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Berliner Zeitung 25.11.2019

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10 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 274 · M ontag, 25. November 2019<br />

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Stadtgeschichte<br />

Das Gedächtnis Berlins<br />

Im Depot des Stadtmuseums lagern Millionen Objekte, die Geschichten erzählen. Ein Besuch in Spandau<br />

Elektrifizierung der Hauswirtschaft:<br />

Teppichkehrmaschinen<br />

Ein Exemplar der legendären Wellenbadschaukel<br />

Sammlungsleiter Peter Matuschek<br />

mit einer Vorformdes Rollators<br />

VonMaritta Tkalec<br />

Jedem <strong>Berliner</strong> sein Wellenbad,<br />

eine Art Whirlpool für die<br />

Mietskasernen – das war um<br />

1900 keine Utopie, sondern<br />

eine Frage von 42Reichsmark. Für<br />

diesen Preis gab es die Wellenbadschaukel<br />

aus verzinktem Blech und<br />

hölzernen, am gewölbtem Boden<br />

angebrachten Leisten. Sie war so<br />

handlich und leicht, dass sie sich gut<br />

auf einem Hängeboden oberhalb<br />

der Wohnungstür im Flur verstauen<br />

ließ. Hygiene mit Spaß also.<br />

Undwer hat’s erfunden? Der<strong>Berliner</strong><br />

Klempner Carl Dittmann konstruierte<br />

den Badeapparat 1889, gebaut<br />

hat ihn die Firma Moosdorf &<br />

Hochhäuser in Treptow. Siewarb mit<br />

dem Spruch „Bade zu Hause“ und<br />

verkaufte etwa 100 000 Exemplare.<br />

In der Gebrauchsanleitung hieß<br />

es: „Man fülle die Schaukel mit 2–4<br />

Eimer Wasser, setze sich möglichst<br />

hoch in die Rückenlehne derselben<br />

und halte sich mit beiden Händen an<br />

dem oberen Wulst; durch Anziehen<br />

und Strecken der Beine erzeugt man<br />

das Schaukeln und erzielt nach aufgewendeter<br />

Energie bis 12 Sturzwellen<br />

in der Minute, die sich brausend<br />

über den Körper ergießen.“<br />

So viel Berlin in einem Objekt.<br />

Kein Wunder, dass die Wellenbadschaukel<br />

zu den Lieblingsstücken<br />

von Peter Matuschek gehört, dem<br />

Leiter der Sammlung Alltagskultur<br />

des Stadtmuseums. Etwa 69 000 Objekte<br />

befinden sich in seiner Obhut –<br />

nur ein Bruchteil der etwa vier Millionen<br />

Stücke, die insgesamt im<br />

Spandauer Depot des Stadtmuseums<br />

lagern –in16Sammlungsbereichen<br />

von Skulptur über Mode bis<br />

Fotografie. Wobei die geschätzte<br />

Zahl vier Millionen wohl zu niedrig<br />

liegt, denn ein Tafelservice mit 98<br />

Teilen schlägt als ein Objekt zu Buche,<br />

ebenso wie die Spielzeugkiste<br />

mit Dutzenden Pferdchen, Wägelchen<br />

oder Püppchen.<br />

Nunsteckt das Museum mitten in<br />

der Riesenarbeit der Digitalisierung<br />

der Sammlungsbestände. Ein Nebeneffekt<br />

der digitalen Erschließung<br />

und der daraus folgenden Öffnung<br />

der Bestände für das Publikum wird<br />

deren genauereErfassung sein.<br />

Eierschränkchen und Bordell<br />

Symbol bürgerlichen Wohlstands: noble Teile der Lampensammlung CHRISTIAN SCHULZE (7)<br />

