Ausgabe 11/2021
Das Magazin für Herisau und Umgebung. Erscheinungsdatum: 3. November 2021
Das Magazin für Herisau und Umgebung. Erscheinungsdatum: 3. November 2021
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24 · zHerisau onderwegs <strong>11</strong>/<strong>2021</strong><br />
SONNTAGS GABS RINDSFLEISCH,<br />
WERKTAGS REIS UND BIRNEN<br />
Dank den grosszügigen Spenden von Laurenz Schefer und Johann Konrad Schoch konnte Herisau<br />
Waisen und anderen bedürftigen Kindern ein Zuhause bieten. Allerdings lief nicht immer alles so,<br />
wie es sich die beiden Gönner für die Schützlinge gewünscht hatten.<br />
Es dürfte nicht mehr erstaunen: Wann immer wir<br />
versuchen einen von uns gewählten Herisauer Ort<br />
zu beschreiben, ziehen wir weitaus grössere Kreise,<br />
als von uns geplant. Bevor wir die Geschichten<br />
der Menschen und Bauten im Waisenhaus auf dem<br />
Ebnet genauer betrachten, schicken uns die Historiker<br />
in den Sangen im Schachen.* Dort diente<br />
das 1625 von Landammann Johann Scheuss erbaute<br />
Haus von 1769 bis 1817 als Waisenhaus. Bis 1845 war<br />
es dann das Schulhaus für den Schulbezirk Schwänberg.<br />
Danach erhielt der Bezirk zwei besser gelegenen<br />
Schulen im Ramsen und im Moos.<br />
Schefer verwirklicht seinen Lebenswunsch<br />
Zurück zu den Anfängen der institutionalisierten<br />
Waisenbetreuung in Herisau: In älteren Zeiten, so<br />
August Eugster in der Herisauer Gemeindechronik<br />
von 1870, wurden die Waisen unter Verwandten<br />
verteilt. «Doch zeigten sich hiebei viele Übelstände.»<br />
Diese wollte Hauptmann Laurenz Schefer<br />
beheben. Pfarrer Leuzinger beschreibt in «Kurze<br />
Geschichte der Waisenanstalten in Herisau» (erschienen<br />
in «Verhandlungen des Schweizerischen<br />
Armenerziehervereins» Ende der 1860er-Jahre)<br />
die Lehr- und Wanderjahre von Schefer, dem Sohn<br />
eines Seilermeisters aus Teufen. In Halle etwa lernte<br />
der junge Appenzeller die Anstalten von August<br />
Hermann Francke kennen, «dem grossen Apostel<br />
der verlassenen Kinder». In Yverdon traf Schefer<br />
später den bernischen Pfarrer Samuel Lutz. Dieser<br />
«bewog den helldenkenden Appenzeller, sich<br />
wegen seiner zarten Gesundheit einem anderen<br />
Beruf zu widmen.» Schefer wurde Kaufmann und<br />
etabilierte sich nach seiner Rückkehr als einer der<br />
ersten Ausserrhoder im internationalen Textilhandel.<br />
Ab 1752 amtierte er als Ratsherr und war<br />
unter anderem auch Armenpfleger, wodurch der<br />
mit den Notständen der Gemeinde «gründlich<br />
bekannt wurde». Leuzinger: «Er und seine ihm<br />
gleichgesinnte Gattin Anna Mock übten grosse<br />
Wohltätigkeit durch beträchtliche Almosenspenden.<br />
[…] Er konnte dies umso eher tun, weil er reich<br />
war und ihm seine drei Kinder früh starben.» Und<br />
weiter: «Seit seinem Aufenthalt in Halle blieb der<br />
Wunsch seines Lebens, ein Waisenhaus für Herisau<br />
zu errichten, das ihm 1736 das Gemeindebürgerrecht<br />
geschenkt hatte.» Anfangs der 1760er Jahre<br />
schien ihm der richtige Zeitpunkt gekommen. «Er<br />
anerbot 4000 Gulden als freiwilligen Beitrag und<br />
sich selbst als Verwalter und Pfleger.» Und trotz<br />
«blindem Hass gegen Neuerungen, kleinlichem<br />
Neid und Selbstsucht, Zweifel am Gelingen, Befürchtungen<br />
wegen der Vereinigung von Kindern<br />
beider Geschlechter und Vorurteilen mancher<br />
Art», beschlossen die Herisauer Amtshauptleute<br />
und Räte 1762 ein Waisenhaus zu gründen. Obwohl<br />
der Spendenaufruf wenig Erfolg hatte, liess sich<br />
Schefer nicht entmutigen. Ein Neffe seiner Frau<br />
und Mitinhaber des Handelshauses Laurenz Schefer<br />
& Companie unterstützte die Idee. Erfolgreich<br />
sammelte er innerhalb seines Freundeskreises und<br />
fragte auch «menschenfreundliche Landsleute<br />
in der Fremde» an. Daraufhin spendete etwa der<br />
Holzhändler Johann Schiess aus Hamburg und ein<br />
nach Amsterdam ausgewanderter Buchbindergeselle,<br />
