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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 264 · M ittwoch, 13. November 2019 – S eite 21<br />
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Feuilleton<br />
Matthias Thalheim<br />
gratuliertBarbara<br />
Plensat zum 80.<br />
Seite 23<br />
„Vielleicht darf man bald von Liebe sprechen.“<br />
Clemens Haustein über die Staatskapelle unter Daniel Barenboim Seite 22<br />
Erinnerung<br />
Cannes,<br />
1939<br />
Susanne Lenz<br />
über ein Festival,<br />
das nie stattgefunden hat<br />
Erinnerung kann vielerlei Form<br />
annehmen. Eine ist das Reenactment<br />
historischer Ereignisse,hierzulande<br />
kennt man es in Form des<br />
Nachstellens bedeutender Schlachten<br />
wie etwa der Völkerschlacht bei<br />
Leipzig von 1813. Vorein paar Tagen<br />
haben in den USA 400 Menschen<br />
den Sklavenaufstand von 1811 an<br />
der German Coast nicht weit von<br />
New Orleans nachgestellt – Befragung<br />
der Gegenwart mittels des<br />
Rückgriffs auf die Geschichte.<br />
In Orléans, Frankreich, wird seit<br />
Montag ein Ereignis nachgestellt,<br />
oder besser gesagt nachgeholt, das<br />
nie stattgefunden hat: das erste<br />
Filmfestival von Cannes im Jahr<br />
1939. Es hätte am 1. September beginnen<br />
sollen, an dem Tag, an dem<br />
Nazi-Deutschland Polen überfiel.<br />
Der Krieg verhinderte das Festival.<br />
Dabei waren die Filme schon ausgewählt<br />
–Hollywood schickte „Mister<br />
Smith goes to Washington“ von<br />
Frank Capra, „Only Angels have<br />
Wings“ vonHowardHawks und „Pacific<br />
Express“ von Cecil B. De Mille.<br />
Es war die Jury besetzt, die Poster<br />
waren gedruckt. Und Gary Cooper,<br />
Gary Grant, Spencer Tracy hatten<br />
längst den von Metro-Goldwin-Mayergecharterten<br />
Dampfer bestiegen,<br />
der sie zur Croisette bringen sollte.<br />
Cannes sollte ein Festival der „freien<br />
Nationen“ gegen den Faschismus<br />
sein, ein Symbol gegen die Mostra<br />
vonVenedig, wo seit 1934 die Coppa<br />
Mussolini verliehen wurde.<br />
Warum nun, 80 Jahre später,<br />
Orléans und nicht Cannes? Orléans<br />
ist die Geburtsstadt von Jean Zay,<br />
Jude, seit 1936 der Minister für Bildung<br />
und die schönen Künste in<br />
Frankreich. Er ist der Gründer von<br />
Cannes, 1940 wurde er von der mit<br />
den Nazis kollaborierenden Vichy-<br />
Regierung verhaftet, am 20. Juni<br />
1944 aus seiner Zelle geholt und in<br />
einem Wald hingerichtet, da waren<br />
die Alliierten schon in der Normandie<br />
gelandet.<br />
Daserste Festival vonCannes hat<br />
im Jahr 1946 stattgefunden, ohne<br />
seinen Begründer.<br />
Benzingetränkte Männlichkeit<br />
James Mangolds Rekonstruktion des Rennstallduells zwischen Ford und Ferrari in den 1960er-Jahren<br />
VonPhilipp Bühler<br />
Sportlich betrachtet, ist das<br />
Kino ein Langstreckenrennen.<br />
Viele schrauben am Erfolg,<br />
nur wenige fahren<br />
Siege ein. Stars verbrennen auf halber<br />
Strecke,anderegewinnen höchstens<br />
mal nach Punkten. Ob die Leute<br />
einen noch wollen, ist schon gar<br />
nicht klar. Videospiele bieten so<br />
manchem denselben Thrill, das<br />
Spektakel findet zuhause statt, ist ja<br />
auch ökologischer. Aber der Fahrer<br />
kann einfach nicht anders, erfährt<br />
weiter im Kreis, treibt die Drehzahl<br />
nochmal ganz nach oben. Weil es so<br />
schön röhrt. Brumm!<br />
„Le Mans 66“ ist ein Rennfahrerfilm,<br />
also verpflichtet zu großem<br />
