29.10.2019 Aufrufe

Berliner Zeitung 28.10.2019

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 250 · M ontag, 28. Oktober 2019 3 **<br />

·························································································································································································································································································<br />

Wahl in Thüringen<br />

Triumph und Tränen: Während die SPD auf einen historischen Tiefstand absackte, feierte AfD-Spitzenkandidat BjörnHöckeden Erfolg seiner Partei (Mitte). Der Sieger des Abends Bodo Ramelow (rechtes Bild) freut sich mit seiner Ehefrau Germana Alberti vom Hofe. DPA (3)<br />

Einer der Ersten, die am<br />

Sonntag den Kopf durch<br />

die Tür des Thüringer<br />

Landtages steckten, war<br />

Dietmar Bartsch, derVorsitzende der<br />

Linksfraktion im Bundestag. Er<br />

strahlte. Und seine Worte spiegelten<br />

das Strahlen wider.Das Ergebnis der<br />

Thüringer Linken unter Führung<br />

von Bodo Ramelow sei „grandios“,<br />

sagte er.Ja, es sei„sensationell“. Erstmals<br />

sei die Linke stärkste Partei geworden.<br />

Und es gebe überhaupt<br />

keine andere Möglichkeit, als dass<br />

Ramelow Ministerpräsident bleibe.<br />

Landeschefin Susanne Hennig äußerte<br />

sich kurzdarauf ähnlich.Wiees<br />

weiter gehe,müsse man sehen, sagte<br />

sie.Esklang recht frohgemut.<br />

Ganz in der Nähe frohlockte<br />

auch die AfD,die trotz des rechtslastigen<br />

Partei- und Fraktionsvorsitzenden<br />

Björn Höcke noch vor der<br />

CDU auf Platz zwei landete. Unterdessen<br />

machten CDU, SPD und<br />

Grüne lange Gesichter, weil sie verloren<br />

hatten. „Tief durchatmen“,<br />

sagte die sichtlich konsternierte<br />

grüne Spitzenkandidatin Anja Siegesmund,<br />

als sie den Landtag betrat.<br />

Neben der Linken und der AfD<br />

freute sich lediglich die FDP,die anders<br />

als in Brandenburg und Sachsen<br />

darauf hoffen konnte,eswieder<br />

in den Landtag zu schaffen. Mit anderen<br />

Worten: Diesen Wahlabend<br />

auf einen Nenner zu bringen, ist unmöglich.<br />

Unterm Strich war das Ergebnis<br />

zweigeteilt.<br />

Die AfD will 50 Prozent<br />

Auf der einen Seite war da die AfD,<br />

deren Ergebnis alle anderen mehr<br />

oder weniger schockierte. Sie feierte<br />

in Erfurt ganz oben –ineiner Gaststätte<br />

mit Biergarten in schönster<br />

Hanglage. Und das, obwohl ihr Ergebnis<br />

auf den zweiten Blick gar<br />

nicht so gut ist, wie es auf den ersten<br />

Blick scheint. Zwar wurde die 20-<br />

Prozent-Marke deutlich übertroffen,<br />

die erhofften 25 Prozent wurden jedoch<br />

ebenso deutlich verfehlt. Für<br />

eine rauschende Feier war dennoch<br />

alles vorbereitet. Statt Mettigel und<br />

Bier gab es Carpaccio, Tomaten-<br />

Mozzarella-Salat und Prosecco.<br />

Denn das Hanglokal ist ein Italiener.<br />

Ausländischer Einfluss, wenn er europäisch<br />

und gehaltvoll ist, wirdhier<br />

gerne angenommen.<br />

Um mit Höcke zu feiern, waren<br />

alle nach Erfurt gekommen, die im<br />

unter Rechtsextremismus-Verdacht<br />

stehenden „Flügel“ und in der AfD<br />

des Ostens Rang und Namen haben:<br />

Parteichef Alexander Gauland, Brandenburgs<br />

