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The Red Bulletin September 2020 (DE)

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D E R C L U B D E R T O T E N D E N K E R<br />

JEAN-JACQUES ROUSSEAU<br />

Wie kann man heute eigentlich<br />

noch Urlaub machen?<br />

Die größten Denker aller Zeiten beantworten<br />

Fragen unserer Gegenwart, übermittelt<br />

durch den Philosophen Christoph Quarch.<br />

Diesmal: Jean-Jacques Rousseau erklärt,<br />

warum man am besten zu Fuß verreist.<br />

Très bien, meine Freunde, ich weiß, was euch<br />

umtreibt: Ihr scharrt wieder mit den Füßen.<br />

Es dürstet euch nach Reisen. Ihr wollt die Welt<br />

erkunden. Und dafür sind euch alle Mittel recht: Flugzeuge<br />

und Wohnmobile, Busse und Kreuzfahrtschiffe,<br />

Pkws und Eisenbahnen. Doch seit neuestem sind da<br />

diese Leute, die euch ins Gewissen reden und euch<br />

weismachen wollen, eure Reiselust sei nicht okay. Sie<br />

erzählen euch vom Klimawandel oder dem ökologischen<br />

Fußabdruck, den ihr zurücklasst. Sie verderben<br />

euch die Laune, o ihr Reiselustigen. Und als ob das<br />

nicht genügte, kommt dann auch noch<br />

dieses Virus und macht Fernreisen auf<br />

lange Sicht noch schwieriger. Oh, da<br />

seufzt ihr, meine Freunde, denn ihr<br />

seht eure Freiheit bedroht – und das<br />

wollt ihr nicht hinnehmen.<br />

Ich fühle mit euch, meine Freunde,<br />

war ich es doch, der einst die Freiheit<br />

in den höchsten Tönen pries – und der<br />

seine Stimme gegen alle jene erhob,<br />

die sie mit Füßen traten. „Der Mensch<br />

ist frei geboren, und überall liegt er in<br />

Ketten“: Das war mein Leitwort aus dem Jahre 1762,<br />

mit dem ich – ohne das zu wollen – die große Revolution<br />

einleitete. Wenn es einen Denker gibt, der<br />

euren Freiheitshunger teilt, dann bin ich das, meine<br />

Freunde. Aber, so muss ich euch dennoch fragen,<br />

wisst ihr eigentlich, was Freiheit ist?<br />

Da bin ich mir nicht ganz sicher. Denn ich hege den<br />

Verdacht, dass die Freiheit, die ihr für eure Reiselust<br />

in Anspruch nehmt, in Wahrheit keine Freiheit ist:<br />

dass ihr vielmehr Getriebene seid, die dem Irrsinn des<br />

alltäglichen Lebens entkommen wollen. Könnte es<br />

sein, dass ihr gar nicht auf Reisen seid, sondern auf<br />

der Flucht, wenn ihr eure Koffer packt und euch<br />

davonstehlt? Könnte es sein, dass ihr vor euch selbst<br />

flieht, ihr Ruhelosen – weil ihr euch durch euren<br />

Wohlstand, eure Technik, ja, auch eure „Bildung“<br />

„Könnte es<br />

sein, dass ihr<br />

gar nicht auf<br />

Reisen seid,<br />

sondern auf<br />

der Flucht?“<br />

von euch selbst entfremdet habt und nun nach einem<br />

besseren, gesünderen, natürlicheren Leben strebt?<br />

Um die Wahrheit zu sagen, mes amis charmants,<br />

ich bin mir sicher, dass es sich so verhält. Ich weiß,<br />

wovon ich rede. Ich war häufig auf der Flucht. Acht<br />

Jahre zog ich quer durch Europa, um den Verfolgungen<br />

zu entkommen, die ich mit meinen Schriften auf<br />

mich gezogen hatte. So dachte ich jedenfalls, bis ich<br />

begriff, dass es mir im Grunde nur darum ging, dieses<br />

elende bürgerliche Kleid abzuwerfen, diese falsche<br />

Maskerade des angepassten Intellektuellen und Familienvaters.<br />

Oh, wie mich das quälte. Ich, Jean-Jacques,<br />

wollte eintauchen in die Natur – zum Urmenschen<br />

werden, frei von allen ökonomischen und bürgerlichen<br />

Zwängen: ein Pilger auf dem Weg zu meinem<br />

wahren Selbst. „Man muss wissen, was sein soll, um<br />

das, was ist, recht beurteilen zu können“, schrieb ich<br />

einst. Und ich wusste, was sein soll: ein natürliches<br />

und individuelles Leben.<br />

Dahin aber, meine Freunde, kommt<br />

man nicht mit Flugzeugen oder Kreuzfahrtschiffen.<br />

Dahin kommt man nur<br />

auf Schusters Rappen. „Wer ans Ziel<br />

kommen will, kann mit der Postkutsche<br />

fahren, aber wer richtig reisen will, soll<br />

zu Fuß gehen“ – das ist mein Motto für<br />

gute Reisen. Und glaubt mir, ich habe<br />

es häufig erprobt, wenn ich quer durch<br />

Europa zog. Immer kam ich mir selbst<br />

am nächsten, wenn ich durch die Natur<br />

wandelte und die Städte hinter mir<br />

gelassen hatte. Von mir aus könnt ihr das auch mit dem<br />

Fahrrad machen, aber langsam – und ohne Motor.<br />

Nicht, weil ich ein Öko wäre, sondern weil ich möchte,<br />

dass ihr eure Ketten sprengt: die Ketten der Konsumzwänge,<br />

die ihr euch selber auferlegt. Macht euch frei<br />

davon, jetzt ist die Zeit dazu. Brecht aus aus dem Gefängnis<br />

eurer Konventionen! Bon voyage!<br />

JEAN-JACQUES ROUSSEAU (1712–1778)<br />

war ein Denker, an dem sich die Geister schieden. Die einen verehrten<br />

ihn als „Deuter des Lebens“ und „Helfer der Wahrheit“,<br />

die anderen verbrannten seine Bücher. Tatsächlich war er eine<br />

schillernde Figur; ein Autor, der in seinem pädagogischen Roman<br />

„Émile“ für eine ganzheitliche Erziehung des Menschen votierte,<br />

seine eigenen fünf Kinder aber ins Findelhaus gab, der die bürgerliche<br />

Freiheit schätzte und allen bürgerlichen Konventionen entkommen<br />

wollte. Kein Wunder, dass er überall aneckte und zuletzt<br />

sein Heil in einem zurückgezogenen und isolierten Leben suchte.<br />

DR. CHRISTOPH QUARCH BENE ROHLMANN<br />

20 THE RED BULLETIN

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