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Rotary Magazin 10/2023

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ROTARY INTERNATIONAL – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – OKTOBER <strong>2023</strong><br />

Ich war verunsichert, weil man mich verspottete.<br />

Die Blicke der anderen kränkten<br />

mich. Ich konnte mich auf meinen eigenen<br />

Körper nicht verlassen. Das Gefühl, nicht<br />

ganz zu sein, nicht komplett, machte mich<br />

unendlich traurig.<br />

Als man mir sagte, dass ich erneut ins<br />

Krankenhaus müsste, schien mir die Sache<br />

klar. Ins Krankenhaus geht man zum Sterben;<br />

das hatte ich unter dem Baum gelernt.<br />

Um ein nicht gelebtes Leben kann man im<br />

Alter von sechs Jahren noch nicht trauern;<br />

trotzdem hatte ich Angst. Man hatte mir<br />

gerade einmal sechs Jahre geschenkt. Der<br />

Mann, von dem neulich die Rede war,<br />

hatte immerhin 49 Jahre bekommen …<br />

Was mich gerettet hat, war das Buch<br />

«Madeline» von Ludwig Bemelmans.<br />

Madeline war eine Schülerin, eines von<br />

einem Dutzend Mädchen in einem französischen<br />

Internat. Sie war furchtlos und<br />

ganz anders als alle anderen Mädchen.<br />

Während alle vor dem Tiger im Zoo Angst<br />

hatten und sich zusammenkauerten, ging<br />

Madeline mutig bis zum Käfig. Auch<br />

Madeline ging ins Krankenhaus – und kam<br />

mit einer Narbe am Bauch wieder heraus.<br />

Also nahm ich mir vor, das Krankenhaus<br />

ebenfalls mit einer Narbe am Bauch zu<br />

verlassen.<br />

Gut, es sollte keine Narbe am Bauch<br />

werden, sondern eine am Bein … Als ich<br />

nach der Operation wieder zu mir kam,<br />

war ich zunächst verwirrt. Ich war noch<br />

am Leben. Soll heissen, dass im Krankenhaus<br />

doch nicht zwingend gestorben<br />

wird. Irgendwie, wurde mir klar, hatte ich<br />

eine zweite Chance bekommen. Genauso<br />

wie Madeline.<br />

Spätestens in diesem Moment wurde<br />

sie für mich endgültig zur Heldin. Ich<br />

würde, genau wie sie, meine eigenen<br />

Regeln aufstellen, ich würde mein eigenes<br />

Leben erschaffen und meinen eigenen<br />

Weg bestreiten. War ich dabei immer<br />

erfolgreich? Beileibe nicht. Aber ich habe<br />

mich angestrengt, und ich habe viel<br />

erreicht.<br />

Wenn ich meinem sechsjährigen Ich<br />

schreiben könnte, um ihm einen Ausblick<br />

auf das Leben zu geben, dann würde ich<br />

sagen:<br />

«Meine liebe Ina, dein Leben begann<br />

auf die härteste Art und Weise, die man<br />

sich vorstellen kann: Du bist im Alter<br />

von gerade einmal 18 Monaten an Polio<br />

erkrankt – die beste Voraussetzung für<br />

eine Kindheit voller Spott und Schikane,<br />

voller Ausgrenzung, Ächtung und Ignoranz.<br />

Du wirst deine erste Lektion lernen,<br />

sobald du begreifst, dass du freundlicher<br />

bist als die Menschen um dich herum.<br />

Dein Vater wird derjenige sein, der dir<br />

beibringt, dass du einmal mehr aufstehen<br />

musst, als du hinfällst. Und er wird immer<br />

da sein, um all die Unmöglichkeiten, die<br />

sich dir bieten, gemeinsam mit dir zu<br />

bewältigen.<br />

Später, wenn du grösser bist und<br />

erwachsen, wirst du Bill Pinkney heiraten,<br />

der es liebt, allein um die Welt zu segeln.<br />

Es wird 36 Jahre dauern, bis ihr beiden<br />

einseht, dass eure Ehe am Ende ist. Wenn<br />

einer sich die meiste Zeit über auf dem<br />

Meer aufhält, während die andere an<br />

Land auf ihn wartet, kommt die Liebe allmählich<br />

abhanden. Doch auch, wenn ihr<br />

euch scheiden lasst: Ihr werdet nie vergessen,<br />

warum ihr euch damals so unsterblich<br />

ineinander verliebt habt.<br />

Dein Leben, meine kleine Ina, wird<br />

sich wie ein Roman lesen und wird vielen<br />

wie ein Traum vorkommen. Du wirst mit<br />

Maya Angelou in Greenwich Village<br />

abhängen, wirst Michail Baryschnikow in<br />

den Kulissen eines Theaters in Chicago<br />

über die Stirn wischen und mit Fred Astaire<br />

auf einer Party tanzen. Du wirst Fallschirmspringen,<br />

Wildwasser-Rafting machen<br />

und Tauchen, und du wirst die Alpen und<br />

die Rocky Mountains auf deinem einen<br />

guten Bein hinabfahren. Du wirst furchtlos<br />

sein, