Beschaffung aktuell 03.2020
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KARRIERE<br />
Sprache und Sein.<br />
Kübra Gümüşay. Berlin Hanser Verlag, Berlin, 2020.<br />
Hardcover, 208 Seiten, 18,00 €. ISBN: 978–3446265950<br />
Wirklich inspirierende Bücher sind selten.<br />
„Sprache und Sein“ von Kübra Gümüşay ist so<br />
eins. In diesem Essay diskutiert die politische<br />
Aktivistin, wie Sprache Denken und Handeln<br />
prägt. Wortgewaltig schreibt Gümüşay darüber,<br />
wie Sprache einschränkt und begrenzt.<br />
Sie schreibt über die Last, von anderen benannt<br />
zu werden („die kopftuchtragende<br />
Frau“) und wie Menschen so ihrer Individualität<br />
beraubt werden. Mit Sorge betrachtet sie<br />
den Rechtsruck in Deutschland, berichtet<br />
über kalkulierte Provokationen und in Talkshows<br />
gefeierte Extrempositionen. Sie erzählt<br />
von ihrem eigenen Kampf, aus der ihr<br />
zugeteilten Rolle auszubrechen, als Mensch<br />
wahrgenommen zu werden, gehört zu werden.<br />
Von der Frustration, sich ständig erklären<br />
zu müssen. In ihrem unaufgeregten, aber leidenschaftlichen<br />
Still erklärt sie, wie unser<br />
„Absolutheitsglaube“, also der Glaube, dass<br />
unsere Perspektive die einzig richtige ist, andere<br />
ins Abseits drängt, dass wir uns unserer<br />
eigene Fallibilität bewusst werden müssen.<br />
Sie streckt den Weißen, den Männern, der<br />
Mehrheit, uns, den Spiegel ins Gesicht und<br />
stellt unser eigenes Handeln und Sprechen<br />
im hellen Leuchten ihrer Prosa auf den Prüfstand<br />
– nicht angenehm, aber nötig, sehr<br />
nötig . Und sie glaubt daran, dass wir es besser<br />
hinkriegen. Sie träumt, dass wir eine pluralistische<br />
Gesellschaft formen können, in der<br />
wir gleichberechtigt und frei sprechen und<br />
sein dürfen. Und sie will. Sie will verändern,<br />
und das ist in jedem poetischen Satz, in<br />
jedem detailliert recherchierten Argument, in<br />
jedem sorgsam modellierten Paragraphen<br />
ertastbar . „Sprache und Sein“ ist ein so wichtiges<br />
Buch über den Un-Zustand unserer<br />
heutigen Gesellschaft, dass es für uns alle<br />
eine Pflichtlektüre sein muss. (sd)<br />
Die 5 Stunden Revolution. Wer Erfolg will, muss Arbeit<br />
neu denken.<br />
Lasse Rheingans, Campus Verlag, 2019.<br />
Hardcover, 224 Seiten, 24,95 €. ISBN: 978–3593510729<br />
Der deutsche Unternehmer Lasse Rheingans<br />
sorgt für Furore: Er führt 2017 in seiner Digitalagentur<br />
einen Fünf-Stunden-Tag ein. Eine<br />
radikale Idee, aber wie kann sie funktionieren?<br />
In seinem Buch beschreibt Rheingans, wie er<br />
den fünf-Stunden-Tag im Selbstversuch in der<br />
eigenen Agentur umsetzte. In diesen fünf<br />
Stunden soll die gleiche Arbeit gemacht werden<br />
wie in acht, auch die Bezahlung bleibt<br />
gleich. Das setzt eine Produktivitätssteigerung<br />
von 40 Prozent voraus – eine Zahl, die<br />
nicht ohne die Änderung von Verhaltensweisen<br />
und Arbeitsabläufen funktionieren kann.<br />
Um das Experiment durchzuführen, setzt<br />
Rheingans auf Selbstverantwortung seiner<br />
Mitarbeiter, nicht etwa auf Verbote. Ebenso<br />
