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altlandkreis - Das Magazin für den westlichen Pfaffenwinkel - Ausgabe Juli/August 2021

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Hilfe bei Magersucht, Bulimie und Esssucht<br />

Wenn Essen zur Qual wird<br />

Weilheim | Seit Beginn der Corona-<br />

Pandemie häufen sich die Fälle<br />

von Essstörungen massiv. „Insbesondere<br />

während des ersten und<br />

zweiten Lockdowns sind unsere<br />

Anlaufstellen regelrecht überrannt<br />

wor<strong>den</strong> mit Beratungsanfragen“,<br />

sagt Dorothea Voß. Die Diplom-<br />

Theologin und Fachberaterin <strong>für</strong><br />

Essstörungen leitet von „Therapienetz<br />

Essstörung“ die Außenstellen<br />

in Weilheim und Garmisch-Partenkirchen,<br />

leistet somit einen einzigartigen<br />

Beitrag in der Bekämpfung<br />

eines gesundheitlichen Problems,<br />

von dem überwiegend das weibliche<br />

Geschlecht betroffen ist. Als<br />

„bundesweit einzigartig“ ist nicht<br />

die wertvolle Arbeit an sich gemeint,<br />

die Voß und ihre Kolleginnen<br />

tagtäglich leisten, sondern das<br />

flächendeckende, fachspezifische<br />

Angebot dieses Therapienetzwerks.<br />

„Anlaufstellen <strong>für</strong> Menschen mit<br />

Essstörungen sind nahezu ausschließlich<br />

in <strong>den</strong> ganz großen<br />

Städten Deutschlands wie Frankfurt,<br />

Berlin und Hamburg angesiedelt.“<br />

Auch das „Therapienetz<br />

Essstörung“ wurde 2009 in München<br />

gegründet, wo sich auch nach<br />

wie vor die Zentrale dieser Organisation<br />

befindet. Einzigartig sind<br />

jedoch die vielen regionalen Außenstellen,<br />

die in <strong>den</strong> vergangenen<br />

Jahren im kompletten oberbayerischen<br />

Raum geschaffen wur<strong>den</strong>.<br />

„Wir haben schon sehr früh festgestellt,<br />

dass viele Betroffene oder<br />

deren Angehörige oft weite Wege<br />

auf sich genommen haben“, sagt<br />

Dorothea Voß, die von zahlreichen<br />

Klienten mit mehr als zweistündigen<br />

Anfahrtszeiten bis nach München<br />

berichtet. So fing die Organisation<br />

schrittweise an, immer mehr<br />

Anlaufstellen auch außerhalb der<br />

Landeshauptstadt zu eröffnen. Die<br />

erste Außenstelle damals: die in<br />

Weilheim, die ziemlich genau vor<br />

20 Jahren geschaffen wurde, sich<br />

heute in der Fischerstraße befindet.<br />

„In der Praxis von Dr. Jakob Nützel<br />

haben wir einen großen Raum nur<br />

<strong>für</strong> uns“, sagt Dorothea Voß, die<br />

zum 20-jährigen Jubiläum jedoch<br />

nicht wirklich Grund zur Freude<br />

hat. „Da<strong>für</strong> steigt die Zahl von<br />

Menschen mit Essstörungen derzeit<br />

schlichtweg zu stark an.“<br />

Mobbing, Leistungsdruck<br />

und Social Media<br />

Die wichtigste Aufgabe der in Weilheim<br />

arbeiten<strong>den</strong> Fachtherapeutinnen<br />

zunächst: Herauszufin<strong>den</strong>,<br />

ob tatsächlich eine Essstörung<br />

vorliegt. „Im Grunde immer dann,<br />

wenn sich im Leben der Betroffenen<br />

wirklich alles nur noch ums Essen<br />

dreht, was wiederum zu einer<br />

immens hohen Belastung <strong>für</strong> Geist<br />