Landeschef Andreas Kalbitz,<br />

Frank Pasemann, Bundesvorstandsmitglied<br />

aus Magdeburg. Aus<br />

Sachsen kamen Landeschef Jörg Urban<br />

und Tino Chrupalla, Wunschkandidat<br />

der Ostverbände auf die<br />

Gauland-Nachfolge. Im Publikum,<br />

neben den Thüringer Lokalgrößen,<br />

saßen einige junge Männer aus dem<br />

Dunstkreis der „Identitären Bewegung“,<br />

die beim Verfassungsschutz<br />

definitiv als rechtsextrem gilt.<br />

Die Koalitionsfrage wird kompliziert in Erfurt.<br />

Die Linkspartei unter Ministerpräsident Bodo Ramelow<br />

bleibt stark. Stark genug für eine Minderheitsregierung?<br />

Höcke und die Parteigrößen<br />

drängten sich Punkt 18 Uhr auf die<br />

kleine Bühne im Wintergarten.<br />

„Heute vollenden wir die Wende“,<br />

rief der Höcke-Vertraute und Bundestagsabgeordnete<br />

Jürgen Pohl.<br />

Höcke jubelte kaum, als die 24 Prozent<br />

der ersten Prognose über den<br />

Fernseher flimmerten. Vielmehr beschwerte<br />

er sich über die Kritik an<br />

ihm. „Noch nie wurden ein Kandidat<br />

und eine Partei so diffamiert“, sagte<br />

Höcke.Über dasWahlergebnis verlor<br />

er kaum ein Wort, sondern schaute<br />

weit nach vorn. „Das nächste Mal<br />

holen wir die absolute Mehrheit“,<br />

rief der Mann, vor dem sich weite<br />

Teile der Republik fürchten.<br />

Am schärfsten war unterdessen<br />

nicht Höcke, sondern der wahre<br />

Chef des „Flügels“, Andreas Kalbitz.<br />

Er rief: „Wir jagen dieses inländerfeindliche<br />

Establishment. Auch im<br />

Westen holen wir uns die Stimmen,<br />

die wir brauchen.“ Partei-Senior<br />

Gauland nutzte den knappen Vorsprung<br />

der AfD vor der geschwächten<br />

CDU, um gegen die Konservativen<br />

zutreten. „Die CDU muss sich<br />

überlegen, ob sie weiter mit Sozial-<br />

Was<br />

geht<br />

VonMarkus Decker und JanSternberg<br />

Landtagswahlen in Thüringen<br />

an 100 %fehlend =andere Parteien, ARD-Hochrechnung 23.02 Uhr<br />

45,4 42,6<br />

29,6<br />

51,0<br />

22,8<br />

21,3<br />

16,6<br />

18,5<br />

9,7<br />

9,3 4,5<br />

6,5 1,9<br />

3,2<br />

1,1<br />

1990 1994 1999<br />

43,0<br />

26,1<br />

14,5<br />

4,5<br />

3,6<br />

2004<br />

31,2<br />

27,4<br />

18,5<br />

7,6<br />

6,2<br />

2009<br />

33,5<br />

28,2<br />

12,4<br />

demokraten und Grünen zusammenarbeiten<br />

oder mit der einzig<br />

wahren Volkspartei regieren will –<br />

der AfD“, sagte er.<br />

Die Realität ist den AfD-Größen<br />

im Ristorante nicht genug. Wieder<br />

einmal zweitstärkste Kraft, wieder<br />

einmal keine Regierungsoption, davon<br />

kann man sich nichts kaufen.<br />

Dasweiß auch Sachsen-Chef Urban.<br />

„Eine Regierungsbeteiligung gibt es<br />

für uns nur, wenn wir deutlich<br />

stärkste Kraft werden“, sagte er.Gauland<br />

gab als Fernziel aus: „50,1 Prozent<br />

für die AfD“, also die absolute<br />

Mehrheit. Das, so glauben hier viele,<br />

wärenur mit einer radikalen Höcke-<br />

Linie zu erreichen.<br />

Aufder anderen Seite,jenseits der<br />

AfD stehen alle anderen Parteien, die<br />

mit dem Wahlergebnis irgendwie<br />

umgehen müssen. Leicht wird das<br />

nicht. In Thüringen ist guter Ratjetzt<br />

ziemlich teuer.<br />

Klar,zunächst zieht jede Partei für<br />

