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E&W Dezember 2008 - GEW

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PISA-E<br />

Ex-Bürgermeister<br />

Henning Scherf<br />

(SPD) bekannte<br />

sich kurz nach<br />

Veröffentlichung<br />

der niederschmetternden<br />

PISA-Daten zur<br />

„politischen<br />

Schuld“.<br />

* Tillmann, K.J./Dedering,<br />

K./Kneuper,<br />

D./Kuhlmann, C./Nessel,<br />

I: PISA als bildungspolitisches<br />

Ereignis.<br />

Fallstudien in vier Bundesländern.<br />

VS-Verlag<br />

Wiesbaden <strong>2008</strong><br />

** OECD-PISA (Hrsg.)<br />

(2000): Schülerleistungen<br />

im internationalen<br />

Vergleich. Eine neue<br />

Rahmenkonzeption für<br />

die Erfassung von Wissen<br />

und Fähigkeiten.<br />

Berlin: MPI<br />

*** Mayntz, R. (2004):<br />

Governance im modernen<br />

Staat. In: Benz, A.<br />

(Hrsg.): Governance –<br />

Regieren in komplexen<br />

Regelsystemen. Wiesbaden:<br />

VS-Verlag<br />

Politik benutzt<br />

die PISA-Daten<br />

sehr gerne, um<br />

ohnehin getroffeneEntscheidungen<br />

zusätzlich oder<br />

im Nachhinein<br />

zu legitimieren.<br />

öffentlichen Widerstand gestoßen waren,<br />

nun politisch durchzudrücken.<br />

PISA übte, so gesehen, eine beschleunigende<br />

bzw. verstärkende Wirkung aus,<br />

bestimmte bildungspolitische Interessen<br />

durchzusetzen. Die Forderung nach<br />

zentralen Abschlussprüfungen wurde<br />

angesichts der schlechten PISA-Werte<br />

mehrheitsfähig – die SPD gab ihren Widerstand<br />

auf. Diese schnelle Entscheidung<br />

für zentrale Leistungsüberprüfungen<br />

unterstellte, dass damit die durch<br />

PISA aufgedeckten Defizite (Kompetenzdefizite<br />

in Lesen und Mathematik,<br />

hohe soziale Selektion) behoben werden<br />

könnten. Es ist aber empirisch überhaupt<br />

nicht erwiesen, dass kontinuierliche<br />

Leistungsüberprüfungen zu einem<br />

durchgängig verbesserten Unterricht<br />

und einem höheren Leistungsniveau<br />

führen.<br />

Allerdings war und ist ein großer Teil der<br />

Öffentlichkeit davon überzeugt, dass<br />

zentrale Prüfungen zu besseren Leistungen<br />

beitragen. Vor dem Hintergrund des<br />

besonders scharfen „PISA-Schocks“ in<br />

Bremen waren deshalb zentrale Prüfungen<br />

politisch nicht mehr zu stoppen.<br />

So wie in Bremen haben wir in unserer<br />

Untersuchung insgesamt 13 themenbezogene<br />

Fallstudien (zentrale Prüfungen,<br />

Ganztagsschule, Schulstruktur) durchgeführt,<br />

und zwar in vier Bundesländern<br />

(Brandenburg, Bremen, Rheinland-<br />

Pfalz, Thüringen). Welche Erkenntnisse<br />

haben wir aus der Analyse bildungspolitischer<br />

Prozesse nach PISA gewinnen<br />

22 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2008</strong><br />

können? Versetzten die Befunde die<br />

„Steuerleute“ – also die politischen Entscheidungsträger<br />

– tatsächlich in die Lage,<br />

auf die schulischen Probleme angemessen<br />

zu reagieren und entsprechende<br />

Maßnahmen zu initiieren?<br />

Wir stellten zunächst fest, dass Vergleichsstudien<br />

wie PISA mit ihren Resultaten<br />

keinesfalls bevorzugt die „Steuerleute“<br />

beliefern, sondern vor allem eine<br />

sehr aktive Medienöffentlichkeit bedienen.<br />

Seit PISA müssen sich Kultusminister<br />

vor allem mit dem öffentlichen<br />

Bild der Ergebnisse auseinandersetzen.<br />

Sie versuchen deshalb, darauf Einfluss<br />

zu nehmen und es zugleich für ihre Interessen<br />

zu nutzen. Das heißt: Bildungspolitische<br />

Maßnahmen im Anschluss<br />

an PISA erscheinen aus der Sicht der<br />

Ministerien nur dann als sinnvoll, wenn<br />

sie zugleich die öffentliche Akzeptanz<br />

der Regierungspolitik stärken. Die Einführung<br />

zentraler Prüfungen beispielsweise<br />

weist genau dieses Legitimationspotenzial<br />

auf. Ein anderes Beispiel ist<br />

der Ausbau offener Ganztagsschulen,<br />

den fast alle Schulministerien nach<br />

PISA betrieben haben. Was folgt daraus?<br />

Bestätigt wird die politikwissenschaftliche<br />

Erkenntnis, dass (bildungs-)<br />

politische Reformen nicht nur nach<br />

