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35. Kairos oder die göttliche Versuchung
ROT: Mein Briefkasten quillt schon wieder vor günstigen Gelegenheiten
über. Bei mir landet das Zeug gleich in der Tonne.
WEISS: Warum bist du so sicher, dass nicht doch etwas Passendes für dich
dabei ist?
ROT: Ich habe alles, was ich brauche. Die wollen doch sowieso nur mein
Geld.
WEISS: Tja, so denken viele – auch dann, wenn sie Kairos begegnen.
ROT: Wer ist das denn jetzt schon wieder?
WEISS: Er ist der jüngste unter den Söhnen des Zeus. Mit seiner Stirnlocke
eilt er als Gelegenheit zwischen den Menschen umher in der Hoffnung,
dass man ihn beim Schopfe packe. Doch ist er einmal vorüber, dann ist
es zu spät – denn am Hinterkopf ist er kahl.
ROT: Kein Wunder, dass die Leute zögern. Wie sollen sie denn auch die
günstige Gelegenheit von einer billigen Versuchung unterscheiden?
WEISS: Tatsächlich ist es oft nur ein als Gelegenheit verkleideter Mephisto,
der verführerisch seinen Schopf darbietet. Denn während Kairos die
Menschen immer ihrem Zweck und Ziel näher bringen, führt Mephisto
sie gern auf Abwege.
ROT: Da winken dann die meisten lieber gleich ab. Denn seit Kindertagen
haben sie verinnerlicht: geh nicht mit fremden Männern. Und: Schuster
bleib bei deinen Leisten!
WEISS. Sicher kann man sich nie sein, wer einem da gerade als Kairos erscheint.
Doch wer den wahren Kairos zum Freund will, braucht eine gute
Portion Selbstbewusstsein und Wagemut.
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