sich allein Bilanz. Bodo Ramelow<br />

darf sich als Winfried Kretschmann<br />

des Ostens fühlen –als einer, der es<br />

2014 als erster Linker überhaupt vermochte,<br />

Ministerpräsident zu wer-<br />

10,6<br />

5,7<br />

2,5<br />

2014 2019<br />

31,0 %<br />

23,4 %<br />

21,8 %<br />

8,2 %<br />

5,2 %<br />

5,0 %<br />

BLZ/GALANTY; QUELLE: LANDESWAHLLEITER<br />

den und der es in den fünf folgenden<br />

Jahren überdies vermochte, anPopularität<br />

noch zuzulegen, um diese<br />

Popularität auf die Mühlen seiner<br />

Partei zu lenken. Die Stimmung bei<br />

der linken Wahlparty war denn auch<br />

enthusiastisch. So viel zu feiern hat<br />

die Partei sonst nie. Neben Bartsch<br />

war Parteichefin Katja Kipping im<br />

ICE nach Erfurtgekommen.<br />

Die Sozialdemokraten sind in<br />

Thüringen ohnehin ziemlich ernüchtert;<br />

mit großen Erfolgen rechnen<br />

sie da schon lange nicht mehr.<br />

Anders als die Grünen, die nach<br />

Brandenburgund Sachsen die dritte<br />

unerwartete Schlappe hinnehmen<br />

mussten und sogar um den Einzug in<br />

den Landtag bangten. Dergrüne Höhenflug<br />

ist fraglos vorüber. Die<br />

Bäume wachsen nicht in den Himmel.<br />

Die CDU unter ihrem Spitzenmann<br />

Mohring muss sich schließlich<br />

fragen, woran es liegt, dass sie von<br />

der absoluten Mehrheit früherer<br />

Tage weiter entfernt ist denn je.<br />

Allesamt stehen sie seit Sonntagabend<br />

vordem Problem, eine Regierung<br />

bilden oder sie aus nachvollziehbaren<br />

Gründen ablehnen zu<br />

müssen. Das wird schwer – auch<br />

wenn Mohring am Sonntagabend<br />

sagte: „Die Regierung Ramelow ist<br />

abgewählt worden.“<br />

Klar ist, was nicht geht. Wasnicht<br />

geht, ist die Fortsetzung von Rot-<br />

Rot-Grün –auch wenn alle drei Parteien<br />

das anstrebten. Dazu fehlt die<br />

Mehrheit. Wasgenauso wenig geht,<br />

ist die nach den Nationalfarben des<br />

afrikanischen Staates benannte<br />

„Simbabwe“-Koalition aus CDU,<br />

SPD,Grünen und FDP.Dazu sind alle<br />

vier Parteien zu schwach.<br />

Denkbar ist hingegen eine rotrot-grüne<br />

Minderheitsregierung mit<br />

Ramelow ander Spitze. Sie müsste<br />

sich für den nächsten Haushalt oder<br />

bestimmte Gesetze jeweils die Unterstützung<br />

anderer Parteien suchen.<br />

Denkbar waren am Sonntagabend<br />

ebenfalls die Erweiterung von<br />

Rot-Rot-Grün um die FDP oder ein<br />

Bündnis aus Linker und CDU. Die<br />

erste Variante schloss am Sonntag<br />

aber der FDP-Vorsitzende Christian<br />

Lindner aus, die zweite Variante<br />

CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak.<br />

Gewiss ist damit lediglich, dass<br />

sich Ramelow trotz Verlusts der<br />

Mehrheit in einer relativ komfortablen<br />

Situation befindet. Das hängt<br />

mit seiner Popularität zusammen.<br />

Ramelow sei „eine Nummer geworden“,<br />

sagte Bartsch am Sonntag.<br />

Hinzu kommt die Landesverfassung,<br />

deren Artikel 75 lautet: „Der Ministerpräsident<br />

und auf sein Ersuchen<br />

die Minister sind verpflichtet, die<br />

Geschäfte bis zum Amtsantritt ihrer<br />

Nachfolger fortzuführen.“ Diese Verfassung<br />

stärkt den Amtsinhaber<br />

enorm.<br />

Keine Frist für Regierungsbildung<br />