wichtig für hochproduktives Arbeiten sind<br />
regelmäßige Workshops, oft von Moderatoren<br />
geleitet, um Feedback zu den Abläufen zu<br />
erhalten. Dabei ist Rheingans Grundsatz:<br />
„Nichts ist für immer, nichts ist immer richtig,<br />
alles kann auch wieder rückgängig gemacht<br />
werden“ (S. 180).<br />
Natürlich ist ein fünf-Stunden-Tag kein Spaziergang.<br />
Klar ist auch, dass eine drastische<br />
Arbeitszeitverkürzung nicht in allen Branchen<br />
Sinn ergibt. Das es dennoch funktionieren<br />
kann, macht Mut. Schön wäre es gewesen,<br />
wäre der Autor noch detailreicher auf die<br />
Umstellung der Arbeitsprozesse eingegangen.<br />
Aber ein „Schema F“ für eine solche Umstellung<br />
mag es vielleicht gar nicht geben. Es ist<br />
gut zu sehen, dass es heute und in Deutschland<br />
Unternehmer gibt, die für eine Idee<br />
brennen. Dass es Unternehmer gibt, die das<br />
Wohl der Mitarbeiter im Blick haben und sich<br />
ihrer eigenen Fehlbarkeit bewusst sind. Denn<br />
nur so ist die Grundlage geschaffen, eine solche<br />
Vision umzusetzen. (sd)<br />
Ikigai. Die japanische Lebenskunst.<br />
Ken Mogi, Dumont Verlag, 2018.<br />
Hardcover, 176 Seiten, 20,00 €. ISBN 978–3832198992<br />
Nicht erst seit Marie Kondos liebevoller Aufräumtechnik<br />
steht fernöstliche Lebensphilosophie<br />
im Westen hoch im Kurs. In diesem<br />
Werk beschreibt der Neurowissenschaftler<br />
und Autor Ken Mogi, was es mit „ikigai“ auf<br />
sich hat. Ikigai ist eines dieser Wörter, das sich<br />
nur mit Mühe und einiger Umschreibung<br />
übersetzen lässt. Die Definition des Begriffs<br />
fällt auch Mogi schwer. Er spricht von einem,<br />
wörtlich übersetzt, „Lebenssinn“. Der Begriff<br />
des ikigai ist tief in der japanischen Kultur<br />
und Philosophie verwurzelt und so für westliche<br />
Leser schwer zu erschließen.<br />
Das Buch ist weniger ein rigider Definitionsversuch,<br />
als eine Suche nach dem Begriff. Und<br />
so geht er die Bedeutung des Konzepts,<br />
anders als sein Beruf als Neurowissenschaftler<br />
vermuten lässt, hermeneutisch an. Wer also<br />
wissenschaftliche Studien zum Thema Lebenssinn<br />
finden will, der sucht sie vergeblich.<br />
Stattdessen benutzt Mogi eine eher assoziative<br />
Erzähltechnik und reiht Anekdoten und<br />
Einzelschicksale aneinander, in denen er ikigai<br />
erkennen kann. Die Rede ist zum Beispiel von<br />
Radio-taiso, einer beliebten Morgengym -<br />
nastik, der traditionellen Teezeremonie und<br />
beharrlichen Sumo-Ringern.<br />
Der Autor schafft es, den Begriff „ikigai“<br />
einzu kreisen, aber nicht, ihn tatsächlich<br />
handfest einzufangen. Ob es notwendig oder<br />
überhaupt möglich ist, ein so flüchtiges Konzept<br />
zu beschreiben, muss der Leser selbst<br />
wissen. Das Buch hat einen romantischnostal<br />
gischen, manchmal sogar verklärendmythischen<br />
Blick auf die japanische Gesellschaft.<br />
Was der Autor gut kann, ist es, eine<br />
überraschend vielseitige Perspektive auf das<br />
Land, seine Traditionen und Menschen zu vermitteln.<br />
(sd)<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> 2020 03 73