Ausgabe 12/2023
Das Magazin für Herisau und Umgebung. Erscheinungsdatum: 6. Dezember 2023
Das Magazin für Herisau und Umgebung. Erscheinungsdatum: 6. Dezember 2023
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>12</strong>/<strong>2023</strong> Interview · 11<br />
Sie sollten immer spüren, dass ihre Mutter da<br />
ist. Heute kommen sie mich regelmässig besuchen<br />
und rufen fast täglich an. Das macht mich<br />
sehr glücklich, weil es zeigt, dass ich das eine<br />
oder andere richtig gemacht habe.<br />
Sie sind 1923 in Italien geboren, die Zeit zwischen<br />
den beiden Weltkriegen. Wie feierten<br />
Sie Weihnachten in Ihrer Kindheit?<br />
Ich bin in der Nähe von Venedig in einem armen<br />
Dorf aufgewachsen. Damals war alles<br />
einfacher, weil die Menschen nicht viel Geld<br />
hatten. An Weihnachten hat meine Mutter immer<br />
fein gekocht, danach sind wir als Familie<br />
zusammengesessen und haben gefeiert. Es<br />
gab keine Geschenke, aber das hat mich nie<br />
gestört, weil es allen gleich erging. Das hat<br />
mich gelehrt, dass man ausser den richtigen<br />
Menschen um einen herum nicht viel braucht,<br />
um glücklich zu sein. Als meine Kinder auf die<br />
Welt kamen, war es mir dennoch ein Anliegen,<br />
dass sie Geschenke bekamen. Ich wollte ihnen<br />
ermöglichen, was ich nicht haben konnte.<br />
«Das grösste<br />
Geschenk<br />
sind meine<br />
drei Kinder.»<br />
Wie schauen Sie auf die modernen Weihnachten?<br />
Viele Familien können sich heute alles leisten.<br />
Eltern müssen deshalb Grenzen ziehen und<br />
ihren Kindern aufzeigen, dass teure und grosse<br />
Geschenke nicht selbstverständlich sind.<br />
Alle Eltern kennen das, wenn sie mit ihren<br />
Kindern in ein Geschäft gehen und sie unbedingt<br />
etwas wollen. Da muss man auch einmal<br />
Nein sagen, damit sie lernen, dass es im Leben<br />
nicht alles geschenkt gibt. Ich kenne Familien,<br />
die zerbrochen sind, weil kein Nein akzeptiert<br />
wurde.<br />
Haben Sie Geschenke in Ihrer Kindheit nie<br />
vermisst?<br />
Nein, weil wir es nicht anders kannten. Wobei<br />
ich mich an eine Geschichte mit meiner Mutter<br />
erinnere. Ich musste Holz im Wald holen,<br />
damit wir es verkaufen konnten. Sie hat mir<br />
versprochen, mir mit dem Geld neue Schuhe<br />
zu schenken. Also habe ich fleissig gearbeitet.<br />
Aber letztlich hat meine Mutter gesagt, es habe<br />
nur für das Essen gereicht. Das war wichtiger<br />
als Schuhe. In diesem Moment war ich wütend,<br />
aber später habe ich sie verstanden.<br />
Wie hat sich Ihr Weihnachten über die Jahrzehnte<br />
verändert?<br />
In einem langen Leben gibt es immer wieder<br />
Veränderungen. In meiner Kindheit war es<br />
ein einfaches Fest. Mit 15 Jahren ging ich als<br />
Dienstmädchen nach Mailand. Kurz darauf<br />
brach der Zweite Weltkrieg aus und ich kehrte<br />
zu meiner Familie zurück. Es war eine sehr<br />
bedrückende Zeit, die mich bis heute verfolgt.<br />
Das Leben ging zwar weiter und hat irgendwie<br />
funktioniert, aber schön war es nicht. Da verkam<br />
Weihnachten zur Nebensache. Nach dem<br />
Krieg ging ich in die Schweiz und habe in der<br />
Textilindustrie gearbeitet. Ich habe meinen<br />
Mann kennengelernt, geheiratet und Kinder<br />
bekommen. Erst hier lernte ich Weihnachten<br />
mit Geschenken kennen.<br />
Was bedeutet Ihnen Weihnachten heute?<br />
Die Bedeutung ändert sich über die Jahre. Ausser<br />
meinen drei Kindern lebt niemand mehr<br />
von meiner Familie, deshalb ist auch meine<br />
Verbindung zu Italien nicht mehr so ausgeprägt<br />
wie früher. Zudem lebe ich seit sieben<br />
Jahren nicht mehr zuhause, sondern in der<br />
