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22 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 274 · M ontag, 25. November 2019<br />
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Feuilleton<br />
Refik Anadols Rauminstallation „Latent Being“ in der Halle des früheren Heizkraftwerks Mitte<br />
REFIK ANADOL STUDIO<br />
Der Sound der Großstadt<br />
Mit einer bildgewaltigen Raum-und-Toninstallation von Refik Anadol eröffnet die neu gegründete Kunststiftung LAS im Kraftwerk Mitte<br />
VonIrmgard Berner<br />
Angenommen, die Fassaden<br />
unserer Häuser würden<br />
plötzlich schmelzen. Vor<br />
unseren Augen sich verwerfen,<br />
zerfließen und mutieren. Die<br />
Dächer,Türme,Mauernwürden sich<br />
verbiegen und langsam in sich zusammensinken<br />
und verflüssigen zu<br />
einem krustigen Brei, der <strong>Berliner</strong><br />
Dom, der Alexanderplatz mit Fernsehturm,<br />
Gründerzeitfassaden und<br />
ganze Straßenzüge Berlins würden<br />
sich in amorphe Massen verwandeln,<br />
um in anderer Form wieder<br />
aufzuerstehen.<br />
DerBeton, der Stahl, das Glas,aus<br />
dem sie gebaut sind, würden Schlieren<br />
ziehen, zergehen und sich nur<br />
noch als fluide Schlacke über Flächen<br />
breiten, als wären sie Gemälde,<br />
die sich vordem Betrachterauge immer<br />
weiter wandeln und verändern.<br />
Fiktion? Albtraum? Oder vielleicht<br />
doch ein mitreißender Traum?<br />
Auf einer überdimensionierten<br />
Lichtwand in der kathedralenhaften<br />
Halle des Kraftwerks Mitte passiert<br />
gerade genau das. Düster ist die Atmosphäre,<br />
dumpf dröhnen Bässe<br />
durch den Bau und lassen die weite<br />
Betonarchitektur vibrieren. Nach<br />
und nach stechen höhere Töne aus<br />
dem dunklen Klangmeer und mit ihnen<br />
rasen Lichtlinien durch das<br />
schwarze Umfeld –horizontal, quer,<br />
vertikal. Grüne, gelbe, weiße Linien<br />
zeichnen imaginäre Grenzen, während<br />
der Tonwie ein Herzschlag pulsiert.<br />
Plötzlich flitzen Tausende Bilder<br />
unter den Füßen hinweg –ein rasender<br />
Teppich aus Berlinbildern,<br />
der einen schwindeln lässt.<br />
Das sind mit die stärksten Momente<br />
in der 27-minütigen, überbordenden<br />
Raum-Bild-Zeit-Installation<br />
„Latent Being“ des türkischen<br />
Künstlers Refik Anadol. Sie mutiert<br />
von konkret zu abstrakt, von imaginativ<br />
bis magisch spielt sie mit den<br />
Mitteln der Kunst. Mansteht mittendrin<br />
und ist plötzlich selbst Teil der<br />
Show,weil die Maschine,die dies alles<br />
steuertund auswirft, so programmiertist<br />
–oder lernt sie? Vielleicht.<br />
Der Zauber jedenfalls wirkt, versetzt<br />
in Staunen, wenn plötzlich<br />
Suchscheinwerfer von ganz oben<br />
Rasterfelder auf einzelne Besucher<br />
werfen, sie leuchtend im Quadrat<br />
markieren und so zu Skulpturen machen.<br />
Fantastisch neue Welt, jeder ist<br />
hier eine Datensammlung – und<br />
dank Geocoding zugleich Datenspender.<br />
Denn in der Plastikkarte,<br />
die man beim Eintritt umgehängt<br />
bekommt, ist, ganz banal und doch<br />
etwas unheimlich, ein Chip versteckt.<br />
Dank Künstlicher Intelligenz<br />
generiert das Maschinenbewusstsein<br />
das Material für seine Träume<br />
aus allem hier –aus uns,aus dem Internet<br />
und für seinen Psycho-Sound<br />
aus den vielen Klängen, die diese<br />
Stadt rund um die Uhrerzeugt. Es ist<br />
eine vielschichtige, technologisch<br />
wie philosophisch komplexe Arbeit.<br />
DasEintauchen in die Dunkelheit<br />
wirdzudem zum sinnlichen Einstieg<br />
in ein Anliegen, das sich paradoxerweise<br />
dem Medium Licht verschrie-<br />
ben hat. Denn diese audiovisuelle<br />
Installation ist das Pilotprojekt einer<br />
neu gegründeten, gemeinnützigen<br />
Kunststiftung, die sich Light Art<br />
Space nennt, kurzLAS,und hier groß<br />