Kino, und versucht es mit glanzvollen<br />
Namen, schraubt eifrig an Legenden.<br />
Die Rennstallkonkurrenz zwischen<br />
Ford und Ferrari Mitte der<br />
1960er-Jahre ist sporthistorisch eine<br />
kleine Nummer,aber die Geschichte<br />
dahinter reizvoll. Kein anderer als<br />
die jüngst verstorbene Managerlegende<br />
Lee Iacocca gab seinem Chef<br />
Henry Ford II. damals den Rat, die<br />
Generation der Baby Boomer mit<br />
rassigen Sportwagen zu versorgen.<br />
Der Ford Mustang war das erste Resultat.<br />
Doch das Nonplusultra blieb<br />
Ferrari. DemAlten schwebte vor, den<br />
Laden einfach aufzukaufen.<br />
Eine Frage der Ehre<br />
Der Besuch im italienischen Maranello<br />
liefert schon die schönste<br />
Szene. Enzo Ferrari, ein schweigsamer<br />
Padrone mit allen Insignien der<br />
Italianità –Anzug, Sonnenbrille und<br />
jede Menge Espresso –, hört sich die<br />
Vorschläge Iacoccas wortlos an. Als<br />
ihm klar wird, dass auch sein Rennstall<br />
und die Teilnahme am berühmten<br />
24-Stunden-Rennen von Le<br />
Mans auf dem Spiel steht, bricht er<br />
ab. Die Amerikaner hätten seine<br />
Ehre zutiefst verletzt, als Konstrukteur,als<br />
Italiener und als Mann! Kein<br />
Zweifel: Ford und Ferrari, das sind<br />
zwei Unternehmenskulturen, die nie<br />
und nimmer zusammengehören.<br />
Tatsächlich liefert Regisseur<br />
James Mangold („Walk the Line“)<br />
eine interessante Mischung aus Industriegeschichte<br />
und Sportfilm, die<br />
sich mit der Exposition gehörig Zeit<br />
lässt. Darin sieht man den berühmten<br />
US-Konstrukteur Carroll Shelby<br />
Der Ford-Konstrukteur (Matt Damon) und sein Fahrer (Ken Miles).<br />
und den vonihm auserkorenen FahrerKen<br />
Miles bei der Entwicklung ihres<br />
neuen Prototyps, des Ford GT40.<br />
Über weite Strecken ist es ein Film<br />
für Mechaniker –den etatmäßigen<br />
Star Christian Bale als Miles sieht<br />
man häufiger unter seinem Wagen<br />
als am Steuer. Drehzahl, Radstand<br />
oder die Schweredes Motors sind die<br />
Themen. Für den dramaturgischen<br />
Bogen wird Miles als ungestümer<br />
TWENTIETH CENTURY FOX<br />
Typgezeichnet, der mit den Hierarchien<br />
des Konzerns über Kreuz liegt.<br />
Er sei kein Ford-Mann, sagen die arroganten<br />
Schlipsträger. Er ist der<br />
Beste, beharrt Shelby, mit gewohntem<br />
Checkergrinsen verkörpert von<br />
Matt Damon. DasRennen von„Ford<br />
versus Ferrari“ ist da längst ein Wettkampf<br />
„Fordversus Ford“.<br />
Mangolds Leistung besteht darin,<br />
in diesem nicht per se aufregenden<br />
Vorlauf die Spannung zu halten.<br />
Wusste doch schon Steve McQueen:<br />
„Rennen ist das Leben. Alles davor<br />
oder danach ist bloß Warten“. Im<br />
Kultfilm„Le Mans“ von1971 war das,<br />
viel mehr sagte er nicht. Lee H. Katzins<br />
halbdokumentarische Rennfahrerelegie<br />
hatte kaum Dialoge und<br />
streng genommen keine Handlung.<br />
Das legendäre Rennen durch die<br />
Nacht, ein paar flotte Flitzer und<br />
McQueens Starpower waren mehr<br />
als genug. „Le Mans 66“ ist demnach<br />
auch kein Remake. Doch vergleicht<br />
man die beiden Filme, stellt man<br />
fest, wie sehr das heutige Kino sich<br />
anstrengen muss, umdieser Magie<br />
mit viel aufwendigeren Mitteln zumindest<br />
nahezukommen.<br />
Zum Finale aber hat der Film<br />
seine Pferde am Start. Miles fährt<br />
nicht nur schnell, unterstützt voneiner<br />
erwartbar glanzvollen Rennchoreographie.<br />
Erfährt den Wagen, den<br />
