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6 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 32 · F reitag, 7. Februar 2020<br />
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Meinung<br />
Julian Assange<br />
ZITAT<br />
Mit Ansehen<br />
der Person<br />
Tanja Brandes<br />
glaubt: Geht es um Recht, wird mit<br />
zweierlei Maß gemessen.<br />
Eswar ein seltsamer Moment: Gerade<br />
hatten die Beteiligten, unter ihnen der<br />
ehemalige Bundesaußenminister Sigmar<br />
Gabriel und der FDP-Bundesinnenminister<br />
a. D.,Gerhart Baum, ihren Appell zur<br />
Freilassung Julian Assanges aus britischer<br />
Auslieferungshaft vorgestellt, da ging es<br />
auf einmal darum, ob Assange eigentlich<br />
ein netter Kerl ist. Sympathisch, so sagte<br />
Mitinitiator Baum, sei ihm Assange nicht.<br />
Es ginge,soGabriel, ja auch nicht darum,<br />
ob man sich mit einer Person identifiziere,<br />
sondern um das Recht auf menschenwürdigen<br />
Umgang.<br />
Gegen den Whistleblower Assange lief<br />
lange einVerfahren wegenVergewaltigung.<br />
Es wurde inzwischen eingestellt, darüber<br />
hinaus besteht der Verdacht, dass die Vorwürfe<br />
konstruiert waren. Natürlich ist das<br />
inzwischen egal; Assanges Bild in der Öffentlichkeit<br />
ist nicht mehr so leicht zu verändern.<br />
Bei der Initiative von Gabriel und Co.<br />
geht es um etwas anderes: Assange soll sich<br />
der Spionage schuldig gemacht haben, er<br />
könnte an die USA ausgeliefert werden.<br />
Vielleicht ist er schuldig im Sinne des US-<br />
Rechts. Vielleicht nicht. Doch das, soviel<br />
haben die Initiatoren des Appells klargemacht,<br />
tut nichts zur Sache. Assange werden<br />
mehrere Grundrechte versagt: Das<br />
Recht auf ein faires Strafverfahren. Aufden<br />
Schutz vorFolter.Auf Sicherheit.<br />
Dass sich Gabriel und seine Mitstreiter<br />
für Julian Assange ein- und dabei die hohen<br />
und absolut unumgänglichen Maßstäbe<br />
der UN-Menschenrechtscharta ansetzen,<br />
ist aller Ehren wert. Muss wirklich<br />
erwähnt werden, dass diese Rechte für alle<br />
Menschen gelten, egal, ob wir sie mögen<br />
oder nicht? Dass die Initiatoren des Appells<br />
das offenbar glauben, sagt viel aus über das<br />
Rechtsverständnis unserer Zeit.<br />
Notrufe<br />
Warteschleife oder<br />
Wartezimmer<br />
Gerhard Lehrke<br />
über die Engpässe bei der<br />
ärztlichen Versorgung<br />
Eigentlich ist es eine gute Nachricht,<br />
dass Menschen, die bei Erkrankungen<br />
über die Rufnummer 116 117 Hilfe suchen,<br />
lange in der Warteschleife hängen<br />
bleiben. Das zeigt, dass die Werbekampagne<br />
für die Nummer gewirkt hat, die<br />
verhindern soll, dass auch wegen Lappalien<br />
über die 112 ein Rettungswagen alarmiert<br />
wird. Wartezeiten von einer knappen<br />
Stunde, wie es zuletzt geschehen ist,<br />
sind allerdings inakzeptabel.<br />
Die Schuld dafür bei der Kassenärztlichen<br />
Vereinigung zu suchen, die für die<br />
Leitstelle verantwortlich ist, ist jedoch<br />
falsch. Es ist die Konsequenz einer gut gemeinten,<br />
aber offenbar nicht durchdachten<br />
Vorschrift aus dem Hause des Gesundheitsministers<br />
Jens Spahn (CDU):<br />
Die Anamnese am Telefon, bei der ein<br />
Mitarbeiter die Symptome einer Erkrankung<br />
mithilfe eines Computers durchdeklinieren<br />
muss,soll am Ende zu einer Entscheidung<br />
führen, was der für den Patienten<br />
richtige Behandlungsweg ist. Siedauert<br />
aber zu lange, und dann reichen die<br />
eingesetzten Kräfte nicht aus, umbei einem<br />
großen Aufkommen von Anrufen<br />
lange Wartezeiten zu vermeiden.<br />
Einstweilen bleibt nichts anderes übrig,<br />