ihreerste Duftmarke setzt.<br />
Düster ist die Atmosphäre, dumpf dröhnen<br />
Bässe durch den Bau und lassen die weite<br />
Betonarchitektur vibrieren. Nach und nach<br />
stechen höhere Töne aus dem dunklen<br />
Klangmeer und mit ihnen rasen Lichtlinien<br />
durch das schwarze Umfeld –<br />
horizontal, quer, vertikal.<br />
DieStiftung versteht sich als Plattform<br />
für Kunst, Wissenschaft und<br />
Technologien, ihr Fokus liegt auf der<br />
Förderung zeitgenössischer Arbeiten,<br />
aber auch der Präsentation historischerWerkeimLicht-Kontext.<br />
Die erste Idee dazu wurde schon<br />
2016 geboren, sagt Bettina Kames,<br />
Mitbegründerin und Leiterin des<br />
LAS-Teams. Der Ausstellungsort im<br />
Kraftwerk sei das Ergebnis der<br />
Raumsituation in dieser Stadt, eine<br />
permanente Wirkungsstätte habe<br />
die Stiftung in Berlin bislang nicht.<br />
Dafür aber visionärePläne für die<br />
Zukunft. So sei eine Arbeit aus Quantencomputing<br />
in Auftrag gegeben,<br />
man wolle ins Eis gehen, aber auch<br />
in die Wüste, nach Israel, und dort<br />
mit dem natürlichen Licht und mit<br />
Astrophysikern arbeiten. „Der interdisziplinäre<br />
Zugang soll den Blick<br />
weiten –sowohl auf die Gegenwart<br />
wie auch die Zukunft“, heißt es in der<br />
Erklärung. Begleitend würden in<br />
LAS+ Diskurse geführt. Zu ihren<br />
Netzwerken zählt LAS das Zentrum<br />
für Kunst und Medien in Karlsruhe,<br />
die <strong>Berliner</strong> Festspiele und den Gropius<br />
Bau. Ein internationaler Beirat<br />
aus Wissens- und Ideengebern bereichert<br />
das Team, mit dabei ist die<br />
Direktorin der Dia Art Foundation,<br />
New York, der Leiter des einzigen<br />
Museums für Medienkunst in China,<br />
Schanghai, sowie der Technologe<br />
und Kurator Ben Vickers von den<br />
Serpentine Galleries in London. Stifter<br />
und Mäzen von LAS ist der<br />
Münchner Unternehmer und Kunstsammler<br />
JanFischer.<br />
Er wolle der Kunst neue Impulse<br />
geben, sagt Refik Anadol, damit sie,<br />
wie das Medium Licht, in alle Richtungen<br />
strahle.Anadol schöpft seine<br />
Datenströme aus dem kollektiven<br />
Gedächtnis wie aus Erinnerungsarchiven<br />
.„Latent Being“ sei mit der<br />
Einspeisung von Bildern aus jeder<br />
anderen Stadt generierbar, sagt er.<br />
1985 in Istanbul geboren, lebt Anadol<br />
inzwischen in Los Angeles.<br />
Als Artist in Residence bei Google<br />
wurde er von den neuen Technologien<br />
infiziert. Seitdem arbeitet und<br />
experimentiert er mit Künstlicher<br />
Intelligenz und neuronalen Netzwerken<br />
–und den „vier Dimensionen“,<br />
die er für eine begreifbare, ja<br />
magische Sinneserfahrung auf drei<br />
herunterbreche. Eskursiere zuviel<br />
Schlechtes in der Welt, dem wolle er<br />
etwas Positives entgegensetzen.<br />
Träume schaffen und die Fantasie<br />
beflügeln –den Impuls hat er gesetzt:<br />
als eine kraftvolle Anti-Dystopie.<br />
Kraftwerk Berlin Köpenicker Straße 70,Mo, Mi,<br />
Do 15–21 Uhr,Frund Sa 12–23 Uhr, So 12–21<br />
Uhr,Digeschlossen. www.lightartspace.org<br />
Irmgard Berner<br />
ließ sich bei ihrem Besuch<br />
ins Staunen versetzen<br />
Momente unter der Haut<br />
„Kanon“: She She Pop und ihre Verschworenen pfeifen auf die Flüchtigkeit ihrer Kunst und blättern im Familienalbum der Theatererinnerungen<br />
VonJanis El-Bira<br />
Sich ans Theater zu erinnern<br />
heißt, dem eigenen Altern zubegegnen.<br />
Weil es keine Konserven<br />
überliefert, die den Geist vondamals<br />
wieder aus der Flasche zaubern<br />
könnten, bleibt seine Vergegenwärtigung<br />
eine trügerische Sache. Was<br />
uns wie gestern erscheint, ist oft<br />
schon fünfzehn Jahre her. Genau<br />
deshalb ist das Reden vom Gestern<br />
eine Lieblingsbeschäftigung unter<br />
Fans: Wo den Jüngeren kein materielles<br />
