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hinnerk Juni / Juli 2021

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Wenn ich aus Gender und Queer Studies<br />

mit der Botschaft rausgehe, dass Männer<br />

scheiße sind und Frauen weniger Geld<br />

verdienen, dann habe ich auf jeden Fall das<br />

Falsche gelernt. Oder zu wenig. Oder ich<br />

habe es nicht geschafft, von der individuellen<br />

Ebene auf eine Strukturebene zu wechseln.<br />

Bei den Gender und Queer Studies gehört<br />

es dazu zu lernen Gesellschaft über<br />

Machtverhältnisse strukturiert zu verstehen.<br />

Geschlecht und Sexualität sind nur zwei<br />

davon. Da kommen noch diverse andere<br />

Diskriminierungsformen wie Rassismus,<br />

Ableismus, Klassismus dazu. Diese greifen<br />

ineinander: Ich kann Geschlecht z. B. nicht<br />

von Rassifizierung oder von Körpern trennen.<br />

Solche Themen kann ich mir nicht aus dem<br />

Ärmel schütteln, sondern ich muss lernen,<br />

wie ich auf Gesellschaft, Subjekt, Begehren<br />

und Diskriminierung gucke. Um bei deinem<br />

Beispiel zu bleiben „Männer sind scheiße“.<br />

Ich kann das zwar so sagen, aber was bringt<br />

mir das? Es wäre aus Sicht der Gender und<br />

Queer Studies interessanter zu gucken, dass<br />

unsere Gesellschaft über eine bestimmte<br />

Form von Männlichkeit organisiert ist. Sie<br />

ist ein Grundbaustein dieser Gesellschaft,<br />

Nation und des westlichen Subjekts. Alles,<br />

was wir lernen über uns und wie wir zu<br />

denen, die wir sind, werden, ist über Männlichkeit<br />

definiert. Diese Art von Männlichkeit<br />

ist schädlich, sie ist kolonialistisch geprägt<br />

und beruht auf der Vorstellung bestimmter<br />

körperlicher und geistiger Verfassungen oder<br />

Befähigungen. Diese Vorstellung ist in uns<br />

allen, nicht nur in denjenigen, die Männer in<br />

dieser Gesellschaft sind.<br />

„Das Prinzip Männlichkeit<br />

müssen wir<br />

alle analysieren und in<br />

seiner Schädlichkeit<br />

bekämpfen.“<br />

Es ist toxisch sowohl für individuelle Männer<br />

als auch für unseren gesellschaftlichen<br />

Umgang miteinander und Gesellschaft an<br />

sich. Dein nächstes Beispiel mit dem Geldverdienen:<br />

Dass Frauen weniger verdienen,<br />

ist natürlich auf einer individuellen und<br />

politischen Ebene wichtig und muss geändert<br />

werden. Ich kann mich also hinsetzen<br />

und politisch daran arbeiten, dass Frauen<br />

genauso viel Geld verdienen wie Männer.<br />

Aber aus einer queer-feministischen Perspektive<br />

ist die Fragestellung zu kurzgefasst<br />

und analytisch fehlerhaft. Und zwar aus<br />

mehreren Gründen. Zum einen erfasst<br />

die Statistik meistens nur die Kategorien<br />

„Männer“ und „Frauen“, neuerdings vielleicht<br />

noch „divers“. Aber wer kann sich eigentlich<br />

unter divers einordnen? Dieses Konstrukt ist<br />

ja nicht für alle zugänglich, die es vielleicht<br />

füllen könnten.<br />

Das heißt, wenn ich statistisch Männer<br />

und Frauen in ihren Berufen erfasse, wen<br />

erfasse ich eigentlich? Und wen erfasse<br />

ich nicht? Wenn ich irgendwann an den<br />

Punkt komme, dass ich sagen kann: Männer<br />

und Frauen sind gleich bezahlt. Sind dann<br />

alle Menschen gleich bezahlt oder sind<br />

tatsächlich nur Männer und Frauen gleich<br />

bezahlt? Bei solchen Statistiken liegt der<br />

Fokus außerdem meist auf legalen bzw.<br />

legalisierten Arbeitsverhältnissen. Das<br />

heißt, ich habe innerhalb eines Staates<br />

wie Deutschland eine große Menge von<br />

Menschen, die in dieser Auflistung gar nicht<br />

erfasst sind. Aus einer queer-feministischen<br />

und intersektionalen Perspektive liegt mir<br />

eher daran, dass alle Menschen eine gleiche<br />

Lebensgrundlage erhalten oder dass ihre<br />

Arbeit eine gleiche Wertigkeit erfährt. Beim<br />

Fokus auf das Geldverdienen von Frauen<br />

übersehe ich also sowohl verschiedene<br />

Geschlechter als auch illegalisierte oder<br />

undokumentierte Arbeitsverhältnisse. Wenn<br />

ich auf eine Meta-Ebene gehe, kommt noch<br />

hinzu, dass die Behebung der schlechteren<br />

finanziellen Situation von Frauen nur ein<br />

Pflaster für vergeschlechtlichte Machtverhältnisse<br />

darstellt. Das Bild von Geschlecht<br />

wird nicht dadurch verändert, dass Frauen<br />