«Stiftung Leben im Alter Herisau» im Heinrichsbad.<br />
Aber ich finde es schön, dass wir hier<br />
unter den Bewohnerinnen und Bewohnern gemeinsam<br />
feiern. Wir essen zusammen, es wird<br />
gesungen und wir bekommen kleine Geschenke.<br />
Früher war ich an Weihnachten bei meinen<br />
Kindern, aber mittlerweile bin ich auf einen<br />
Rollstuhl angewiesen und habe Rückenprobleme.<br />
Aber sie kommen mich besuchen, darauf<br />
freue ich mich schon sehr.<br />
Finden Sie es schwierig, alt zu werden?<br />
Nein, weil ich das Altwerden als Teil des Lebens<br />
akzeptiere. Ich bin mir bewusst, dass ich nicht<br />
mehr alles gleich machen kann wie früher. Zudem<br />
bin ich hier von Menschen mit ähnlichen<br />
Problemen und Erfahrungen umgeben. Wenn<br />
ich sehe, dass andere nur noch im Bett liegen,<br />
schätze ich mich glücklich. Auch ich habe meine<br />
Wehwehchen, brauche einen Rollator und<br />
Hilfe beim Duschen. Aber alles andere mache<br />
ich eigenständig. Die bewahrte Selbstständigkeit<br />
erleichtert mir das Altern. Glücklicherweise<br />
ist mein Kopf noch gesund.<br />
Wären Sie gerne nochmals jung?<br />
Nein. Zumindest nicht, wenn ich mein Leben<br />
nochmals durchmachen müsste. Ich bin<br />
dankbar für vieles, aber jedes Leben hat seine<br />
Schattenseiten. Ich habe Kriege erlebt, musste<br />
den Tod meines Mannes verkraften, drei<br />
Kinder alleine grossziehen und viel arbeiten.<br />
Meine Kinder meinen manchmal, ich hätte zu<br />
wenig vom Leben gehabt. Dabei habe ich doch<br />
sie und durfte viele schöne Dinge erleben.<br />
Aber von vorne beginnen? Nein danke, das<br />
will ich nicht.<br />
Wie denken Sie über den Tod?<br />
Bis jetzt sagt Petrus am Himmelstor, dass mir<br />
noch ein wenig Zeit auf der Erde bleibt. Ich finde<br />
ja, ich müsste dort oben mal vorbeischauen<br />
und ein wenig aufräumen. Angst vor dem Tod<br />
habe ich nicht. Wir müssen alle irgendwann<br />
gehen. Ich denke und hoffe, dass ich auf der<br />
anderen Seite meine Familie wiedersehe. Aber<br />
niemand weiss, was nach dem Tod auf uns<br />
wartet – schliesslich ist noch niemand zurückgekehrt.<br />
Uns Lebenden bleibt nichts anderes<br />
übrig, als zu warten und uns auszumalen, wie<br />
es dort sein könnte.<br />
«Altwerden<br />
ist nun mal<br />
Teil des Lebens.»<br />
Wie sehen Sie die heutige Welt mit all ihren<br />
Problemen?<br />
Es scheint, als würde sich jede Geschichte<br />
irgendwann wiederholen – so grausam sie<br />
auch sein mag. Nur schon die Tatsache, dass<br />
die jungen Menschen heute wieder mit einem<br />
Krieg in Europa aufwachsen, macht mich traurig.<br />
Manchmal liegt das Schicksal vieler in den<br />
Händen einer Person. Geht diese ignorant mit<br />
ihrer Verantwortung um, kann sie Generationen<br />
von Menschen in dunkle Zeiten stürzen.<br />
Ich habe das vor vielen Jahren erlebt, nun sind<br />
wir wieder an einem ähnlichen Punkt.<br />
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, welcher<br />
wäre es?<br />
Ich habe zu meinem 100. Geburtstag eine Karte<br />
aus meiner Heimat in Italien erhalten. Über<br />
20 Personen haben unterschrieben, unter<br />
anderem Cousinen und Bekannte von früher.<br />
Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie überhaupt<br />
noch an mich denken. In diesem Brief<br />
haben sie geschrieben, dass sie mich besuchen<br />
wollen. Es würde mir viel bedeuten, wenn ich<br />
diese Menschen nochmals sehen könnte.<br />
100-Jährige in der Schweiz<br />
Sergio Dudli<br />
In der Schweiz leben pro 100'000 Einwohnerinnen<br />
und Einwohner rund 22<br />
Menschen, die über 100 Jahre alt sind.<br />
Der Kanton Appenzell Ausserrhoden<br />
liegt knapp unter dem Schnitt.