als sich mit Wartezeiten abzufinden,<br />
bis die Kassenärztliche Vereinigung Verstärkung<br />
gefunden und eingearbeitet hat.<br />
Man sollte dennoch auch künftig darauf<br />
verzichten, die Feuerwehr zu rufen oder<br />
sich in eine möglicherweise überfüllte<br />
Rettungsstelle zu begeben, wo man erst<br />
recht stundenlang wartet.<br />
Notfalls stehen auch noch von Freitag<br />
bis Sonntag –die Zeiten findet man auf<br />
der Internetseite der Kassenärztlichen<br />
Vereinigung – vier Notdienstpraxen für<br />
Kinder und drei für Erwachsene bereit.<br />
Und dann ging es doch ganz<br />
schnell. Nach gerade einmal 24<br />
Stunden als neuer Ministerpräsident<br />
von Thüringen tritt Thomas<br />
Kemmerich nun doch von diesem Amt<br />
wieder zurück. Seine FDP will Neuwahlen<br />
beantragen. Damit könnte der dunkelste Tag<br />
im politischen Leben des Bodo Ramelowfür<br />
ihn ziemlich schnell zu einem glücklichen<br />
Tagwerden –wohlgemerkt könnte. All die<br />
Gedankenspiele, die derzeit betrieben werden,<br />
sind reine Spekulationen, denn der<br />
Mittwoch von Erfurt hat gezeigt, dass das<br />
Verhalten von Parteien in politisch stark polarisierten<br />
Zeiten schwer vorhersagbar ist.<br />
Fakt ist, dass der linke RamelowamMittwoch<br />
ziemlich überraschend abgewählt<br />
wurde und dass er die Chance verlor,mit seiner<br />
Minderheitsregierung aus Linken, SPD<br />
und Grünen die Legislaturperiode anzugehen.<br />
Für 24 Stunden war ein völlig unbekannter<br />
FDP-Mann Ministerpräsident –gewählt<br />
auch vonder AfD vonBjörnHöcke,der<br />
Galionsfigur des „Flügels“, also der Rechtsaußen-Kräfte<br />
dieser rechtsnationalen Partei.<br />
Thomas Kemmerich hat sich am Donnerstag<br />
von seinem Parteichef Lindner ganz<br />
zu Recht zum Rücktritt überreden lassen,<br />
denn ihm fehlte jede Aussicht, eine Regierung<br />
zu bilden. Werhätte mit ihm regieren<br />
sollen? Kemmerich hat sich zwar vonder AfD<br />
wählen lassen, wollte ihr aber keine Macht<br />
abgeben. Er setzte auf die CDU, die im<br />
Herbst ihr schlechtestes Ergebnis eingefahren<br />
hat und zerrissen ist zwischen jenen<br />
Kräften, die mit der AfD anbandeln wollen<br />
und jenen Leuten, die dies verweigern.<br />
Kemmerich vertratnach seiner Wahl eine<br />
recht absurde Idee: SPD und Grüne sollen<br />
doch nun bitte zur Vernunft kommen und<br />
endlich erkennen, dass sie sich vonRamelow<br />
Als ich kurz nach meinem Abitur nach<br />
Berlin gezogen bin, gab es eine Sache,<br />
die ich sofort an der Stadt mochte: Geld<br />
schien hier irgendwie keine große Rolle zu<br />
spielen, was logisch ist, denn so richtig viel<br />
Asche hatte in Berlin Mitte der Nuller Jahre<br />
niemand – zumindest niemand, den ich<br />
kannte und erst recht nicht ich selbst. Rückwirkend<br />
betrachtet war das kein großes<br />
Problem: viele Dinge waren in Berlin umsonst.<br />
Dank Semesterticket fuhr ich gratis U-<br />
Bahn, es gab einen eintrittsfreien Nachmittag<br />
in staatlichen Museen; die Klubs, indie<br />
ich ging, waren vor allem unter der Woche<br />
umsonst, am Wochenende kannte man immer<br />
irgendwen, der einen auf die Gästeliste<br />
setzte. Klaus Wowereit hatte kurz zuvor die<br />
„Arm, aber sexy“-Ära für Berlin ausgerufen<br />
und meine Freundin Joana und ich hingen<br />
regelmäßig im Ikea-Restaurant am Südkreuz<br />
rum und tranken umsonst Ikea-Family-<br />
Card-Flatrate-Kaffee bis zum Sodbrennen,<br />
wenn wir mal wieder zu sexy für Zuhausebleiben,<br />
aber zu arm für echte Cafés waren.<br />
Schöne Zeiten waren das.<br />
Inzwischen wohne ich in Amsterdam<br />
und verdiene zwar ausreichend Geld, um<br />