genauso viel verdienen wie Männer. In<br />

den Gender und Queer Studies muss ich<br />

begreifen, dass unsere Gesellschaft über<br />

Geschlecht geordnet wird und das in der<br />

Einteilung in ein binäres Geschlecht, in der<br />

Hierarchisierung zwischen Männern und<br />

Frauen und dann in dem Ausschluss aller<br />

anderen Geschlechter, nicht nur individuelle<br />

Diskriminierung liegt, sondern dass<br />

da drin eine Ordnung liegt.<br />

Diese Ordnung hält<br />

Gesellschaft am Laufen<br />

und diese Ordnung<br />

hält eine bestimmte<br />

Machtverteilung<br />

aufrecht, sodass für<br />

einzelne Gruppen<br />

der Bevölkerung<br />

eine privilegierte<br />

Position gesichert<br />

wird. Die Aufgabe von<br />

Gender und Queer Studies<br />

ist es, solche Zusammenhänge<br />

herauszuarbeiten und dazu beizutragen,<br />

die gesellschaftlichen Ungleichheiten zu<br />

verändern bzw. abzuschaffen.<br />

Queer Studies benötigt teilweise<br />

so viel Vorwissen, dass eine Lücke<br />

zwischen der queeren Community<br />

und den Queer Studies entsteht.<br />

Gleichzeitig kam mir der Gedanke,<br />

dass die schlechte universitäre Lage<br />

in Deutschland dazu führt, dass die<br />

Community teilweise viel weiter ist<br />

als das Wissen, was gerade in Universitäten<br />

und Hochschulen angeboten<br />

wird. Was sind deine Gedanken dazu?<br />

SZENE 11<br />

Ich würde Community und Academia nicht<br />

unbedingt so scharf trennen wollen. Ich<br />

bin z. B. selbst Teil von Community und Teil<br />

von akademischer Forschung. Genauso<br />

wie ich sind viele Leute, die akademisch<br />

mit marginalisierten Themen zu tun<br />

haben, selbst häufig marginalisiert. D.h.<br />

es besteht ein Wechselbezug zwischen<br />

akademischer Forschung und Diskussionen<br />

in der Community. Akademische Forschung<br />

und Community-Wissen sind in einem<br />

Wechselspiel und beeinflussen sich immer<br />

wieder gegenseitig. Mal ist das eine weiter<br />

und mal das andere. Zum Teil kommen die<br />

Themen, die an den Hochschulen erforscht<br />

werden, ja direkt aus dem Leben der<br />

Menschen. Wenn wir uns geschlechtliche<br />

Identifizierung angucken, also z.B. welche<br />

Wörter wir für uns benutzen, merken wir,<br />

dass die sich teilweise so schnell ändern,<br />

dass die Forschung nicht so schnell hinterherkommt.<br />

Gleichzeitig bezieht Community<br />

ihr Wissen aus akademischer Forschung<br />

und entwickelt es weiter, beispielsweise<br />

zu trans*queeren Körperlichkeiten und<br />

Materialisierung von Körperwissen. Eine<br />

Folge der universitären Unterfinanzierung<br />

ist auf jeden Fall, dass sich Menschen in<br />

Queer Studies an den Hochschulen nicht<br />

wirklich weiterentwickeln können. Meine<br />

Erfahrung aus der Lehre ist, dass ich in<br />

jedem Semester, mit jedem Kurs von<br />

vorne anfangen muss, weil es anderswo nie<br />

Thema ist. In meiner Lehre kann ich so auch<br />

nicht weitergehen, weil ich immer wieder die<br />

Basics unterrichten muss. So kann sich an<br />

den Universitäten kein Wissen in den Queer<br />

Studies aufbauen und weiterentwickeln.<br />

Mir ist aufgefallen, dass<br />

wir Texte von vor 30,<br />

40 Jahren gelesen<br />

haben und der Inhalt<br />

bahnbrechend neu<br />

für mich war.<br />

Für mich liegt darin<br />

auch eine Traurigkeit,<br />

dass ich immer wieder<br />

an diesen Punkt komme,<br />

Studierenden 30 Jahre alte<br />

Texte zu geben und die sind so:<br />

„Wow, noch nie gehört!“ Es ist tragisch,<br />

dass marginalisiertes Wissen immer wieder<br />

neu ist und dass es nicht schon längst<br />

zu einer Art Kanon dazugehört. Dadurch,<br />

dass das Wissen an den Universitäten<br />

nicht gefestigt wird, fehlt den Communitys<br />

dieses Wissen. Teil der Gender und Queer<br />

Studies sind beispielsweise auch intersektionale<br />

Denkrichtungen, also Schwarzes<br />

feministisches Denken von vor 30 Jahren<br />

und teilweise noch länger. Schwarzer Feminismus<br />

hat sehr viel dazu beigetragen, wie<br />

wir Mehrfachdiskriminierung verstehen und<br />

wie wir inzwischen über Intersektionalität<br />

und über Identitätspolitik sprechen können,<br />

ohne darin essenzialistisch zu werden. Mein<br />

FOTO: KARL BEWICK/UNSPLASH/CC0

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