Erbe vorliegt, das sie selbst wiegen<br />
und prüfen könnten, da wirdim<br />
Theater eben kanonisch, worüber<br />
lange gesprochen wird. Als kompetent<br />
gilt, werviel zu erzählen hat.<br />
So gesehen haben She She Pop,<br />
längst selbst Säulenheilige unter den<br />
Performance-Kollektiven, mit „Kanon“<br />
den perfekten Abend fürs erinnernde<br />
Foyer-Gespräch geliefert.<br />
Tatsächlich wird dieses schon gegen<br />
Ende dieser kurzenzweiStunden auf<br />
den Weg gebracht, wenn Sebastian<br />
Bark das Publikum auffordert, die<br />
Köpfe zusammenzustecken und sich<br />
gegenseitig vom schönsten Theatererlebnis<br />
aller Zeiten zu erzählen.<br />
Nur nennt sich das hier anders<br />
und ein bisschen beflissener: Das<br />
Unvergessliche soll heraufbeschworen<br />
werden, der geniale Moment,<br />
jene Arbeiten, die unbedingt „auf die<br />
Liste“ des Kanons gehören. Kostümbildnerin<br />
Lea Søvsø hat den Spielerinnen<br />
und Spielerndafür die Werke<br />
der Performance-Mütter und -Väter<br />
auf den Leib geschneidert. Getragen<br />
werden ikonische Arbeiten von Joseph<br />
Beuys, Isadora Duncan, Yoko<br />
Ono oder Valie Export –alles liebevoll<br />
gebastelt aus wallenden Roben<br />
und Pappmaché-Utensilien.<br />
Das Spiel, das „Kanon“ dann<br />
nicht mehr verlässt, geht so: Reihum<br />
berichten die Performenden von<br />
vergangenen Theatermomenten, die<br />
sie seither unter der Haut tragen;<br />
vage Erinnerungen ziehen herauf,<br />
Kindergeburtstag im Uneinholbaren.<br />
Beschreibungen vonLicht und Dunkelheit,<br />
Menschen und Gerätschaften.<br />
Emsig wirdunterdessen im Hintergrund<br />
gewerkelt. Mit allem, was<br />
ihnen zu Händen ist, soll die be-<br />
HAU<br />
schriebene Szene so genau wie möglich<br />
nachgestellt werden. Am Schluss<br />
kommt mit der Frage „Wo waren<br />
wir?“ die Auflösung. Bei Christoph<br />
Schlingensief zum Beispiel, bei der<br />
Natural-Theatre-Company, Johann<br />
Kresnik oder Susanne Kennedy.<br />
Es ist ein Familienalbum, in dem<br />
She She Pop und die ihnen Verschworenen<br />
blättern. Gemütlich wie<br />
ein Pub-Quiz zum postdramatischen<br />
Theater, dessen Begriffsprägung<br />
vor 20Jahren durch den Theaterwissenschaftler<br />
Hans-Thies Lehmann<br />
das HAU gerade mit einem<br />
Festival ehrt. Erkennbar geht es der<br />
Gruppe um das warme Herz des Performativen,<br />
das in seiner Offenlegung<br />
von Material und Konstruktion,<br />
Machern und Gemachtem oft<br />
mehr Identifikationspotenzial liefert<br />
als die bruchlosen Repräsentationstechniken<br />
klassischen Schauspiels.<br />
Schön ist das, wenn Sebastian<br />
Bark die gastierende Tänzerin Brigitte<br />
Cuvelier fragt, ob er wirklich seinen<br />
blanken Hintern zur Rasur hergeben<br />
muss,wie es die zitierte Szene<br />
aus Kresniks „Mörder Woyzeck“ verlangt.<br />
Er muss.Anderes dagegen, wie<br />
Schlingensiefs „100 Jahre CDU“, ersäuft<br />
in seiner Wiederbelebung als<br />
Kindergeburtstag im Uneinholbaren.<br />
Es fehlt an der Ambition, der Erinnerung<br />
mehr als einen Augenblick<br />
zu entreißen, das private Plaudern<br />
zu verlassen.<br />
Einmal nur, wenn Ilia Papatheodorou<br />
„Cinderella“ von Radikalperformerin<br />
Ann Liv Young nachgespielt<br />
haben will, wirdesunbequem.<br />
Da muss der vonder GobSquad ausgeliehene<br />
Sean Patten in einen Eimer<br />
pinkeln. Sein Urin wird anschließend,<br />
wie damals die Ausscheidung<br />
Youngs,imPublikum feilgeboten.<br />
Das leicht entschärfte<br />
Reenactment aber löst raschdie Fesseln,<br />
die Youngs Performance ihren<br />
Zuschauern damals anlegte. Der<br />
doppelte Boden des Spiels ist wieder<br />
eingezogen. Erinnern heißt eben<br />
nicht erleben.<br />
Kanon 25., 26.November, 20 Uhr,<br />
HebbelamUfer (HAU 2),Kartenunter Tel.:<br />
25900427 oderhebbel-am-ufer.de