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GUI<strong>DE</strong><br />
Lesestoff<br />
Erster Absatz aus „Der Bluthund“<br />
„Jack Reacher und Michelle Chang verbrachten drei Tage in Milwaukee.<br />
Am vierten Morgen war sie fort. Als Reacher mit Kaffee<br />
ins Zimmer zurückkam, fand er auf seinem Kopfkissen ein paar<br />
Zeilen. Solche kurzen Abschiedsbriefe hatte er schon mehrmals<br />
gesehen. Direkt oder indirekt besagten sie alle das Gleiche.<br />
Changs Zeilen waren indirekt. Und eleganter als die meisten.<br />
Aber nicht, was die Präsentation betraf: mit Kugelschreiber<br />
auf ein von Feuchtigkeit gewelltes Blatt Motelpapier gekritzelt.<br />
Aber elegant im Ausdruck. Sie hatte eine Metapher gewählt,<br />
um zu erklären und zu schmeicheln und sich zu entschuldigen –<br />
alles gleichzeitig. Sie hatte geschrieben: ‚Du bist wie New York.<br />
Ich besuche es liebend gern, aber ich könnte nicht dort leben.‘“<br />
LESETIPPS<br />
Einzelkämpfer<br />
in Serie<br />
Vier Romanfiguren, mit denen man sich<br />
nur im Lesesessel anlegen sollte.<br />
JAKOB HÜBNER VINZ SCHWARZBAUER<br />
analytischen Verstand und<br />
getrieben von einem unbeugsamen<br />
Gerechtigkeitssinn,<br />
der nur einen Gesetzgeber<br />
kennt: Jack Reacher.<br />
Dass es Lee Child gelungen<br />
ist, aus dieser Ausgeburt an<br />
himmelschreiender Trivialität<br />
den aktuell vielleicht konsistentesten<br />
Charakter des gepflegten<br />
Suspense mit einer<br />
weltweiten Auflage von über<br />
60 Millionen Exemplaren zu<br />
formen, grenzt an ein Wunder.<br />
Das Setting der Serie, die<br />
in deutscher Übersetzung<br />
mittlerweile 22 Romane umfasst,<br />
ist – mit Ausnahme<br />
dreier Prequels aus Reachers<br />
aktiver Militärzeit – stets ein<br />
ähnliches: Reacher, ziellos<br />
per Anhalter unterwegs und<br />
bewaffnet lediglich mit einer<br />
Klappzahnbürste, strandet<br />
zufällig irgendwo zwischen<br />
Nebraska und Nirgendwo,<br />
wird in einen Konflikt hineingezogen,<br />
der ihn eigentlich<br />
nichts angeht, leckt Blut und<br />
räumt auf. Konsequent, kompromisslos<br />
und knallhart.<br />
Was Lee Child jedoch von<br />
all seinen Kollegen aus der<br />
belletristischen Kriegerzunft<br />
unterscheidet, ist sein wirklich<br />
einzigartiger, ganz und gar<br />
pragmatischer Stil: Das ist<br />
Präzision und <strong>Red</strong>uktion in<br />
Perfektion. Die Plots sind am<br />
Punkt, die Charaktere sind<br />
am Punkt, die Dialoge sind am<br />
Punkt. Child schreibt so, wie<br />
Reacher reist: ohne Gepäck.<br />
Das gilt auch für den<br />
Reacher-Jahrgang <strong>2020</strong>, der<br />
uns Mitte Juli „Der Bluthund“<br />
bescherte. Den Startschuss<br />
liefert diesmal der Abschlussring<br />
einer Absolventin der<br />
Militärakademie West Point,<br />
den Reacher in der Auslage<br />
eines Pfandleihers entdeckt.<br />
Zunächst möchte er bloß<br />
herausfinden, wie und warum<br />
dieser dort gelandet ist. Aber<br />
schon recht bald ist neben<br />
dem Abschluss- auch ein<br />
Drogenring im Spiel. Und<br />
dann will es Reacher so richtig<br />