Ramelow hatte darauf erst kürzlich<br />

gegenüber der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong><br />

(Redaktionsnetzwerk Deutschland)<br />

hingewiesen, als er sagte: „Es gibt bei<br />

uns keine Vorschrift, in welcher Frist<br />

der Ministerpräsident gewählt werden<br />

muss, sondern der Ministerpräsident<br />

wirddann gewählt, wenn eine<br />

Fraktion den Antrag dazu stellt.“<br />

Eine nach der Wahl einstweilen weiter<br />

amtierende Landesregierung sei<br />

darum „auch keine Minderheitsregierung<br />

oder eine geschäftsführende<br />

Regierung“, sondern „einfach die<br />

Landesregierung“, fuhr Ramelow<br />

fort. DerHaushalt für 2020 ist bereits<br />

beschlossen. Der Regierungschef<br />

hätte unter anderem aus diesem<br />

Grundvor allem eines: Zeit.<br />

In der Linken hat das Modell einer<br />

Minderheitsregierung einige Sympathisanten,<br />

wie am Sonntag verlautete.<br />

Verwunderlich ist das nicht.<br />

Schließlich wollen sie ihren bundesweit<br />

bisher einzigen Ministerpräsidenten<br />

nicht verlieren. Erst mal<br />

werdeinder Regierung alles bleiben,<br />

wie es ist, hieß es. Ganz nach dem<br />

Motto: Erst schaun mer mal, und<br />

dann seh’n mer schon.<br />

Man sieht: In Thüringen geht es<br />

spannend zu. Und nach der Wahl<br />

wird esvielleicht noch spannender<br />

als vorher.<br />

IN KÜRZE<br />

Feueralarm.<br />

Zwei Feuer-Fehlalarme im Rathaus<br />

vonErfurthaben die Stimmenauszählung<br />

verzögert. Nach Angaben<br />

vonLandeswahlleiter und Feuerwehr<br />

hatte die automatische Meldeanlage<br />

erst gegen 20.00 Uhrund<br />

dann noch einmal gegen 21.45 Uhr<br />

angeschlagen. DieFeuerwehr rückte<br />

an, gab aber in beiden Fällen Entwarnung.<br />

Sollte die CDU eine Koalition<br />

mit der Linkspartei weiter ausschließen?<br />

in Prozent<br />

Weiter ausschließen<br />

Neu entscheiden<br />

Alle Wähler<br />

CDU-Wähler<br />

Erstwähler.<br />

Unter den 1,7 Millionen Wahlberechtigten<br />

waren auch rund 75 000<br />

Thüringer,die zum ersten Malwählen<br />

konnten.<br />

Olympiasieger verliert.<br />

Biathlon-Olympiasieger Frank Ullrich<br />

hat bei der Landtagswahl in<br />

Thüringen am Sonntag als SPD-Direktkandidat<br />

knapp gegen den AfD-<br />

Bewerber René Aust verloren. Aust<br />

erreichte im Südthüringer Wahlkreis<br />

Schmalkalden-Meiningen II 24,2<br />

Prozent und lag damit 220 Stimmen<br />

vorUllrich, der auf 23,3 Prozent kam.<br />

Tiefensee.<br />

Thüringens SPD-VorsitzenderWolfgang<br />

Tiefensee hat personelle Konsequenzen<br />

in der Führung seiner Partei<br />

ausgeschlossen.„Nein, das sehe ich<br />

nicht“, sagte er.Die SPD sei imWahlkampf<br />

in einzigartigerWeise geschlossen<br />

aufgetreten. Nungelte es,<br />

mit dem vorhandenen Team die Landespartei<br />

ebenso wie die Bundespartei<br />

wieder aus dem Talzuführen.<br />

Thüringen Wählerwanderung<br />

der Nichtwähler (200 000) zu:<br />

14 000<br />

13 000<br />

4000<br />

4000<br />

25<br />

28<br />

33 000<br />

47 000<br />

80 000 AfD<br />

Linke<br />

CDU<br />

SPD<br />

FDP<br />

69<br />

68<br />

BLZ/HECHER; QUELLE: INFRATEST DIMAP<br />

Grüne<br />

Andere<br />

BLZ/HECHER; QUELLE: INFRATEST DIMAP

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!