mir auch selbst in den letzten zehn Tagen<br />
eines Monats besseres Essen als Nudeln<br />
ohne Soße leisten zu können, bin aber von<br />
einer Sache immer wieder irritiert: Geld<br />
scheint hier eine riesengroße Rolle zu spielen,<br />
was leider auch logisch ist, denn Amsterdam<br />
ist seit jeder eine Stadt der Kaufleute<br />
und ich schätze, den Titel bekommt man<br />
Thüringen<br />
Ramelow<br />
2.0<br />
Jens Blankennagel<br />
denkt, dass der bisherigeMinisterpräsident vonden Linken<br />
schon bald der neue Chef sein könnte.<br />
KOLUMNE<br />
Reich,<br />
aber<br />
blöde<br />
Yulian Ide<br />
Autor<br />
wohl nicht, wenn seine Einwohner ständig<br />
alles verschenken würden. Schauen Sie<br />
mich an: das ist jetzt schon die zweite Kolumne<br />
in Folge,die sich um Geld dreht –was<br />
hat diese Stadt bloß aus mir gemacht? Dabei<br />
kann ich gar nichts dafür, die Münzen und<br />
Scheine fliegen einem hier förmlich aus der<br />
Tasche.<br />
Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie<br />
möchten in Amsterdam feiern gehen. Dann<br />
BERLINER ZEITUNG/THOMAS PLASSMANN<br />
verabschieden müssen, um sich dann der<br />
FDP und der CDU zuzuwenden.<br />
Warum hätten sie dies tun sollen? Kemmerich<br />
tat so,als wolle er die Grünen und die<br />
SPD von einem unmoralischen Irrweg abbringen.<br />
Das klingt geradezu naiv, wird ihm<br />
doch nun zu Recht vorgeworfen, dass er den<br />
wahren moralischen Tabubruch begangen<br />
hat, weil er sich von einer Partei hat wählen<br />
lassen, die reichlich Rechtsradikale in ihren<br />
Reihen duldet –soder mindeste Vorwurf.<br />
SPD und Grüne konnten gar nicht mit<br />
Kemmerich gehen, ohne ihre Reputation zu<br />
verlieren. Außerdem: Washätten sie gewinnen<br />
können? Mit Ramelow wären sie Teil einer<br />
Drei-Parteien-Minderheitsregierung mit<br />
einem bereits ausgehandelten Koalitionsvertrag,<br />
einer passenden Zahl von Ministerposten<br />
und mit einer Rückendeckung von42<br />
Stimmen im Parlament. BeiKemmerich hätten<br />
sie nur Teil einer Vier-Parteien-Koalition<br />
werden können –mit weniger Einfluss,weniger<br />
Posten und mit nur 39 Stimmen im Parlament.<br />
Dagegen hätte die Mehrheit der Opposition<br />
aus Linken und AfD gestanden, die<br />
zusammen auf 51 Stimmen kommen.<br />
Kemmerich, der weder mit Links noch<br />
Rechts zusammenarbeiten wollte,hätte vom<br />
ersten Taganeine handlungsunfähige Regierung<br />
gehabt, deren Gesetzesinitiativen zum<br />
Scheitern verurteilt wären. Dann hätte sich<br />
die Aussage von FDP-Chef Lindner bewahrheitet:<br />
„Es ist besser, nicht zu regieren, als<br />
falsch zu regieren.“ Schon nach Kemmerichs<br />
Wahl war klar,dass Neuwahlen kommen.<br />
So könnte nun wieder die Stunde des<br />
Bodo Ramelow schlagen. Auch wenn die<br />
Thüringer ein deutlich konservativ geprägtes<br />
Völkchen sind, haben sie im Herbst nur<br />
die rot-rot-grüne Regierung abgewählt,<br />
nicht aber Herrn Ramelow, dem 71 Prozent<br />
der Thüringer attestieren, gute Arbeit zu leisten.<br />
Ramelowkann bei Neuwahlen nun viele<br />
Wähler hinter sich versammeln.<br />
Nach der Blamage der FDP mit ihrem Ein-<br />
Tages-Regierungschef von AfD-Gnaden ist<br />
es nun fraglich, ob die FDP noch einmal 73<br />
Stimmen mehr als nötig bekommt, um die<br />
Fünf-Prozent-Hürde zu reißen. Und es ist<br />
auch möglich, dass nun noch mehr Wähler<br />
vonder immer mehr schwächelnden CDU in<br />
Thüringen zur AfD wechseln.<br />
Jedenfalls ist es nun durchaus möglich,<br />
dass der 5. Februar 2020 –der dunkelste Tag<br />
in Ramelows politischem Leben – für ihn<br />
