E&W Dezember 2008 - GEW
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„Wir brauchen keinen<br />
weiteren Sonderschultyp“<br />
KMK muss ihre falsche Hauptschulpolitik beenden<br />
Die kurz vor Veröffentlichung der<br />
innerdeutschen PISA-Befunde bekanntgewordene<br />
Absicht der Kultusminister,<br />
die Qualitätsüberprüfung<br />
für den Hauptschulabschluss auf die<br />
lange Bank zu schieben, hat in der<br />
Öffentlichkeit, bei Experten und der<br />
<strong>GEW</strong> einigen Wirbel verursacht.<br />
Marianne Demmer weist in ihrem<br />
Beitrag auf den Zusammenhang zwischen<br />
mangelhaften Schülerleistungen<br />
und selektiver Schulstruktur sowie<br />
fehlender individueller Förderung hin.<br />
Die <strong>GEW</strong> hatte seit längerem davor<br />
gewarnt, Bildungs- als Prüfungsstandards<br />
für bundesweite zentrale Abschlussprüfungen<br />
vorzusehen.<br />
Jetzt sitzt die Kultusministerkonferenz<br />
(KMK) in der Patsche<br />
und muss die Suppe auslöffeln,<br />
die sie sich gegen den Rat aller<br />
Experten selbst eingebrockt hat.<br />
Alle, die sich nur etwas näher<br />
mit den PISA-Ergebnissen beschäftigt<br />
haben, haben die KMK davor<br />
gewarnt, ihre Bildungsstandards als Abschluss<br />
bezogene Prüfungsstandards zu<br />
konzipieren. Die Experten der so genannten<br />
Klieme-Expertise* und die<br />
<strong>GEW</strong> haben mit Nachdruck dafür plädiert,<br />
die Bildungsstandards als Orientierungs-<br />
und Förderstandards auszulegen.<br />
Die Lehrkräfte sollten einen Maßstab<br />
für Qualität an die Hand bekommen,<br />
und für die politische und die<br />
schulaufsichtliche Ebene sollte deutlich<br />
werden, wo besondere Unterstützung<br />
notwendig ist.<br />
Weg ins Desaster<br />
Die <strong>GEW</strong> hat darauf hingewiesen, dass<br />
vor allem zentrale bundesweite Abschlussprüfungen<br />
für den Hauptschulabschluss,<br />
die auf einheitlichen Standards<br />
beruhen, in einem föderalen Land<br />
wie Deutschland nur ins Desaster<br />
führen könnten. Die Hauptschulquote<br />
lag 2006 bundesweit im 8. Schuljahr bei<br />
21,8 Prozent und bewegte sich unter den<br />
Bundesländern zwischen 10,9 Prozent<br />
in Hamburg und 34,7 Prozent in Bayern.<br />
Dass unter solchen Bedingungen<br />
Vergleiche nur in die Irre führen können,<br />
leuchtet unmittelbar ein. Entweder<br />
müssten die Anforderungen an den<br />
Bundesländern mit den schwächsten Ergebnissen<br />
ausgerichtet werden oder viele<br />
Schülerinnen und Schüler, die im anregungsarmen<br />
Milieu der Hauptschulen<br />
lernen müssen, bekommen keinen Abschluss.<br />
Letzteres ist zynisch und unverantwortlich<br />
gegenüber den Betroffenen.<br />
Eine Absenkung der Anforderungen<br />
und die Abkopplung von den übrigen<br />
Schulformen der Sekundarstufe I ist für<br />
die Qualitätsentwicklung verheerend.<br />
Die Hauptschule als weiterer Sonderschultyp<br />
ist wirklich das Letzte, was wir<br />
in Deutschland brauchen können.<br />
Vor allem die konservativen Kultusminister<br />
bestanden auf Hauptschul-Prüfungsstandards.<br />
Die KMK beauftragte<br />
das Institut für Qualitätsentwicklung im<br />
Bildungswesen (IQB) in Berlin, die entsprechenden<br />
Testaufgaben in Anlehnung<br />
an die Kompetenzstufen des<br />
PISA-Formats zu entwickeln und zu<br />
