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Ausgabe 11/2021

Das Magazin für Herisau und Umgebung. Erscheinungsdatum: 3. November 2021

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<strong>11</strong>/<strong>2021</strong> zHerisau onderwegs · 25<br />

Ehepaar habe diese Aufgabe «mit erstaunlichem<br />

Geschick, grossem Einsatz und gutem Erfolg zur<br />

besten Zufriedenheit bewältigt». «Träf» wie dies<br />

kein Psychologe oder Soziologe besser hätte tun<br />

können, habe Zwingli seine Schützlinge beurteilt<br />

und sei ihnen weit über die Zeit des Aufenthaltes<br />

im Waisenhaus ein wirklicher Vater gewesen. In<br />

ihren Erinnerungen schreibt Bertha Zwingli: «Das<br />

Waisenhaus Herisau beherbergte im April 1932, als<br />

wir unsere Aufgabe antraten, 73 Kinder. Vier Gehilfinnen<br />

und ein Gehilfe standen uns zur Seite. 321<br />

weitere Schützlinge haben dann in den 30 Jahren<br />

bei uns ihr Heim gefunden. Alle brauchten nicht nur<br />

Obdach und Pflege, sie brauchten viel Verständnis<br />

für ihre Eigenart sowie Fürsorge und Liebe. Sie alle<br />

sollten nicht in eine Anstalt kommen, sondern in<br />

ein Heim, wo Familiensinn gepflegt wird.»<br />

Das ehemalige Waisenhaus im Ebnet beheimatet heute die Schulverwaltung der Gemeinde Herisau, das Mitte des<br />

