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Adventskalender 2013 mit Texten von Prälat Dr. Betram Meier

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Philipp Nicolai ist 41 Jahre alt. Er hat schon viel durchgemacht in seinem<br />

Leben, musste sich mehr als einmal durchbeißen: damals nach dem frühen<br />

Tod seiner Mutter, dann später im Studium, wo er sich das Essen für die<br />

nächste Woche oft selbst verdienen musste. In Unna starb seine Schwester,<br />

un<strong>mit</strong>telbar nachdem er dort als Pfarrer eingeführt wurde: die Schwester, die<br />

ihn – einen ursprünglich ehelos lebenden evangelischen Pfarrer – versorgt<br />

hatte.<br />

Neben diesen Schicksalsschlägen prägen Pfarrer Nicolai die<br />

Glaubenskämpfe unter den Christen verschiedener Konfessionen. Lutheraner,<br />

Reformierte und Katholiken sind sich spinnefeind, sie bekämpfen sich bis aufs<br />

Blut. Pfarrer Nicolai bleibt nicht außen vor. Er nimmt kein Blatt vor den Mund.<br />

Er streitet für die Lehre Luthers, attackiert seine Gegner heftig und nicht<br />

immer fair. So macht er sich viele Feinde – bis dahin, dass er steckbrieflich als<br />

„Papst-Hasser“ gesucht wird.<br />

Dennoch: Die Monate, in denen Nicolai die Pestepidemie <strong>mit</strong> den<br />

Bewohnern der Stadt Unna durchstehen musste, übersteigen alles, was er<br />

bis dahin erlebt hatte. Des Streitens ist er müde geworden. Nicolai geht in<br />

sich. Abende und Nächte verbringt er bei Kerzenschein in seiner Studierstube.<br />

Er liest in der Bibel; dort findet er Halt und Trost. Er fängt zu schreiben an:<br />

ein Büchlein <strong>mit</strong> dem Titel „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ (1599).<br />

Nicolai hatte weder Musik noch Poesie studiert. Über seine polemischen<br />

Streitschriften redet heute niemand mehr, aber die beiden einzigen Lieder aus<br />

dem „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ sind zum ökumenischen Liedgut<br />

geworden: „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ und „Wie schön leuchtet der<br />

Morgenstern“.<br />

Die Lust am Streiten war dem Pfarrer bei seinem schweren Dienst<br />

vergangen. Stattdessen entdeckt er neu, was der Kern des christlichen<br />

Glaubens ist. Als die Not am größten ist, kommt Gott ihm am nächsten.<br />

Philipp Nicolai muss erst die tiefsten Tiefen durchmessen, bevor er wegkommt<br />

<strong>von</strong> den konfessionellen Streitigkeiten und inspiriert wird zu den „königlichen“<br />

Liedern, die bis heute Generationen <strong>von</strong> Menschen trösten.<br />

Hier erschließt sich uns das Grundgesetz des Glaubens an Gott, der im<br />

Kommen ist: Nie ist die Kirche mehr eine singende und musizierende als<br />

in Not und Bedrängnis. Je mehr Sterbende Pfarrer Nicolai bis an das Tor zur<br />

Ewigkeit begleiten und je mehr Hinterbliebene er trösten muss, umso mehr<br />

weitet sich der Blick auf das himmlische Jerusalem. „Zion hört die Wächter<br />

singen, das Herz tut ihr vor Freude springen, sie wachet und steht eilend auf.“<br />

In dem Lied „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ hat Nicolai übrigens<br />

eine Widmung versteckt: Die Anfangsbuchstaben der drei Strophen, <strong>von</strong> der<br />

dritten zur ersten gelesen, ergeben „GZW“. Das sind die Initialen für „Graf<br />

zu Waldeck“. Der Graf zu Waldeck war ein Junge, den Nicolai als Lehrer zu<br />

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