Lauter Schatzkammern verbergen<br />

sich hinter den feuersicheren Türen<br />

des Gebäudes in Spandau, das 1928<br />

als Kabelwerk errichtet wurde und<br />

seit 2010 fast alle bis dahin über Berlin<br />

verstreut gelagerten Kulturgegenstände<br />

der Stiftung Stadtmuseum<br />

vereinigt. Irina Tlusteck, Sammlungskuratorin<br />

für Keramik, übertreibt<br />

also keineswegs,wenn sie sagt:<br />

„Wir sind das Gedächtnis der Stadt.“<br />

Nur der geringste Teil dieser<br />

Schätzekann ausgestellt werden, für<br />

Dauer- und Sonderausstellungen<br />

wählen die Kuratoren die jeweils<br />

aussagestärksten Stück aus, solche,<br />

die Geschichten und Geschichte erzählen.<br />

So wie die Eierschränkchen,<br />

in denen Familien ihreLebensmittel<br />

vor der Kühlschrankzeit hinter luftigen<br />

Gazetüren und -wänden rattenund<br />

mäusesicher lagerten. Oder die<br />

Kronleuchter der Bürgerfamilien.<br />

Oder die sparsam bekleidete Frauenfigur,<br />

die Peter Matuschek vor ein<br />

paar Jahren voneinem Schutthaufen<br />

in der Schönhauser Allee barg. Dort<br />

räumten Arbeiter gerade ein ehemaliges<br />

Bordell aus.„Ichhabe immer einen<br />

Beutel dabei“, sagt der Sammlungsleiter,<br />

der als Museologe seit<br />

1986 dabei ist.<br />

Sammelleidenschaft gehört also<br />

dazu. Andererseits betonen die Museumsmitarbeiter,<br />

dass man privat<br />

auf Sammelei verzichten soll –wegen<br />

möglicher Interessenkonflikte.<br />

Diese Regel haben sie seit dem Studium<br />

verinnerlicht. Auf Suche nach<br />

Objekten für ihrestädtischen Sammlungen<br />

befinden sie sich gleichwohl<br />

immer. Heike-Katrin Remus ist für<br />

die mehr als 70 000 Objekte (plus Fotos)<br />

umfassende Textiliensammlung<br />

zuständig. Sie spricht von kriminalistischem<br />

Gespür beim Auffinden<br />

der Geschichten hinter den Stücken:<br />

„Man muss den Faden finden, den<br />

man spinnen kann.“ Undsie spricht<br />

vom Gänsehautmoment, wenn eine<br />

Entdeckung geglückt ist.<br />

Das Glück, die Sammlung zu bereichern,<br />

bemisst sich allerdings<br />

nicht am materiellen Wert: Zeitgeschichtlich<br />

wertvoll ist etwa das Kostüm<br />

eines Jungen aus türkischer Familie,das<br />

er am Tagseiner Beschneidung<br />

trug: billig, teils aus Papier,<br />

nutzlos nach dem einen großen Tag.<br />

Auch solche Stücke gehören zu<br />

Berlin. Wie das Wäscherollbrett aus<br />

dem Haushalt der Bismarcks. Oder<br />

eine kleine Handarbeit der Königin<br />

Luise, die sie einer ihrer Kammerzofen<br />

überließ. Oder der um das Jahr<br />

1970 selbstgenähte Bananenrock einer<br />

Ost-<strong>Berliner</strong>in.<br />

Wenn es um das Geschichte-Erzählen<br />

geht, stehen solche Dinge im<br />

Rang neben einem Gemälde des<br />

Norwegers Malers Edvard Munch,<br />

der in Berlin als Wegbereiter des Expressionismus<br />

seinen Durchbruch<br />

feierte und dessen Gemälde im Wert<br />

in Millionen Euro bemessenen wird.<br />

Solche Solitäre und die Vielfalt<br />

des scheinbar Banalen – wie die<br />

weltgrößte Sammlung elektrischer<br />

Zigarettenanzünder –gehören in einem<br />

Stadtmuseum zusammen. Leider<br />

hat das Märkische Museum über<br />

die Jahrzehnte seinen anfänglichen<br />

Charakter als Bürgerinitiative eingebüßt.<br />

Als es 1874 durch eine Initiative<br />

der <strong>Berliner</strong> Bürgerschaft gegründet<br />

wurde, legten Bürgerinnen<br />

und Bürger den Grundstock der<br />

Sammlungen an und bereicherten<br />

diese fortwährend. Sie wollten die<br />

Geschichtszeugnisse des alten Berlins<br />

sammeln, bewahren und der Öffentlichkeit<br />

zugänglich machen.<br />

Auch wenn die Bindung gegenwärtig<br />

loser ist –die Spendenfreude<br />

blieb. Heute setzt regelmäßig ein<br />

Schenkungsfluss im Zusammenhang<br />

mit Ausstellungen ein. Zurzeit<br />

kommen vor allem Objekte aus den<br />

1980ern, oft vonFrauen, die ihr Haus<br />

aufräumen oder fürchten, die Kinder<br />

würden Dinge nicht wertschätzen<br />

und wegwerfen. Kürzlich meldete<br />

sich ein Sammler vonPVC-Objekten<br />

–ins Museumsdepot schaffte es unter<br />

anderem eine Schürze.<br />

Steuermittel für Neuaufkäufe,<br />

zum Beispiel bei Auktionen, stehen<br />

zwar zur Verfügung, müssen aber<br />

überlegt eingesetzt werden, zum<br />

Beispiel zum Schließen von Sammlungslücken.<br />

Klimawandel fürs Depot<br />

Über den Vergleich mit Eichhörnchen,<br />

die eifrig an der Maximierung<br />

ihrer geheimen Depots arbeiten,<br />

können die Museologen nur milde<br />

lächeln. Erstens, weil Eichhörnchen<br />

