Rotary Magazin 10/2023
You also want an ePaper? Increase the reach of your titles
YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.
ROTARY INTERNATIONAL – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – OKTOBER <strong>2023</strong><br />
ROTARISCHER ESSAY<br />
HALLO, INA.<br />
ICH BIN’S, INA.<br />
Ina Pinkney, 80, Polio-Überlebende und gefeierte Gastronomin<br />
aus Chicago, spricht ihrem sechsjährigen Ich Mut zu.<br />
Das Erste, woran ich mich im Leben erinnern<br />
kann, ist Schmerz. Mein Schmerz.<br />
Aus einem Topf mit kochend heissem<br />
Wasser werden Wollstreifen herausgefischt.<br />
Mein Vater hatte die Decke zu<br />
Kriegszeiten auf dem Schwarzmarkt<br />
gekauft. Die Streifen werden ausgewrungen<br />
und um mein dünnes, schlaffes Bein<br />
gewickelt.<br />
Dann trockene Streifen, um die nassen<br />
zu bedecken, und schliesslich ein Stück<br />
Wachstuch, mit dem das komplette Bein<br />
umhüllt wird. Was darauf folgt? Endloses<br />
Warten, bis die Tücher abgekühlt sind, bis<br />
mein Bein wieder ausgepackt wird und die<br />
zartrosa Haut mit Kakaobutter massiert<br />
werden kann.<br />
Mein Vater sagt, ich hätte bei dieser<br />
Prozedur nie geweint. Er hingegen schon.<br />
Am Labor Day 1944 war ich 18 Monate<br />
alt. Mein Vater legte seine ausgestreckten<br />
Arme über mein Kinderbett, aber ich<br />
konnte nicht aufstehen. Ich versuchte es<br />
und fiel wieder hin. Immer und immer<br />
wieder. In dem Moment, als er meine Stirn<br />
berührte und das hohe Fieber spürte,<br />
wusste mein Vater, dass die Polioepidemie,<br />
die in New York City grassierte, auch<br />
Brooklyn erreicht hatte.<br />
Mein Vater nahm mich auf den Arm<br />
und brachte mich zu Dr. Suna, der eine<br />
Praxis in unserem Haus hatte. Der Arzt, der<br />
mich fest an sich drückte, machte eine<br />
Lumbalpunktion, eilte in sein Labor und<br />
bestätigte die schlimmste Befürchtung:<br />
Ich litt an Polio.<br />
Wir fuhren mit dem Auto von Dr. Suna<br />
zum Krankenhaus. Meine Mutter war mit<br />
meinem Bruder schwanger, und mein<br />
geliebter Grossvater, der an Krebs erkrankt<br />
war, lebte bei uns, also blieb Mutter zu<br />
Hause. Als mein Vater und Dr. Suna die<br />
Poliostation sahen, in der die Kinder allein<br />
gelassen wurden und die Eltern nur einmal<br />
in der Woche für eine Stunde hinter Glaswänden<br />
zu Besuch kommen durften,<br />
waren sie sich einig: Sie würden mich nach<br />
Hause bringen und dort nach Kräften<br />
pflegen.<br />
Nachdem die grippeähnlichen Symptome<br />
und das Fieber abgeklungen waren,<br />
riefen Vater und Dr. Suna den March of<br />
Dimes an. Die US-amerikanische Wohltätigkeitsorganisation<br />
hat sich zum Ziel<br />
gesetzt, die Gesundheitssituation von<br />
Kindern und Neugeborenen zu verbessern.<br />
Die Verantwortlichen dort verpassten<br />
mir eine lange Schiene für mein<br />
gelähmtes rechtes Bein und alle beschlossen,<br />
erst einmal «abzuwarten».<br />
Die Monate gingen ins Land. Inzwischen<br />
verlor ich die Fähigkeit, meinen Fuss<br />
nach oben zu bewegen, und die Schiene<br />
wurde in einen Gips umgewandelt. Man<br />
wollte «dem Senkfuss helfen». Die ganze<br />
Zeit über kämpften meine Eltern und<br />
Dr. Suna mit dem Status quo. Es gab<br />
wenig, was sie für mich tun konnten. Entsprechend<br />
gross war ihre Verzweiflung.<br />
Dann las mein Vater in der Zeitung,<br />
dass sich Schwester Elizabeth Kenny in<br />
New York City aufhielt, und Hoffnung<br />
keimte auf. Kenny war eine australische<br />
Krankenschwester, die zu Hause Polioausbrüche<br />
behandelt hatte und fest davon<br />
überzeugt war, dass die von ihr verschriebenen<br />
«Hot Pack»-Behandlungen Linderung<br />
schafften. Die Muskeln von Kindern,<br />
die an Polio erkrankt sind, seien verkrampft<br />
und müssten gedehnt werden,<br />
so Kennys Credo. Entsprechend heilsam<br />
könnte feuchte Wärme, gefolgt von sanften<br />
Übungen, sein. Viele Mitglieder der<br />
amerikanischen Ärzteschaft lehnten Eli zabeth<br />
Kenny und ihre neuartigen Vorstellungen<br />
von Physiotherapie ab; entsprechend<br />
unwürdig ging man mit der<br />
Krankenschwester um.<br />
Mein Vater jedoch setzte grosse Stücke<br />
auf Kenny. Er rief jedes Hotel in New<br />
York City an, klapperte sprichwörtlich alle<br />
Häuser ab, um sie zu finden. Kaum hatte<br />
er endlich ihre Assistentin am Apparat,<br />
kam die Ernüchterung: Um nicht noch<br />
mehr Schwierigkeiten mit der lokalen<br />
Ärzteschaft zu bekommen, hatte Kenny<br />
beschlossen, keine Patienten ausserhalb<br />
des Krankenhauses zu behandeln.<br />
Mein Vater legte auf. Er fühlte sich<br />
zu tiefst verzweifelt.<br />
Die ganze Nacht lang sass er auf einem<br />
Stuhl neben meinem Bettchen und beobachtete<br />
mich im Schlaf. Am anderen Morgen<br />
wagte er einen erneuten Versuch. Er<br />
würde alles tun, versicherte er der Assistentin,<br />
damit Kenny mich untersucht.<br />
Diesmal willigte sie ein.<br />
Also lieh mein Vater sich ein Auto, fuhr<br />
nach Manhattan und holte die grosse australische<br />
Frau mit ihrem eindrucksvollen<br />
Hut ab. Schwester Kenny sass auf dem<br />
Vordersitz, ihre Assistentin nahm auf dem<br />
Rücksitz Platz. Während der Fahrt zu uns<br />
nach Hause erkundigte sich Schwester<br />
Kenny nach den Einzelheiten. Wann war die<br />
Krankheit diagnostiziert worden? Was<br />
hatte man seither unternommen? Nach<br />
Aussage meines Vaters hörte Kenny aufmerksam<br />
zu, mit vorgerecktem Kiefer, als<br />
würde sie sich auf einen Kampf vorbereiten.<br />
47