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Adventskalender 2013 mit Texten von Prälat Dr. Betram Meier

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Trauben sind etwas Besonderes. Wie der Apfel nicht weit vom Baum fällt, so<br />

ist es auch <strong>mit</strong> den Trauben. Der Weinstock, ein Edelgewächs, trägt zu Recht<br />

eine Edelfrucht. So ist ein Weinberg eben etwas anderes als ein Kartoffeloder<br />

Rübenacker. Man muss nur einmal <strong>mit</strong> einem Hobby-Weingärtner<br />

gesprochen haben, dann weiß man: Am Weinberg hängt das Herz. Große<br />

Musikstücke sind Themen <strong>mit</strong> Variationen. Kann es deshalb eine passendere<br />

Deutung zum heutigen Bild geben als jene vom Thema <strong>mit</strong> Variationen zum<br />

Weinberg?<br />

Beginnen wir <strong>mit</strong> der Melodie, die das Alte Testament zum Thema<br />

schreibt. Es handelt sich um einen poetischen Text. Der Prophet Jesaja schlüpft<br />

sozusagen in die Rolle eines Liedermachers, eines Straßensängers, der auf<br />

einem öffentlichen Platz oder in einer Gastwirtschaft seine Lieder zum Besten<br />

gibt: Sensationsgeschichten, Polit-Songs, Herz-Schmerz-Melodien und selbst<br />

gemachte Chansons. Heute singt er das Lied <strong>von</strong> seinem Freund, einem<br />

Weinbergbesitzer, der alle Mühe in seinen Weinberg investiert hat und doch<br />

ohne Erfolg bleibt. Kein Aufwand ist ihm zu teuer, keine Mühe zu groß, keine<br />

Arbeit zu viel. Für leidenschaftliche Liebhaber zählen keine Zeit und keine<br />

Kraft. Leidenschaft kennt kein Kalkül. Die Leidenschaft gilt seinem Weinberg:<br />

in sonniger Lage angelegt; <strong>mit</strong> den edelsten Rebsorten bepflanzt; der Boden<br />

gepflegt; der Turm in der Mitte; und die Kelter steht schon für die Lese bereit.<br />

Aber am Ende, zur Erntezeit, die Stunde der Wahrheit: Ernüchterung. Nichts<br />

als verfaulte, stinkende Beeren. Nichts für den Tischwein, geschweige denn<br />

für die Spätlese. Zwischen Investition und Ertrag ein eklatantes Missverhältnis!<br />

Der Prophet legt den Befund seinen Zuhörern vor. Bitte, bildet euch selbst ein<br />

Urteil! Hat der Weinbergbesitzer irgendetwas versäumt? Hat er etwas zu tun<br />

vergessen oder unterlassen?<br />

Wo aber alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind und trotzdem nichts<br />

fruchtet, da ist die Maßnahme des Weinbergbesitzers die einzig richtige, so<br />

schwer sie auch fällt: Auflassung des Weinbergs, Rückführung zu Steppe und<br />

Weideland. Für eine Edelfrucht ist das Land nicht tauglich. Die Mauer wird<br />

eingerissen, der Boden zertrampelt, die Reben überwuchert und der Regen<br />

verhindert. Alles war vergebliche Liebesmüh’. Die leidenschaftliche Liebe<br />

schlägt um in leidenschaftlichen Zorn. Was der frustrierte Weinbergbesitzer<br />

tut, ist einfach vernünftig. Man kann es ihm nicht verdenken. Keiner investiert<br />

in einen hoffnungslosen Fall. Die Hörer dieses Liedes können dem nur<br />

beipflichten.<br />

Aber ist das alles? Ist denn der Ärger über einen ertraglosen Weinberg<br />

ein Lied wert? Hat ein solches Thema überhaupt eine Chance, in die<br />

Schlagerparade einzuziehen und zum Hit zu werden? Das will uns nicht recht<br />

hinunter. Wo bleibt denn die Sensation? Doch wenn wir uns tiefer einhören<br />

in dieses Lied, wenn wir durchhören auf tiefere Schichten, dann wird uns<br />

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