Saudi Aramco. Wie dies ihr<br />
Zugehörigkeitsgefühl formte, begriff<br />
die Fotografin Khayyat erst, als sie<br />
die Memoiren ihrer Mutter las. Nun<br />
untersucht sie mit ihren Schwestern,<br />
inwiefern ihre Familiengeschichte<br />
und privates Fotomaterial zusammen<br />
als Archiv des Imperialismus<br />
gelesen werden können.<br />
Herbstsalon bis 17. NovemberimMaxim Gorki<br />
Theater,Palais am Festungsgraben, Zeughauskino,<br />
Haus der Statistik und im Stadtraum. Eintritt<br />
frei(ausgenommen Bühnenveranstaltungen),<br />
www.berliner-herbstsalon.de<br />
NACHRICHTEN<br />
Holocaust-Überlebende<br />
Vera Friedländer ist tot<br />
DieAutorin Vera Friedländer,die<br />
sich als Mädchen an einer erfolgreichen<br />
Protestaktion gegen die Nazis<br />
in der <strong>Berliner</strong> Rosenstraße beteiligte<br />
und später als Zwangsarbeiterin<br />
in einer Schuhfabrik versklavt<br />
wurde,ist tot. Vera Friedländer starb<br />
am Freitag im Alter von91Jahren bei<br />
Berlin, wie der Verlag DasNeue Berlin<br />
am Sonntag bestätigte.Die Mitbegründerin<br />
des Jüdischen Kulturvereins<br />
Berlin hatte in ihrem 2016 erschienenenWerk„Ich<br />
war Zwangsarbeiterin<br />
bei Salamander“ über ihr<br />
Schicksal berichtet. (dpa)<br />
Handkebezweifelt Sätze,<br />
mit denen er zitiertwird<br />
Peter Handke meldet sich in der Debatte<br />
um den Literaturnobelpreis zu<br />
Wort.Erreagiertauf eineVeröffentlichung<br />
des Internet-Journals Perlentaucher,das<br />
auf ein Interview mit ihm<br />
in der Zeitschrift Ketzerbriefe von<br />
2011 hingewiesen hatte.Darin redete<br />
er das Massaker vonSrebrenica vom<br />
Juli 1995 klein. In der vonder Süddeutschen<br />
<strong>Zeitung</strong> veröffentlichten<br />
Mitteilung Handkes heißt es,erhabe<br />
das Interview damals nicht autorisiert.<br />
Wieder Tagesspiegel meldet,<br />
werdedie Schwedische Akademie<br />
dieses Interview prüfen. (BLZ)<br />
Little-Feat-Gitarrist<br />
Paul Barrère gestorben<br />
DerGitarrist Paul Barrèreist am<br />
Sonnabend im Alter von71Jahren<br />
gestorben, teilt die Band Little Feat<br />
mit. Barrère, der den Sound der amerikanischen<br />
Rockgruppe durch sein<br />
Slide-Spiel prägte,schloss sich Little<br />
Feat 1972 an und debütierte auf der<br />
LP „Dixie Chicken“. (BLZ)<br />
Anzeige<br />
Akademie-Dialog<br />
Desintegration und Empathie<br />
Über jüdische Identitäten<br />
Jeanine Meerapfel im Gespräch mit<br />
Max Czollek und Anna Schapiro<br />
Mi.30.10.<br />
Pariser Platz 4, Berlin<br />
20 Uhr, Eintritt €6/4<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Rom &Peter<br />
Jeder trage selber<br />
seine Last<br />
VonPeter Wawerzinek<br />
Wir stehen an der Gangway plötzlich nebeneinander,<br />
der Sebastian Felix und<br />
ich. Beide mit Ryanair auf dem Weg nach<br />
Rom, Flughafen Ciampino. ErReihe sieben,<br />
ich Reihe drei. Beide jeweils auf Sitz C, also<br />
ganz nah hintereinander. InRom angekommen,<br />
den Zubringerbus genommen, finden<br />
wir im hinteren Teil nebeneinander Platz. Es<br />
geht in die nächtlich erleuchtete Stadt hinein.<br />
Wir nehmen sie nur nebenher wahr. Zu<br />
viel Gesprächsstoff darüber vorhanden, was<br />
jeder von uns beiden so in den paar Tagen<br />
