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The Red Bulletin September 2020 (DE)

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HOCH HINAUS.<br />

Vladik zeigt einen<br />

elegant ausgeführten<br />

„360 Kick Flip“<br />

vor der ehe maligen<br />

4711-Zentrale in Köln.<br />

Dass Skateboarden für Vladik eine ganze Zeitlang<br />

der einzige Weg war, sich auszudrücken, hat<br />

mit seiner Herkunft zu tun. Zur Welt kam er 1988 in<br />

der weißrussischen Trabantenstadt Nawapolazk, als<br />

Sohn einer alleinerziehenden Ingenieurin. Die Stadt<br />

im Norden des Landes war ursprünglich als Wohnstätte<br />

für die sozialistischen Arbeiterinnen und Arbeiter<br />

geplant worden, die in den Fabriken im Windschatten<br />

der Stadt Polazk arbeiteten. Vladik war<br />

gerade mal ein Schulkind, als seine Mutter beschloss,<br />

sich in Deutschland eine Arbeit als Haushaltshilfe<br />

zu suchen, um Vladik eine bessere Zukunft zu ermöglichen.<br />

Sieben Jahre lang pendelte sie zwischen<br />

Bielefeld und Nawapolazk, zwischen westdeutscher<br />

Beschaulichkeit und postsowjetischer Plattenbausiedlung,<br />

wo Vladik derweil bei seiner Oma lebte.<br />

Irgendwann dann wünschte er sich als Mitbringsel<br />

ein Skateboard von seiner Mutter, ein eigenes.<br />

Unter den Freunden, mit denen er seine Nachmittage<br />

verbrachte, gab es zwei Bretter, die sich<br />

fünf Jungen teilten. Die ersten Versuche waren recht<br />

hilflos; Skate-Magazine schafften es nicht bis nach<br />

Nawa polazk, viel Internet war nicht, sowieso sollte<br />

es bis zur Erfindung von YouTube noch ein paar<br />

Jahre dauern. Moskau, wo es um die Jahrtausendwende<br />

herum schon so etwas wie eine Szene gab,<br />

war mit mehr als 600 Kilometern unendlich weit<br />

entfernt.<br />

Irgendwann holte ihn seine Mutter nach Bielefeld.<br />

Vladik, mittlerweile 14 Jahre alt, war noch<br />

nie in Deutschland gewesen und sprach kein Wort<br />

dieser fremden, irre komplizierten Sprache, deren<br />

Schriftbild zu allem Überfluss auch rein gar nichts<br />

mit dem kyrillischen Alphabet des Russischen gemein<br />

hatte. Anfangs verwechselte er „Bitteschön“<br />

und „Dankeschön“, in der Schule lachten sie ihn<br />

aus. Wenn er von der Lehrerin aufgerufen wurde,<br />

sprach er seine Antwort vor lauter Scham eher in<br />

sich hinein als laut und deutlich aus. Nur zwei Jahre<br />

dauerte es, bis sein Deutsch flüssig war. Aber bis<br />

heute ist es manchmal etwas vernuschelt, während<br />

er behauptet, in seiner Muttersprache über eine sehr<br />

klare Aussprache zu verfügen.<br />

Skaten immerhin ging auch, ohne zu sprechen.<br />

Anfangs stand Vladik im Skatepark allerdings immer<br />

nur am Rand, schaute denen zu, die es besser konnten,<br />

und traute sich nicht, selbst zu fahren. Erst<br />

abends, wenn die anderen nach Hause gegangen<br />

THE RED BULLETIN 61

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