schon bald dazu führen könnte,dass er wieder<br />
Ministerpräsident ist. Dann eventuell sogar<br />
mit einer eigenen Mehrheit.<br />
suchen Siesich nicht etwa eine Partyaus und<br />
gehen einfach hin. Nein, nein, stattdessen<br />
buchen SieWochen im Voraus eine Eintrittskarte,<br />
die Sie möglicherweise verfallen lassen,<br />
falls Sie amAbend spontan doch keine<br />
Lust haben auszugehen. Sie raffen sich aber<br />
auf, gehen zur Party und bezahlen, um Ihre<br />
Jacke aufzuhängen, für Wertsachen wird<br />
keine Haftung übernommen. Ein erstes Getränk<br />
wird Sie ein bisschen in Stimmung<br />
bringen, denken Sie, aber gehen Sie keinesfalls<br />
direkt zur Bar. Erstmal müssen Sie eine<br />
hauseigene Währung erwerben, rote Plastikmünzen<br />
etwa. Für 20 Euro bekommen Sie 7<br />
rote Münzen. Siesind schlecht in Mathe und<br />
vergessen direkt, was eine Münzewertist.<br />
An der Barkostet jedes Getränk zwei oder<br />
drei Münzen, sodass Siezujedem Zeitpunkt<br />
mindestens eine Münze übrig haben. Sie<br />
bleiben noch, trinken ein paar Getränke.Um<br />
auf die Toilette zu gehen, bezahlen Sieeinen<br />
Euro. Ander Flüssigkeit, die Sie imKlo herunterspülen,<br />
hat der Amsterdamer Veranstalter<br />
nun schon zweimal verdient, denken<br />
Sie. Als Sie die Toilette verlassen, bietet die<br />
Klofrau Ihnen eine Pipiflatrate für 2,50 Euro<br />
an. Sie kaufen sie, gehen aber kurz danach<br />
nach Hause, denn Sie werden müde. Auf<br />
dem Heimweg finden Sie noch eine rote<br />
Münze inihrer Tasche. Die ist jetzt nichts<br />
mehr wert, denn auf der nächsten Party bezahlt<br />
man mit grünen Plastikmünzen. Sie<br />
denken an Berlin, als Sienocharm,aber sexy<br />
waren. Jetzt aber sind SieinAmsterdam. Und<br />
hier sind Siereich, aber blöde.<br />
„Es versteht ein Kind,<br />
dass hier etwas hakt.<br />
Die Maxime, nach der<br />
im 20. Jahrhundert“<br />
gewirtschaftet wurde,<br />
passt nicht mehr in die<br />
heutige Zeit.“<br />
Luisa Neubauer, „Fridays for Future“-Aktivistin, im<br />
aktuellen Stern<br />
AUSLESE<br />
Siemens und die<br />
Klimadebatte<br />
Bei der Hauptversammlung von Siemens<br />
am Mittwoch in München dominierte<br />
die Klimadebatte. Klimaschützer<br />
protestierten gegen die Beteiligung<br />
des Konzerns am Baudes geplanten Kohlebergwerks<br />
in Australien.<br />
Die Tageszeitung taz schließt sich der<br />
Kritik in einem Kommentar an: Das Projekt<br />
stehe für die Haltung, „mit der das<br />
Management des Konzerns Geschäfte auf<br />
der ganzen Welt vorantreibt: Entscheidend<br />
ist allein der Gewinn, Menschenrechte<br />
und Klimagerechtigkeit zählen<br />
nicht.“<br />
Die Süddeutsche <strong>Zeitung</strong> hingegen<br />
kann die Aufregung nicht ganz nachvollziehen:<br />
„Der Auftrag hat ein Volumen von<br />
lediglich 18 Millionen Euro, geradezu lächerlich<br />
für Siemens. Unbestritten ist zudem,<br />
dass Siemens durchaus auch für<br />
grüne Technologien steht.“ So sei der<br />
Konzern einer der größten Produzenten<br />
vonWindkraftanlagen. „Wenn es also um<br />
umweltschädigendes Verhalten geht,<br />
könnte man sich guten Gewissens andere<br />
Konzerne vornehmen.“<br />
Die Frankfurter Allgemeine <strong>Zeitung</strong><br />
findet zudem, dass Proteste keineLösungen<br />
sind. „Auch die Stimmen anderer<br />
Manager sollten endlich hörbar werden<br />
in der Klimadebatte. Sie müssen dafür<br />
werben, dass marktwirtschaftliche Lösungen<br />
mit neuen Technologien der einzige<br />
Wegsind, um nennenswerte Erfolge<br />
im Kampf gegen die Erderwärmung zu<br />
erzielen.“ Theresa Dräbing<br />
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