sachlichen Gründen, sondern häufig<br />

auch „aus einem machtpolitischen Kalkül<br />

gewählt und verfolgt“ werden<br />

(Mayntz 2004***).<br />

Politische Handlungslogik<br />

Diese kritische Sicht auf die bildungspolitischen<br />

Prozesse darf man allerdings<br />

nicht auf eine naive Politik- und Politikerschelte<br />

reduzieren: Die von uns in<br />

den Blick genommenen Akteure in den<br />

Ministerien sind in aller Regel kenntnisreich<br />

und souverän mit den PISA-Ergebnissen<br />

umgegangen – allerdings souverän<br />

innerhalb ihrer politischen Handlungslogik.<br />

Was bedeutet das? Bildungspolitisches<br />

Handeln kann sich nicht allein<br />

auf eine gründliche Prüfung von<br />

Forschungsergebnissen stützen, um aus<br />

dieser Perspektive die „richtigen“ Maßnahmen<br />

abzuleiten. Vielmehr spielen in<br />

der bildungspolitischen Arena noch andere<br />

Faktoren, Interessen und Akteure<br />

eine Rolle: Koalitionskompromisse<br />

ebenso wie regionale Besonderheiten<br />

und finanzielle Bedingungen. Politik<br />

hat diese Faktoren alle abzuwägen – dabei<br />

sind die PISA-Daten nur ein Element<br />

unter vielen. Es zeigt sich aber<br />

auch, dass Politik die PISA-Studien sehr<br />

gern benutzt, um ohnehin getroffene<br />

Entscheidungen (etwa die Abschaffung<br />

der Orientierungsstufe in Bremen) zusätzlich<br />

oder im Nachhinein zu legiti-<br />

mieren. Mit PISA politisch begründet<br />

wurde, übrigens zeitgleich, in einem anderen<br />

Bundesland (Brandenburg) das<br />

genaue Gegenteil: die Beibehaltung des<br />

gemeinsamen Lernens in den Jahrgängen<br />

5/6.<br />

Nun soll hier nicht behauptet werden,<br />

dass politische Entscheidungen nie<br />

sach-, sondern immer nur macht- und<br />

interessenorientiert verlaufen. Aber die<br />

Vorstellung von einer rationalen Steuerung<br />

des Bildungssystems durch die Ergebnisse<br />

der empirischen Bildungsforschung<br />

greift zumindest für die hier beschriebenen<br />

Prozesse nach PISA zu<br />

kurz. Denn es bleibt nicht nur unklar,<br />

was unter „Steuerungswissen“ eigentlich<br />

zu verstehen ist und wie die „Steuerleute“<br />

in den Ministerien die „richtigen“<br />

Konsequenzen ziehen können. Entscheidend<br />

in diesem Kontext ist vielmehr,<br />

dass politische Legitimation eine<br />

hohe Relevanz besitzt. Daraus ergibt<br />

sich: Alle politisch vorgetragenen Argumente<br />

des Typs „Aus den PISA-Ergebnissen<br />

ergibt sich, dass nun auf jeden<br />

Fall die Maßnahme X zu realisieren ist“,<br />

sind äußerst skeptisch zu bewerten: Wie<br />

wird z. B. plausibel gemacht, dass die<br />

Maßnahme X bei den Schülerinnen und<br />

Schülern tatsächlich fachliche Kompetenzen<br />

verbessert oder soziale Selektivität<br />

verringert? Und welche Forschungsergebnisse<br />

belegen das? Gleichzeitig<br />

gilt: Alle Aussagen der Art, die<br />

Maßnahme Y (z. B. Veränderung der<br />

Schulstrukturen) löse nicht die Probleme<br />

und sei deshalb abzulehnen, stehen<br />

oft auf nicht weniger tönernen Füßen.<br />

Hier muss kritisch nachgefragt werden:<br />

Welche politischen Interessen stehen<br />

dahinter, bestimmte Reformen von<br />

vornherein auszunehmen?<br />

Fazit<br />

Fest steht: Ein direkter Zusammenhang<br />

zwischen PISA-Ergebnissen und bildungspolitischen<br />

Reformen – eine Art<br />

„Sachzwang“ – existiert nicht. Deshalb<br />

lassen sich „Steuerungsmaßnahmen“<br />

aus PISA nicht einfach ableiten. Welche<br />

Reformen der Öffentlichkeit als notwendig<br />

und sinnvoll präsentiert werden,<br />

wird vielmehr im politischen Diskurs<br />

entschieden. Wenn es der Fach- und<br />

Medienöffentlichkeit gelänge, in diesem<br />

Diskurs stärker die Sicht und die Interessen<br />

von Lehrkräften und Schülern<br />

einzubringen, wäre einiges gewonnen:<br />

Es bestünde dann zumindest die Chance,<br />

pädagogisches Handeln zielgenauer<br />

und an den Problemen orientierter auszurichten.<br />

Klaus-Jürgen Tillmann, Professor für<br />

Schulpädagogik em., Universität Bielefeld

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