gelegentlich vergessen, wo sie etwas<br />

abgelegt haben. Zweitens, weil ein<br />

Museum nichts verbergen will. Immer<br />

wieder müssen Stücke ansLicht<br />

der Öffentlichkeit – immerhin hat<br />

das Stadtmuseum fünf Ausstellungsorte,<br />

und ab 2020 kommt noch eine<br />

im neuen Humboldt-Forum hinzu,<br />

der sich dem Austausch zwischen<br />

Berlin und der Welt widmen wird.<br />

Der allerneueste Zugang stammt<br />

aus einer noch längst nicht historisierten<br />

Geschichte.Erträgt vielmehr<br />

die Zukunft in sich: ein Plakat, das<br />

acht Jahre alte Mädchen der dritten<br />

Klasse einer <strong>Berliner</strong> Grundschule<br />

selbst gefertigt haben und mit dem<br />

sie dann zu einer „Fridays-for-Future“-Demonstration<br />

gezogen sind.<br />

Besonderes Detail: die Unterschrift<br />

desRegierenden Bürgermeisters Michael<br />

Müller. Das Plakat geht ein in<br />

die Sammlung von Transparenten<br />

solcher historischer Demos –wie der<br />

am Ende der DDR am 4. November<br />

1998 aufdem Alexanderplatz.<br />

Ausden Sammlungen zeigtdas Stadtmuseum<br />

regelmäßig dasObjektdes Monats.Für November:<br />

www.stadtmuseum.de/objekt-des-monats/eisenstuhl-karl-friedrich-schinkel<br />

Auf der Rückseite des Schildes steht<br />

zusammengeschrieben: Petristr.<br />

Ehrlich im Straßenverkehr:Taxameter<br />

verschiedener Ausführung<br />

Fund aus dem Schutt: Figur aus<br />

einem Bordell in der Schönhauser<br />

DAS IST<br />

DAS WAR<br />

DAS KOMMT<br />

Gegen das Vergessen<br />

Grüne Heyde<br />

1990 –das letzte Jahr<br />

Zwischen 1940 und 1944 beherbergte das heutige Seminar-<br />

und Verwaltungsgebäude der Hochschule für Wirtschaft<br />

und Recht (HWR) Berlin die Abteilung Kriegsgefangenenwesen<br />

des Oberkommandos der Wehrmacht.<br />

Die NS-Behörde erarbeitete hauptsächlich Richtlinien<br />

für die von den Nationalsozialisten betriebenen Kriegsgefangenenlager.<br />

Im Zuge der Aufarbeitung der Geschichte<br />

ihrer Gebäude wurde an diesem am 7. November<br />

eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Kriegsgefangenen<br />

angebracht.<br />

Gedenktafel-Tryptichon mit Informationen und Abbildungen,<br />

HWR-Gebäude, Badensche Str.50–51inSchöneberg<br />

Werschon alles im Gebiet von Grünheide sein Heil gesucht<br />

hat, dem eventuellen künftigen Standortdes Tesla-<br />

Werks. Um das Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung wanderte<br />

aus dem Balkanraum eine Gruppe Illyrer ein. In<br />

Fangschleuse fanden Archäologen ein Gräberfeld und am<br />

Peetzsee auch Überreste einer illyrischenTöpferwerkstatt.<br />

Um 500 v. u.Z. rückten Gruppen ein, die man später „Germanen“<br />

nannte. Sie hinterließen ein Gräberfeld bei Sieverslake.Wiederum<br />

tausend Jahrespäter besiedelten Slawen<br />

das seenreiche Gebiet –Orts- und Flurnamen wie<br />

Löcknitz oder Dämeritzsee zeugen davon. Als die Askanier<br />

Brandenburg eroberten, ließen sich ab dem 13. Jahrhundert<br />

überwiegend Bauern und Handwerker des Reichs<br />

nieder. Das heutige Grünheide hatte unfruchtbare Sandböden,<br />

Sümpfe und Wälder. Esblieb lang unbewohnt.<br />

DenBegriff„Grüne Heyde“ führte Kurfürst Joachim II. ein,<br />

der Mittedes 16. Jahrhunderts ein Jagdhaus auf einer Insel<br />

im Werlsee besaß. Nach dem Dreißigjährigen Krieg lag die<br />

Gegend entvölkert da. 1662 genehmigte der Große Kurfürst<br />

die Ansiedlung einer Sägemühle. Jenes Jahr gilt als<br />

Grünheides Gründungsjahr.Zwischen 1748 und 1763 siedelte<br />

König Friedrich II. Kleinbauernund Holzfäller an. Als<br />

die Löcknitz 1875 schiffbar gemacht wurde und das nahe<br />

Fangschleuse einen Bahnanschluss erhielt, kam der Aufschwung<br />

–und <strong>Berliner</strong>, darunter Gerhart Hauptmann,<br />

bauten sich an den Seen ihre Sommerhäuser.(mtk.)<br />

Nach dem Mauerfall änderte sich in nur wenigen Monaten<br />

für die Menschen in der DDR nahezu alles.Das politische<br />

System sowie die Wirtschaftsordnung brachen zusammen,<br />

zugleich schwappte die fremde Welt des Westens<br />

hinüber.1990 war das Jahr des Aufbruchs ins Ungewisse.<br />

Das DDR Museum widmet sich in einer<br />

Sonderausstellung der Frage,was diese Ereignisse für die<br />

Menschen in ihrem alltäglichen Leben konkret bedeuteten.<br />

ZurEröffnung stellt der Zeithistoriker Jürgen Danyel<br />

seine Sicht auf das letzte Jahr der DDR vor.<br />

Letztes Jahr DDR –Aufbruchins Ungewisse. Eröffnung am 27. November<br />

um 18 Uhr,Besucherzentrum DDR Museum in der St. Wolfgang-Str.2

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