er selbst gebaut hat. Mensch und<br />
Maschine sind eins.Wie es da rattert<br />
und röhrt unter seinem Sitz, glaubt<br />
man jede Schraube selbst zu spüren<br />
– und betet, dass sie hält. Zuletzt<br />
hatte man diese Intensität in Damien<br />
Chazelles Mondfahrtepos<br />
„First Man“. Auch da ging es um die<br />
Konstruktion der besten Maschine,<br />
mit der ständigen Gefahr tödlichen<br />
Scheiterns. Die 24 Stunden von Le<br />
Mans des Jahres 1966 sind Miles’persönliche<br />
Mondlandung –mit einem<br />
allerdings noch kurioseren Ausgang,<br />
hier nicht verraten, aber historisch<br />
verbürgt.<br />
Abgesang auf das Autozeitalter<br />
Mangold ist nicht blind für den höheren<br />
Blödsinn eines lebensgefährlichen<br />
und ökologisch kaum mehr<br />
vertretbaren Sports. Zwischen verständlicher<br />
Glorifizierung –esgeht<br />
hier um Autos, die noch als Fetische<br />
taugen –und stiller Kritik bemüht er<br />
sich um eine gewisse Äquidistanz.<br />
Mankann also alles darin sehen: ein<br />
letztes Aufbäumen benzingetränkter<br />
Männlichkeit, oder einen würdevoll<br />
röhrenden Abgesang auf das Autozeitalter.<br />
Injedem Fall ist es intelligente<br />
Unterhaltung, und allemal<br />
besser als ein Videospiel.<br />
Le Mans66–Gegen jedeChance USA, Frankreich<br />
2019. Regie:James Mangold, Darsteller:<br />
Christian Bale, Matt Damon, CaitrionaBalfe u.a.;<br />
152Min., Farbe. FSKab12.<br />
NACHRICHTEN<br />
Tate Modernund Museum<br />
Ludwig planen Warhol-Schau<br />
Im kommenden Jahr widmet das<br />
Kölner Museum Ludwig zusammen<br />
mit der Tate ModerninLondon Andy<br />
Warhol eine große Retrospektive. Zu<br />
sehen sind mehr als 100 Werke, darunter<br />
seine berühmten Darstellungen<br />
vonMarilyn Monroe,Coca-<br />
Cola-Flaschen und Campbell-Suppen-Konserven,<br />
die der amerikanischen<br />
Kultur einen Spiegel<br />
vorhalten. Gleichzeitig soll das Bild<br />
des Künstlers aber auch auf der<br />
Grundlage neuer Forschungserkenntnisse<br />
erweitertwerden. So<br />
wirddie Bedeutung seiner Mutter<br />
herausgestellt, die aus der heutigen<br />
Slowakei in die USA eingewandert<br />
war;ihr fühlte sich Warhol innig verbunden.<br />
Auch seine Homosexualität<br />
soll ein wichtiges Thema der Ausstellung<br />
sein. DieSchau läuft vom10.<br />
Oktober 2020 bis zum 21. Februar<br />
2021 im Museum Ludwig. (dpa)<br />
Städel Museum zeigt<br />
deutsche Zeichnungen<br />
Blick in einen der Ausstellungsräume im<br />
Städel Museum<br />
STÄDEL MUSEUM<br />
Einen Einblick in seinen umfangreichen<br />
Bestand an deutschen Zeichnungen<br />
des 20. Jahrhunderts gibt<br />
vonMittwoch an das Städel Museum<br />
in Frankfurt. DieAusstellung „Große<br />
Realistik und große Abstraktion“<br />
präsentiertrund 100 Arbeiten aus<br />
den Jahren 1910 bis 1989/90. Die<br />
chronologisch angeordnete Werkschau<br />
zeigt, wie sich die Zeichnung<br />
ihreStellung als eigenständiges Medium<br />
erarbeitet hat. Zu sehen sind<br />
wegweisende Blätter unter anderem<br />
vonMax Beckmann, Ernst Ludwig<br />
Kirchner,Emil Nolde,Paul Klee,GerhardRichter,Sigmar<br />
Polke oder Anselm<br />
Kiefer. (dpa)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Maulfeil<br />
Kritik des<br />
Semikolons<br />
VonUte Cohen<br />
Amerikanischen Serien kann man so einiges<br />
vorwerfen: ein hohes Suchtpotenzial,<br />
Gewaltexzesse und Volksverblödung.<br />
Sprachkritik ist so ziemlich der letzte Begriff,<br />
der einem bei Streaming-Kanälen in den<br />