und Körper führt“, sagt Dorothea<br />

Voß, die als inzwischen 57-Jährige<br />

viele Erfahrungen gesammelt hat<br />

in ihrem Berufsfeld und ganz genau<br />

weiß, wovon sie spricht. „<strong>Das</strong><br />

geht so weit, dass Betroffene Angst<br />

haben vor dem Essen, sich beim<br />

Essen extrem unter Stress setzen<br />

oder dabei einen regelrechten<br />

Selbsthass entwickeln.“ Auslöser<br />

einer Essstörung, die unterteilt<br />

wer<strong>den</strong> muss in Magersucht, Bulimie<br />

und Esssucht, gibt es viele.<br />

Falsche Vorbilder, realitätsfremde<br />

Schönheitsideale, Mobbing, Leistungsdruck<br />

in der Schule, im Studium,<br />

in der Ausbildung oder im Job,<br />

Beziehungsprobleme, aber auch<br />

die Scheinwelt in Social Media wie<br />

Facebook und Instagram, wo sich<br />

Promis wie Amateure stets von<br />

ihrer besten, meist mit Filtern aufpolierten<br />

Seite zeigen. All das führt<br />

insbesondere bei jungen Frauen,<br />

in <strong>den</strong> vergangenen Jahren aber<br />

auch immer häufiger bei jungen<br />

Männern, zu Selbstzweifeln und<br />

mangelndem Selbstvertrauen, was<br />

wiederum zu Essstörungen führen<br />

kann.<br />

Magersucht steht <strong>für</strong> starken Gewichtsverlust<br />

oder anhaltendes<br />

Untergewicht. Aus Angst, zuzunehmen<br />

oder zu dick zu sein, schränken<br />

die Betroffenen, meist Jugendliche<br />

im Alter von 13 bis 16 Jahren,<br />

ihre Nahrungsaufnahme stark ein<br />

und treiben obendrein Sport, um<br />

so immer stärker abzunehmen.<br />

„Übergewichtige junge Frauen,<br />

die aufgrund Magersucht abnehmen,<br />

sind im Anfangsstadium der<br />

Krankheit Stolz auf das Erreichte,<br />

wer<strong>den</strong> aus ihrem Umfeld <strong>für</strong> ihre<br />

schlanke Figur gelobt“, sagt Dorothea<br />

Voß über einen gefährlichen<br />

Trugschluss, der so lange Anhält,<br />

bis aus diesem vermeintlichen<br />

Idealgewicht deutlich sichtbares<br />

Untergewicht wird. Der positive Zuspruch<br />

von Freun<strong>den</strong>, Bekannten<br />

und Klassenkamera<strong>den</strong> nimmt in<br />

der Folge wieder ab, die von Magersucht<br />

betroffenen Frauen, die<br />

auffallend schlank und untergewichtig<br />

sind, sehen sich trotzdem<br />

als unförmig und dick. Dorothea<br />

Voß spricht an dieser Stelle von einem<br />

Teufelskreis, „von dem im Übrigen<br />

auch bildhübsche, topsportliche<br />

Mädels bedroht sind“.<br />

Letzteres gilt auch <strong>für</strong> Bulimie, wovon<br />

überwiegend Frauen im Alter<br />

von 16 bis 40 Jahren betroffen sind.<br />

Es handelt sich um Fress-Attacken<br />

mit „schier unvorstellbaren Mengen<br />

an Lebensmitteln“. Zwei Liter<br />

Eis, eine Packung Kekse sowie eine<br />

Packung Salzstangen auf einmal!<br />

Ein Topf voller Nudeln (500 Gramm<br />

auf einmal!) mit jede Menge Butter,<br />

dazu literweise Cola! „Sie stopfen<br />

sich so lange voll, bis sie erbrechen<br />

müssen.“ Der Trugschluss bei<br />

Bulimie: Es wird oft zu spät vom<br />

Umfeld erkannt, weil Betroffene<br />

weder auffallend stark zu- noch<br />

abnehmen.<br />