wissen …<br />
Vermutlich wird dies – und<br />
alle Fans müssen jetzt ganz,<br />
ganz stark sein – aber einer<br />
der letzten Reacher-Romane<br />
aus der Feder von Lee Child<br />
sein. Denn der hat angekündigt,<br />
die Figur schleichend –<br />
zunächst als Koautor und<br />
dann vollständig – an seinen<br />
jüngeren Bruder Andrew zu<br />
übergeben. Der ist zwar auch<br />
kein Genre-Frischling, ob er<br />
jedoch dieses schwere Erbe<br />
stemmen kann …? Abwarten<br />
und Reacher lesen.<br />
LEE CHILD,<br />
„<strong>DE</strong>R BLUTHUND“<br />
Ein Jack-Reacher-Roman (22),<br />
Deutsch von Wulf Bergnert.<br />
Blanvalet Verlag<br />
JASON BOURNE<br />
Alle 22 Bücher, die Robert<br />
Ludlum zu Lebzeiten veröffentlichte,<br />
landeten verlässlich<br />
auf Platz 1 der „New York<br />
Times“-Bestsellerliste – darunter<br />
auch jene drei, in denen<br />
der US-amerikanische Thrillmeister<br />
seine – nicht zuletzt<br />
dank der Verfilmungen mit<br />
Matt Damon – bekannteste<br />
Figur in Stellung brachte:<br />
Jason Bourne. Die Erfolgsserie<br />
rund um den Agenten<br />
ohne Gedächtnis wurde nach<br />
Ludlums Tod im Jahr 2001<br />
von Eric Van Lustbader artgerecht<br />
fortgesetzt und hält<br />
mittlerweile bei 14 Bänden.<br />
EVAN SMOAK<br />
Einst gehörte Evan Smoak<br />
zu einem streng geheimen<br />
US‐Regierungsprogramm<br />
namens Orphan, das Waisenkinder<br />
zu perfekten Killermaschinen<br />
hochzüchtet. Als<br />
dieses beendet wird, sucht<br />
Evan Buße für seine früheren<br />
Taten und wird zu einer Art<br />
tödlichem Samariter für Menschen<br />
in Not. Aber dann eröffnet<br />
sein ehemaliger Arbeitgeber<br />
die Jagd auf Evan – und<br />
liefert Gregg Hurwitz damit<br />
die Munition für ein großkalibriges<br />
Feuerwerk, das aktuell<br />
vier Bände ohne nennenswerte<br />
Atempause umfasst.<br />
VICTOR<br />
Auf bisher acht Bände<br />
hat es die „Victor“-Serie des<br />
britischen Autors Tom Wood<br />
gebracht – was angesichts<br />
des Lebenswandels der Titelfigur<br />
eine beachtliche Leistung<br />
ist. Denn Victor ist ein<br />
eiskalter, hochbezahlter<br />
Profikiller, der permanent<br />
im Fadenkreuz mächtiger<br />
Gegner agiert. Wood beweist<br />
in diesem mörderischen Katzund-Maus-Spiel<br />
ein feines Gespür<br />
fürs richtige Timing und<br />
kostet dabei eine sehr seltene<br />
erzählerische Freiheit genüsslich<br />
aus: Sein Held muss<br />
kein Sympathieträger sein.<br />
HARRY HOLE<br />
Alkoholkrank, alleinstehend,<br />
obrigkeitsresistent … Mit<br />
Harry Hole hat der norwegische<br />
Ausnahmekönner<br />
Jo Nesbø ein oft bemühtes<br />
Stereotyp des Hardboiled-<br />
Genres auf ein ungewohnt<br />
hohes Niveau gehievt. Die<br />
ebenso intelligent wie komplex<br />
strukturierten Plots der<br />
bisher zwölfteiligen Romanserie<br />
entstammen eher<br />
dem klassischen Krimifach,<br />
die Art und Weise, wie Harry<br />
Hole seine Fälle löst, lassen<br />
das literarische Getriebe<br />
aber in einer deutlich härteren<br />
Gangart krachen.<br />
THE RED BULLETIN 87