«welcher dort zu Geld gekommen war».<br />
Schefer kaufte die Liegenschaft im Sangen und<br />
liess sie an- und umbauen. Am 4. Februar 1769<br />
wurde das erste Waisenhaus in Herisau eröffnet.<br />
Gemäss Leuzinger konnten sieben, nach Lokalhistoriker<br />
Albert Kläger neun Kinder aufgenommen<br />
werden.<br />
Traurige Zustände<br />
Der Zustand der Kinder, über deren Aufnahme<br />
der Gemeinderat beschloss, wird als «traurig» beschrieben.<br />
Bis in die 1790er-Jahre wurden kaum<br />
jüngere als Siebenjährig aufgenommen, später<br />
auch schon mal Drei- oder Vierjährige. Leuzinger:<br />
«Immer waren auch einige Kostgänger da, sodass<br />
das Waisenhaus zugleich eine Art Versorgungsanstalt<br />
für ehrbare Gebrechliche war.» Beim Eintritt<br />
konnten die meisten Kinder spuhlen, spinnen oder<br />
weben, mit der Schulbildung hingegen sah es bedenklich<br />
aus.<br />
In den Hungerjahren 1770 bis 1772 beherbergte<br />
Schefer an die 50 Waisen. Zudem versorgte er<br />
eine weitere Anzahl armer Kinder in Privathäusern,<br />
liess sie ernähren, kleiden, unterrichten, bezahlte<br />
für andere Kostgeld, Hauszinse und Lebensmittel,<br />
erwarb ein Heimwesen nahe des Waisenhauses,<br />
«um seiner Wohltätigkeit mehr Spielraum und der<br />
öffentlichen Versorgungsanstalt mehr Ausdehnung<br />
und Solidität zu geben», und dies in einem<br />
Alter über 70. Schefer starb im Mai 1772. Kläger:<br />
«Die Rechnungen liess der edle Mann durch seinen<br />
treuen Knecht und nachherigen Waisenvater Hans<br />
Jakob Nef verbrennen, damit niemand erfahre, wie<br />
viel Gutes er getan hatte.» Auch die Waisenkommission<br />
war redlich um das Wohl der Kinder bemüht.<br />
So verordnete sie 1772, «dass alle Sonntage<br />
zum Mittag sämtlichen Kindern eine Portion Rindfleisch<br />
zur Speis verordnet seien und dann an den<br />
folgenden sechs Werktagen (…) die Kinder mit Ris,<br />
Birnstückli, Kirschenhung und anderem dergleichen<br />
gespeist werden». Da viele schlecht aussahen<br />
wurde den Waiseneltern befohlen, «die Kinder<br />
nach dem Mittagessen bis 1 Uhr und vor und nach<br />
dem Abendessen frei herumlaufen zu lassen, damit<br />
dieselben die frische Luft schöpfen (…) möchten.»<br />
Um die Disziplin sei es bis in die 1790er-Jahre<br />
gut gestanden, dann aber «kam’s schlecht». In einem<br />
halben Jahr seien fünf Kinder «entloffen». Und<br />
«weil von 1798 bis 1805 zwei untüchtige Väter hantierten,<br />
kam ein arger Geist in die Anstalt.» Es wird<br />
von Schlägen mit der Haselrute berichtet, auch davon,<br />
dass ein Mädchen, eine «abgefeimte Diebin»,<br />
tagelang angekettet war, bevor sie «anderwärts<br />
versorgt» wurde. «Als dann wieder ein ruhiger und<br />
milder Mann der Anstalt vorstand, wurde es gut<br />
und die Klagen verstummten. Der hatte aber lange<br />
ein schweres Kreuz an einem unsittlichen Schullehrer,<br />
der sogar geheimer Sünden beschuldigt wurde.<br />
Als dann auch dieser entfernt war, kam die Anstalt<br />
in einen guten Zustand.»<br />
Das ehemalige Waisenhaus im Sangen ist heute Wohnhaus.<br />
(Bilder: es)<br />
Das Waisenhaus zügelt vom Schachen ins Dorf<br />
Gerne hätte man das Haus näher im Dorf gehabt,<br />
zur besseren Aufsicht über Verwaltung, Waisenvater,<br />
Lehrer und Kinder. Die Lösung kam mit Johann<br />
Konrad Schoch, einem Handelsmann, der sich ein<br />
«ausserordentliches Vermögen erwarb, aber kinderlos<br />
war». Obwohl er in St. Gallen das Bürgerrecht<br />
erworben hatte und dort als Kantonsrat wirkte,<br />
war er Herisau sehr verbunden. Deshalb war er<br />
bereit, ein Kapital vom 20 000 Gulden zu stiften,<br />
«ebenso 2 200 Gulden, aus deren Zinsen ein zweiter<br />
Geistlicher für den Religionsunterricht bezahlt<br />
werden konnte». Eine weitere Bedingung war, dass<br />
ein Lehrer angestellt wurde. Als neuer Standort in<br />
Frage kamen die Bleiche im Moosberg, das untere<br />
Ebnet, die Hofegg und das Gut von Major Hans