romfrei so erlebt und getan hat. VomBahnhof<br />
Termini aus sind es zu Fußvielleicht dreißig<br />
Minuten ohne sich groß zu sputen, sagt<br />
Ernst. Ichwill die Metronehmen, überlege es<br />
mir dann aber anders. Die Tasche ist schwer<br />
und kompakt gepackt, weil die Flugfirma für<br />
zusätzliches Gepäck unverschämte Summen<br />
verlangt. Ich schultere sie und komme<br />
ins Schwitzen. Ich stelle die Tasche mehrmals<br />
ab, befreie mich von Mantel, und<br />
Strickjacke laufe nur noch im dünnen Unter-<br />
Shirt herum. Sebastian will die abgelegten<br />
Klamotten in seinen Rucksack stopfen. Ich<br />
sage nein. Er will mir die Tasche abnehmen,<br />
mein Packesel sein. Ich weigere mich strikt.<br />
So weit kommt es nicht, widersetzeich mich<br />
gegen den deutlich jüngeren Burschen, und<br />
schleppe meine Last.<br />
Im Prinzip geht es wie bei einem gekonnten<br />
Dribbling mit uns beiden. Er holt sich<br />
seine Informationen vom Handy, spielt sie<br />
mir wie bunte Bälle zu. Ichkicke kurze Sätze<br />
wie Schonmalgehört, Kennich oder Achso<br />
zurück. Wir kommen rasch voran. An der<br />
langen alten Mauer kommt mir Brechts „Wer<br />
baute das siebentorige Theben“, in den Sinn.<br />
KLAUS ZYLLA<br />
Das große Rom ist voll von Triumphbögen.<br />
Wer errichtete sie? Mehr noch, sagt mein<br />
Dribbelpartner,stellt sich doch die Frage danach,<br />
wie viele Hände die Steine dafür erst<br />
einmal geformt, gebrannt, gestapelt, sie hierher<br />
transportiert und von danach dort geschleppt<br />
haben? Oh ja, stöhnte ich, spürewie<br />
sich mein Handgepäck tiefer in die Schulter<br />
frisst. Immer einmal wieder bleiben wir kurz<br />
stehen, um uns ein Haus,seine Fassade,den<br />
Dachsims anzusehen. Da ist Sebastian nämlich<br />
voll in seinem Metier.Ich muss mich setzen<br />
und meiner Stiefel kurz entledigen, die<br />
dicken Wollsocken von Berlin her gegen<br />
dünne Strümpfe austauschen.<br />
DasGebäude,auf dessen Stufen ich sitze,<br />
bekomme ich gesagt, sei besonders schön<br />
anzusehen. Vor allem der obere Abschluss<br />
wäre irgendwie genial. Ich gucke beim Aufstehen<br />
kurz einmal hin und nicke. Ich fühle<br />
mich von meinen Füßen her absolut besser.<br />
Es ist dunkel, denke ich, und dass Sebastian<br />
das Haus im helleren Licht sieht, so oft wie er<br />
vor ihm gestanden und an ihm schon emporgesehen<br />
haben mag. Und dann sind wir<br />
auch schon an der Tankstelle, einem weiteren<br />
architektonischem Kleinod. Tankstelle,<br />
meinst du, will ich fragen, unterlasse es tunlichst.<br />
Ichmag ja Ahnung vomSchreiben haben,<br />
was Roms Gebäudewirtschaft anbelangt<br />
hat hier nur einer den Hutauf.Links ab,<br />
den Wegbergan sind wir dann auch schon<br />
am großen Eingangstor zur Villa Massimo,<br />
schlüpfen durch die kleine Nebentür hinein.<br />
Oho, ruft Sebastian mit Blick auf ein Festzeltgestell<br />
aus. Was ist denn hier passiert? Nun<br />
darf ich auch einmal so richtig vom Leder<br />
ziehen und über die Ausstellungseröffnung<br />
reden, die ich gerade so noch mitbekommen.<br />
Da war der Kollege schon Richtung<br />
Berlin unterwegs. Ich bin ihm am nächsten<br />
Morgen gefolgt. Fragt bloß nicht wie früh.