hinnerk Dezember 2019 / Januar 2020
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
ANZEIGE 31<br />
ich so starke Halluzinationen hatte. Zusätzlich<br />
litt ich an depressiven Schüben und mein<br />
Körper veränderte sich: ich bekam Fettpolster an<br />
Stellen, wo sie nicht hingehörten. Das waren die<br />
Nebenwirkungen. Dazu noch der Therapiestress,<br />
weil die Tabletten nach Zeitplan eingenommen<br />
werden mussten und der ganze Tag sich danach<br />
richtete. Ich konnte so nicht weitermachen.<br />
Gesundheitlich lief es aber ganz gut bis ich<br />
2002 nach Berlin gezogen bin. Durch den Stress<br />
hat sich wohl dann das Immunsystem wieder<br />
verabschiedet. Meine Ärztin hat mir daraufhin eine<br />
Kombi mit einem damals gerade neuen Wirkstoff<br />
verschrieben und diese Kombination nehme ich<br />
mit einer weiteren kurzen Unterbrechung bis<br />
heute. Sie ist wesentlich einfacher einzunehmen<br />
und ich vertrage sie gut.<br />
Du hast die Beschreibung von Marcel<br />
gehört, wie sein Umfeld reagiert hat, wie er<br />
mit der Infektion sozial agiert. Wie war das<br />
bei dir?<br />
Gordon: Es war Anfang der 1990er ein totales<br />
No-Go. Im Privaten wollte mir meine Oma nicht<br />
mal die Hand geben aus Angst, sich anzustecken,<br />
geschweige denn aus einer Tasse trinken. Und in<br />
der Szene hat man natürlich gar nichts gesagt,<br />
sonst hätte man gar keinen Sex mehr gehabt oder<br />
keinen Partner gefunden. Heute hilft es mir als<br />
HIV-Positiver sehr zu wissen, dass jemand, dessen<br />
Virusmenge im Blut dank medikamentöser<br />
Therapie unter der Nachweisgrenze liegt, das<br />
Virus nicht weitergeben kann. ω<br />
*Interview: Christian Knuth<br />
Eine ausführlichere Videoversion dieses Talks<br />
findet ihr unter www.nochvielvor.de und<br />
www.männer.media. Marcel und Gordon<br />
sprechen darin über ihre unterschiedlichen<br />
Stigma-Erfahrungen, ihre Ängste und Erfahrungen<br />
in Alltag und Partnerschaft sowie<br />
darüber, wie Therapie und PrEP noch einmal<br />
alles veränderten.<br />
ω<br />
Obwohl es sich gezeigt hat, dass die erfolgreiche Virussuppression<br />
durch eine antiretrovirale Therapie das Risiko einer sexuellen<br />
Übertragung erheblich reduziert, kann ein Restrisiko nicht ausgeschlossen<br />
werden. Auf Grundlage (unkontrollierter) Beobachtungsstudien<br />
stuft das Robert Koch Institut das Risiko einer sexuellen<br />
Übertragung (Viruslast seit ≥6 Monaten unter der Nachweisgrenze)<br />
als vergleichbar gering ein wie bei der Verwendung eines Kondoms<br />
ohne antiretrovirale Therapie. 1 Auch die Deutsche Aidshilfe wertet<br />
den Schutz durch Therapie als Safer Sex. 2<br />
1<br />
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/<br />
Ratgeber_HIV_AIDS.html<br />
2<br />
https://www.aidshilfe.de/schutz-therapie#acc-175410<br />
FOTO: XAMAX<br />
Expertenstatement zum<br />
Welt-Aids-Tag: Stefan Esser<br />
Dr. Esser ist seit 1994 in der klinischen Forschung und medizinischen<br />
Versorgung von HIV/AIDS-Patienten am Universitätsklinikum Essen<br />
tätig und in verschiedenen Fachgesellschaften wie der Deutschen AIDS-<br />
Gesellschaft und der dagnä (Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener<br />
Ärzte in der Versogung HIV-Infizierter) aktiv.<br />
Wie hat sich die HIV-Therapie<br />
in den letzten ca. 30 Jahren<br />
weiterentwickelt? Welche<br />
„Meilensteine“ sind Ihnen im<br />
Gedächtnis geblieben?<br />
Die Entwicklung und Einführung<br />
der antiretroviralen Kombinationstherapie<br />
hat bei HIV-Infizierten die<br />
Häufigkeit von schwerwiegenden<br />
Erkrankungen und die Sterberate<br />
drastisch gesenkt. Doch zunächst<br />
litten die Patienten noch unter zahlreichen<br />
Nebenwirkungen. Regelmäßig<br />
mussten viele Pillen geschluckt<br />
werden, um die HIV-Infektion zu<br />
kontrollieren. Virologisches Versagen<br />
mit Resistenzentwicklung war keine<br />
Seltenheit. Die modernen antiretroviralen<br />
Ein-Tabletten-Regime<br />
sind gut verträglich und erreichen<br />
bei mehr als 90% der Behandelten<br />
das Therapieziel einer nicht mehr im<br />
Blut nachweisbaren HI-Viruslast. Die<br />
Lebenserwartung effektiv antiretroviral<br />
behandelter Menschen, die mit<br />
einer HIV-Infektion leben, nähert<br />
sich jener der Allgemeinbevölkerung.<br />
Die Lebensqualität und das<br />
gesunde Altern von HIV-positiven<br />
Menschen rücken immer mehr in<br />
den Fokus.<br />
Hat sich aus Ihrer Sicht der<br />
Umgang Ihrer Patienten mit<br />
der Diagnose verändert?<br />
Die meisten meiner HIV-positiven<br />
Patienten führen heute ein „normales“<br />
Leben, nehmen zuverlässig ihre<br />
antiretrovirale Therapie und definieren<br />
sich oft nicht mehr so stark<br />
wie früher über ihre Erkrankung.<br />
Die Tatsache, dass eine effektive<br />
Behandlung die Übertragung von<br />
HIV verhindert, empfinden viele als<br />
Befreiung und erlaubt angstfreieren<br />
Sex. Während nur noch wenige HIV-<br />
Infizierte bei der Diagnosestellung<br />
schockiert reagieren, betrachten<br />
einige die HIV-Infektion mit einer<br />
unangemessenen Leichtfertigkeit.<br />
Stigmatisierung von HIV-positiven<br />
Menschen sollte heute hoffentlich<br />
kein Thema mehr sein. Doch<br />
trotz der Aufklärungskampagnen,<br />
verschiedenen Testangeboten<br />
und der guten Behandelbarkeit<br />
der HIV-Infektion erfolgen die<br />
Erstdiagnosen selbst in Deutschland<br />
unverändert häufig erst in<br />
fortgeschrittenen Stadien. Dies<br />
ist einer der wichtigsten Gründe,<br />
warum noch immer Menschen in<br />
Deutschland an AIDS sterben.<br />
Wir danken dem forschenden Pharmaunternehmen Gilead Sciences für die<br />
freundliche Unterstützung bei der Durchführung des Interviews.<br />
FOTO: MEDIENZENTRUM UK ESSEN