Sinn kommt, und doch ist es die zweite Staffel<br />
des Netflix-Hits „13 Reasons why“, die zur<br />
Rettung eines Satzzeichens beiträgt.<br />
Clay,eine der Hauptfiguren, lässt sich ein<br />
Tattoo in Form eines Semikolons stechen.<br />
Dasmag als exzentrischer Hautschmuck-Fetisch<br />
gewertet werden, allerdings wäredas zu<br />
kurz gegriffen, denn der Filmcast zog nach.<br />
Seither ziert das Satzzeichen die Körperteile<br />
zahlreicher Seriendarsteller. DaWirklichkeit<br />
nicht selten die Fiktion übertrifft, findet sich<br />
im Real Life tatsächlich ein Vorbild für die<br />
körperliche Verbreitung des Strichpunkts.<br />
2013 erkor das sogenannte „Project Semicolon“<br />
das Satzzeichen zu seinem Signet. Die<br />
Non-Profit-Organisation möchte Selbstmordgefährdeten<br />
und von Depression und<br />
Angstzuständen heimgesuchten Menschen<br />
Mut machen. Die Gründerin der Bewegung,<br />
Amy Bleuel, formuliert das so: Das Semikolon<br />
stehe„für einen Satz, den der Autor beenden<br />
könnte,aber sich dazu entschieden hat,<br />
es nicht zu tun. Dieser Autor bist du –und der<br />
Satz ist dein Leben.“ Dasist ein kleines linguistisches<br />
Wunder, denn dem Semikolon<br />
schien das gleiche Schicksal beschieden wie<br />
dem Jangtse-Glattschweinwal: das ewige<br />
Nichts. Bestenfalls vegetiert es noch als<br />
Zwinker-Smiley dahin. ;-)<br />
Seinem noblen Charakter und der<br />
sprachmächtigen Wirkung wirddie graphische<br />
Umwandlung jedoch nicht gerecht.<br />
DasSemikolon ist nämlich ein Satzzeichen<br />
KARL BURKHARD TIMM<br />
für den mündigen Sprachbürger; man<br />
kann es setzen, ist aber nicht dazu gezwungen.<br />
Es ist der Inbegriff gewählter und geformter<br />
Flexibilität und dadurch so quicklebendig<br />
wie das Leben. Es ist stärker als<br />
das Komma, aber schwächer als der Punkt<br />
und fordert dem Setzenden ein gerüttelt<br />
Maß anÜberlegung ab, dem Leser hingegen<br />
erleichtert esdie Lektüre ungemein.<br />
Wer ist nicht schon an den fatalen Punkt<br />
gelangt, nicht weitermachen zu wollen,<br />
nicht weitermachen zu können? Und dann<br />
taucht da am Horizont dieses Semikolon<br />
auf, das uns bedeutet: Hey, diese Pause sei<br />
dir vergönnt. Es muss nicht immer alles<br />
fließen oder mit einem Paukenschlag zum<br />
Schweigen gebracht werden.<br />
Das Semikolon hilft uns beim Aufatmen,<br />
durchatmen, rhythmisiert und strukturiert,<br />
bevor es zu spät ist. Dasliegt auch an seinem<br />
anarchischen Charakter. Es scheint weder<br />
Fisch noch Fleisch zu sein, setzt sich aus einem<br />
lateinischen Bestandteil (semi: „halb“)<br />
und einem griechischen (colon: „Glied“ einer<br />
Satzperiode) zusammen, und selbst der<br />
Duden erlaubt ihm verschiedene Pluralbildungen.<br />
So streift es in der Mehrzahl als Semikola<br />
und Semikolons durch die Gegend.<br />
Im Griechischen gar stellt es die Fragen,<br />
während ein hochgesetzter Punkt sein Stellvertreter<br />
ist. Demokratisch und teamfähig,<br />
musikalisch und formbewusst –ein Satzzeichen<br />
wahrlich zum Verlieben!<br />
Unter die Haut geht uns der Strichpunkt<br />
ohnehin, ob wir ihn mit blauer Tinte unter<br />
der Epidermis verewigen wollen, ist aber<br />
eine andere Frage. Bazon Brock, der Philosoph<br />
und Denker, meint dazu: „Wer sich tätowiert,<br />
ist ein Faschist.“ Unddas wollen wir<br />
unserem geliebten „Strichpünctleyn“, wie<br />
man imBarock zusagen pflegte, doch weiß<br />
Gott nicht antun.