Esssüchtige adipöse Menschen, die<br />

es in allen Altersbereichen gibt,<br />

wissen dagegen bestens Bescheid<br />

über gesundes Essen und Diäten.<br />

Doch Stress im Job, Einsamkeit oder<br />

ein Trauma aus frühester Kindheit,<br />

zum Beispiel sexueller Missbrauch,<br />

entwickeln eine Suchtdynamik, die<br />

zu einem ständigen „vor sich hin<br />

Essen“ oder intensiven Essattacken<br />

führt. Dorothea Voß bezeichnet<br />

dieses Phänomen als „Schutzpanzer<br />

anfressen, um negative Gedanken<br />

und Gefühle zu überdecken“.<br />

Therapiemöglichkeiten<br />

vor Ort<br />

Wer selbst oder als Angehöriger<br />

von Menschen mit Essstörungen<br />

betroffen ist, sollte sich auf gar keinen<br />

Fall davor scheuen, professionelle<br />

Hilfe in Anspruch zu nehmen.<br />

„<strong>Das</strong> gilt natürlich auch <strong>für</strong> Männer,<br />

deren Hemmschwelle, sich professionelle<br />

Hilfe zu holen, viel größer<br />

ist als bei Frauen“, betont Dorothea<br />

Voß. Im Therapienetz Essstörung,<br />

das vor rund zwei Jahren auch eine<br />

> > > ZUM THEMA<br />

Außenstelle in Landsberg am Lech<br />

eröffnete, sind die ersten fünf Beratungen<br />

<strong>für</strong> Betroffene, aber auch<br />

deren Eltern, Freunde, Bekannte<br />

und Ehepartner kostenlos. Darüber<br />

hinaus wer<strong>den</strong> die Kosten weiterer<br />

Therapien von einigen Krankenkassen<br />

vollständig übernommen. Welcher<br />

Therapieansatz letztlich der<br />

richtige ist? „Genau das fin<strong>den</strong> wir<br />

<strong>für</strong> je<strong>den</strong> einzelnen heraus“, sagt<br />

Dorothea Voß, die gemeinsam mit<br />

ihren Kolleginnen über die Jahre<br />

hinweg ein starkes Netzwerk mit<br />

professionellen Hilfsangeboten direkt<br />

vor Ort aufgebaut hat. Die Rede<br />

ist von enger Zusammenarbeit mit<br />

Kliniken, ambulanten Psychotherapeuten,<br />

Jugendtherapeuten und<br />

Ernährungsberatern. „Wir haben<br />

hier in Weilheim und Umgebung<br />

wirklich gute Möglichkeiten, Menschen<br />

mit Essstörungen erfolgreich<br />

zu behandeln“, sagt Dorothea Voß,<br />

die sich inständig wünscht, dass<br />

die Pandemie schnellstmöglich ein<br />

Ende nimmt. „Essstörungen hat es<br />

immer schon gegeben.“ Seit Corona<br />

aber wür<strong>den</strong> viele ihre Freunde,<br />

ihren Vereinssport vermissen.<br />

Stu<strong>den</strong>ten ziehen zurück zu Papa<br />

und Mama, sitzen, wie auch Schüler,<br />

seit Monaten zuhause vor PC,<br />

Tablet, Laptop und Smartphone,<br />

quälen sich ab mit Distanzunterricht<br />

und Online-Vorlesungen. „<strong>Das</strong><br />

macht was mit <strong>den</strong> Menschen“, betont<br />

Dorothea Voß, die auch von<br />

einigen Rückfällen berichtet. js<br />

Wichtige Informationen zum „Therapienetz Essstörung“, das neben<br />

dem Hauptsitz in München elf Außenstellen in ganz Oberbayern betreibt,<br />

fin<strong>den</strong> Sie, liebe Leser, online unter www.tness.de. Die Außenstelle<br />

in Weilheim ist telefonisch unter 0881 / 9270808 erreichbar.<br />

juli / august <strong>2021</strong> | 47

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