Rotary Magazin 10/2023
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ROTARY INTERNATIONAL – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – OKTOBER <strong>2023</strong><br />
Vor unserem Wohnhaus angekommen,<br />
versicherte sich Kenny: «Der Arzt des Kindes<br />
ist auch hier, richtig?» Als mein Vater<br />
dies verneinte, wurde die Krankenschwester<br />
energisch: «Ich steige erst aus, wenn<br />
der Arzt auch auftaucht.» Daraufhin<br />
rannte mein Vater los. Er fand Dr. Suna;<br />
dieser begleitete Kenny schliesslich in<br />
unsere Wohnung.<br />
Meine Mutter öffnete die Tür, begrüsste<br />
sie und führte sie durch den<br />
langen Flur zur Küche. Ich sass auf dem<br />
Tisch, mit dem Rücken zur Wand, das Bein<br />
mit dem Gips vor mir. Noch bevor die<br />
Schwester mich begrüsste, bat sie ihre<br />
Assistentin um eine Schere. Sie schnitt den<br />
Gips ab und schleuderte ihn quer durch<br />
die Küche, direkt zum Mülleimer. «Wir<br />
haben es hier nicht mit einem gebrochenen<br />
Bein zu tun», rief sie empört aus,<br />
«sondern mit Kinderlähmung!»<br />
Damit war der Anfang gemacht; es<br />
folgte die Zeit der Wollstreifen in kochend<br />
heissem Wasser. Einmal am Tag, manchmal<br />
zweimal, wurde ich dieser Prozedur<br />
unterzogen. Nach drei Monaten war ich<br />
mobil. Mein rechtes Bein war kürzer und<br />
mein rechter Fuss zwei Schuhgrössen kleiner<br />
als der linke, doch ich glich das<br />
geschickt aus. Indem ich vermehrt auf<br />
dem Fussballen bzw. den Zehenspitzen<br />
ging, war irgendwann kaum mehr zu<br />
erkennen, dass meine Beine unterschiedlich<br />
lang waren.<br />
Zum Rennen, Springen oder Hüpfen<br />
indes reichte es nicht. Entsprechend selten<br />
spielte ich mit anderen Kindern. Meistens<br />
sass ich mit Erwachsenen auf dem Sammelplatz<br />
unter dem grossen Baum vor unserem<br />
Wohnhaus. Die Frauen brachten Küchenstühle<br />
nach draussen, bildeten einen Kreis<br />
und unterhielten sich. Ich wurde eine engagierte<br />
Zuhörerin und lernte, wie man sich<br />
mit Erwachsenen unterhält. Wenn ich<br />
etwas sagen wollte, musste es stichhaltig<br />
sein, damit die Frauen mir ihre Aufmerksamkeit<br />
schenkten.<br />
Was ich gehört habe: Kinos und<br />
Schwimmbäder wurden geschlossen, um<br />
die Ausbreitung von Polio zu verhindern.<br />
Eine Behinderung zu haben, war ein<br />
Schicksal und schlimmer als der Tod. Und<br />
die Leute gingen ins Krankenhaus, um zu<br />
sterben. Als ich sechs Jahre alt war, hatte<br />
ich bereits eine Menge gelernt.<br />
Ich nahm zu dieser Zeit immer stärker<br />
wahr, dass ich anders war als die anderen.<br />
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Ina Pinkney, 80, Polio-Überlebende und gefeierte Gastronomin aus Chicago, spricht ihrem sechsjährigen Ich Mut zu