19. Jahrhunderts erstelle Nebengebäude wird als Schulhaus genutzt.<br />

Georg Würzer am Katzenbühl. Am 26. November<br />

1815 nahm die Kirchhöri das Geschenk von Johann<br />

Konrad Schoch mit allen Bedingungen an, und am<br />

Silvester des gleichen Jahres entschied das Volk,<br />

«das dem Johann Jakob Scheuss gehörende untere<br />

Ebnet aus den freiwillig gesammelten Beiträgen für<br />

12 165 Gulden anzukaufen». Das Kapital von Schoch<br />

blieb somit unangetastet und konnten für den Bau<br />

verwendet werden. Für die Aufsicht verantwortlich<br />

war die rechte Hand Schochs, der Amtsschreiber<br />

und spätere Seckelmeister und Präsident der Waisenhausbau-Kommission<br />

Johannes Fisch. Leuzinger:<br />

«Der Bau des Hauses begann am 4. Juni 1816,<br />

und nach 17 Wochen, am 28. September, wurde der<br />

Dachstuhl aufgerichtet.» Schoch erlebte den Tag,<br />

an dem das neue Waisenhaus bezogen wurde, nicht<br />

mehr. Er starb im April 1817.<br />

Zu straffe oder zu schlaffe Leitung<br />

Am 6. November 1817 bezogen 35 Knaben und 21<br />

Mädchen mit dem neue Waisenvater Hans Konrad<br />

Stricker, das von Zimmermeister Johannes Alder<br />

erbaute Haus im Ebnet. Der alte Waisenvater wurde<br />

gemäss Rotach kurz vorher abgesetzt, weil er<br />

«Erdäpfel veruntreut, auch zum Amte gehörende<br />

Hühner verkauft und nicht in Rechnung gebracht<br />

hatte». Vom leitenden Personal, bestehend aus<br />

den Waiseneltern, dem Lehrer, einer Arbeitslehrerin<br />

und einem Knecht, erhoffte man sich Grosses,<br />

sollte doch «das im Sangen in der letzten Zeit<br />

mangelhaft besorgte Erziehungswerk nun in besserer<br />

Weise fortgesetzt werden». Nach Rotach war<br />

dies eine umso schwerere Aufgabe, «als oft auch<br />

erwachsene Personen, offenbar Idioten und Geisteskranke,<br />

aufgenommen wurden.» Noch schlimmer<br />

aber waren die Widerwärtigkeiten, die 1822<br />

aufgedeckt wurden und in den uns vorliegenden<br />

Quellen milde mit «Verwirrungen von zwei Vätern»<br />

oder klar mit «der Waisenvater und sein Bruder,<br />

sowie ältere Waisenknaben machten sich schwerer<br />

Vergehen gegen die Waisenmädchen schuldig»<br />

beschrieben werden. Auch später war nicht alles<br />

eitler Sonnenschein. 1835 forderte der amtierende<br />

Waisenpfleger Ramsauer, das Waisenhaus sei entweder<br />

aufzuheben oder «die Versorgungsanstalt in<br />

eine Arbeitsanstalt umzuwandeln». Man verfolgte<br />

letzteres. «Der Vater sollte Lehrer und Erzieher sein<br />

und die Mutter Unterricht in den weiblichen Arbeiten<br />

erteilen.» Rotach: «Trotz vielen Nachteilen der<br />

Anstaltserziehung waren sicherlich die Zöglinge<br />

im Waisenhaus meistens weit besser versorgt,<br />

als bei ihren oft schwachen oder gar lasterhaften<br />

Eltern. Es ist allerdings ein trauriges Kapitel, dass<br />

eine ganz Reihe leitender und lehrender Personen<br />

die Entlassung erhielten, die einen, weil sie ein zu<br />

straffes, die anderen, weil sie ein zu schlaffes Regiment<br />

führten.»<br />

Über die nächsten fast hundert Jahres des Waisenhauses<br />

Ebnet ist aus den von uns genutzten<br />

Quellen wenig zu erfahren. Etwa, dass bis 1851 auch<br />

andere Kinder des Bezirks die Waisenhausschule<br />

besuchen durften. Die Vorsteherschaft dann auf<br />

Antrag der Schulpflege eine Extraschule für die<br />

Waisen beschloss. Dies dauerte aber nur bis 1859.<br />

Danach wurden sie wieder vereint unterrichtet.<br />

1857 wurde, «da es an Raum mangelte, um alle<br />

gehörig zu beschäftigen und die Weberei damals<br />

reichlich Verdienste brachte», ein weiteres Gebäude,<br />

ein verputzter Riegelbau mit Walmdach, erstellt,<br />

bestehend aus einem grossen Webkeller, einer<br />

Schulstube und einer Lehrerwohnung. Bis 1907<br />

wurden die schulentlassenen Knaben im Webkeller<br />

sowie im landwirtschaftlichen Betrieb beschäftigt.<br />

Später betätigten sich die Knaben mit Gartenarbeiten,<br />

«im Holzschopf und im Hauswesen». Doch da<br />

der Anstaltsvater gleichzeitig auch Lehrer war, hatte<br />

er kaum Zeit, sich um die nicht mehr Schulpflichtigen<br />

zu kümmern. 1916 trennte man die Schule von<br />

der Waisenelternstelle.<br />

Von der Anstalt zum Heim mit Familiensinn<br />

Die jüngste Vergangenheit des Herisauer Waisenhauses<br />

prägten Bertha und Huldreich Zwingli-<br />

Eichelberger. Huldreich Zwingli, aufgewachsen im<br />

Toggenburg, lernte Landwirt und arbeitete nach<br />

dem ersten Weltkrieg als Meisterknecht in der Erziehungsanstalt<br />

Bilten. Dort lernte er seine Frau<br />

Berta Eichelberger kennen. Als junge Eheleute<br />

wirkten sie ab 1927 im Armenhaus in Schwellbrunn.<br />

Von 1932 bis 1962 dann als Waiseneltern in Herisau.<br />

Ihre Tätigkeit sei anfänglich von ausgebildeten<br />

Pädagogen misstrauisch kontrolliert worden, «weil<br />

man nicht verstehen konnte, dass einem Landwirt<br />

eine solche Aufgabe zugemutete wurde.» Doch das<br />

Vom Waisenhaus zum Kinderheim<br />

In den frühen 1970er-Jahren übernahmen Bertha<br />

und Paul Kurt-Messmer die Leitung des Waisenhauses,<br />

das auf Beschluss des Herisauer Gemeinderats<br />

im Dezember 1967 als gemeindeeigenes<br />

Kinderheim geführt wurde. 1973/1974 wurde das<br />

Gebäude totalrenoviert und umgebaut. Paul Kurt<br />

lobt im Fachblatt des Schweizerischen Heimwesens<br />

«sein» modernes und neuzeitliches Heim, das<br />

sich dank seiner speziellen Atmosphäre von allzu<br />

rationellen Zweckbauten unterscheide. Über die<br />

Kinder schreibt er: «Unsere Kinder kommen aus<br />

zerrütteten Ehen, sind Scheidungswaisen, Milieugeschädigte<br />

und Debile.»<br />

1990 kündigte sich dann das nahe Ende an. Aus<br />

der Gemeindechronik der appenzellischen Jahrbücher:<br />

«Schon dieses Jahr erfuhr man, dass im Laufe<br />

des Jahres 1992 das langjährige Heimleiterehepaar<br />

Kurt in den Ruhestand treten wird. Das auch mit<br />

auswärtigen Kindern besetzte Jugendheim erfüllte<br />

die wichtige Aufgabe, den Jugendlichen eine möglichst<br />

selbständige Lebensbewältigung zu gewährleisten,<br />

voll und ganz. Deshalb möchte der Gemeinderat<br />

das Heim weiterführen.» 1993 dann berichtet<br />

die die Appenzeller Zeitung: «Das Kinderheim Ebnet<br />

kann nach Ansicht des Gemeinderates Herisau<br />

in der jetzigen Form nicht mehr weitergeführt<br />

werden. […] Während das Heim mit seinen acht<br />

Kindern und vier Lehrlingen jahrzehntelang ein Familienbetrieb<br />

war, hat sich die Situation verändert.<br />

Ein Heim muss heute von sozialpädagogisch ausgebildeten<br />

Leuten betreut werden, und dies kostet<br />

mehr, als die Gemeinde aufbringen kann. […] Bis<br />

zur Vorlage eines neuen Finanzkonzeptes will der<br />

Gemeinderat das Heim vorübergehend schliessen.»<br />

Wie sich zeigte, nicht nur vorübergehend,<br />

sondern endgültig.<br />

Heute beheimatet das ehemaligen Waisenhaus<br />

die Schulverwaltung der Gemeinde Herisau,<br />

das 1857/58 zusätzlich erstellte Gebäude dient als<br />

Schulhaus. Das neue Schulhaus mit Turnhalle und<br />

Aussensportplatz wurde 1999 eingeweiht.<br />

<br />

Eva Schläpfer<br />

*Da wir in dieser Serie von einem Ort oder einem<br />

Gebäude ausgehen, finden in diesem Text das Kinderheim<br />

Bleiche und das Kinderheim «Gott hilft» Wiesen,<br />

die frühere «Rettungsanstalt für Knaben» keine Erwähnung.

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