überprüfen. Und was stellten die Forscher<br />
fest? Mehr als 50 Prozent der<br />
Hauptschüler erreichen in Mathematik<br />
nicht den Mindeststandard (Kompetenzstufe<br />
II), 75 Prozent scheitern am<br />
schriftlichen Mindeststandard des Gemeinsamen<br />
Europäischen Referenzrahmens<br />
für Fremdsprachen.<br />
Und das sind die bundesdeutschen<br />
Durchschnittswerte! In den einzelnen<br />
Ländern dürften die Werte für Mathematik<br />
zwischen 40 und über 70 Prozent<br />
liegen. Anders ausgedrückt: Koppelt<br />
man den Hauptschulabschluss an die<br />
Mindestanforderungen, dürften ihn im<br />
Bundesdurchschnitt zirka 50 Prozent<br />
der Hauptschüler und in manchen Bundesländern<br />
sogar mehr als zwei Drittel<br />
nicht erhalten. Was das für die sowieso<br />
brachliegende Motivation dieser Schülergruppe<br />
bedeutet, muss nicht illustriert<br />
werden.<br />
Die KMK befindet sich in der babylonischen<br />
Gefangenschaft der Ideologie eines<br />
angeblich begabungsgerecht fördernden<br />
Schulsystems. Was soll sie tun?<br />
Soll sie die Qualitätsüberprüfung für<br />
Foto: imago<br />
den Hauptschulabschluss auf die lange<br />
Bank schieben und der Öffentlichkeit<br />
vorgaukeln, jetzt nähme man ganz<br />
enorme Unterstützungsmaßnahmen in<br />
Angriff, wie in einem vertraulichen Papier<br />
des IQB empfohlen wurde? Oder<br />
soll sie die Standards durch das IQB<br />
„passgenau“ machen lassen, sprich das<br />
Niveau absenken, wie es in der Empfehlung<br />
der Staatssekretäre für die KMK-<br />
Konferenz im <strong>Dezember</strong> anklingt?<br />
Hauptschulpolitik gescheitert<br />
Es gibt nur eine vernünftige Konsequenz:<br />
Die KMK muss das Scheitern ihrer<br />
Hauptschulpolitik und ihrer Politik<br />
der Bildungsstandards als Prüfungsstandards<br />
eingestehen. Vertuschen, schönen,<br />
die Ansprüche herunterschrauben<br />
hilft niemandem, vor allem den Hauptschülerinnen<br />
und -schülern nicht. Die<br />
einzig vernünftige Reaktion wäre: Abschaffen<br />
des Bildungsgangs Hauptschule<br />
und konsequente Förderung schwacher<br />
Schülerinnen und Schüler. Irgendwann<br />
werden sie es einsehen – fragt sich<br />
nur, wie lange die Hauptschulideologen<br />
dazu brauchen.<br />
Marianne Demmer, Leiterin des<br />
<strong>GEW</strong>-Organisationsbereichs Schule<br />
PISA-E<br />
Weitere Infos und die<br />
Position der Bildungsgewerkschaft<br />
zu den Bildungsstandards<br />
in der<br />
<strong>GEW</strong>-Publikation „NationaleBildungsstandards<br />
– Wundermittel<br />
oder Teufelszeug“,<br />
Darmstadt 2003,<br />
www.gew.de/Bildungsstandards.pdf<br />
s. auch <strong>GEW</strong>-Stellungnahme<br />
auf der Homepage:www.gew.de/gewstellungnahme-standards.pdf<br />
s. auch E&W-Berichterstattung<br />
zu Bildungsstandards<br />
in 6/2002,<br />
11/2002, 3/2003,<br />
9/2003, 10/2003,<br />
12/2003, 7-8/2004,<br />
10/2004, 12/2005.<br />
*Eckhard Klieme u. a.:<br />
„Zur Entwicklung nationaler<br />
Bildungsstandards<br />
– Eine Expertise, Deutsches<br />
Institut für Internationale<br />
Pädagogische<br />
Forschung 2003<br />
Die schlechten<br />
Leistungsergebnisse<br />
der Hauptschulen<br />
lassen<br />
sich nicht schönreden.<br />
Die einzig<br />
vernünftige Reaktion<br />
wäre: Abschaffung<br />
der<br />
Hauptschule.<br />
12/<strong>2008</strong> Erziehung und Wissenschaft 23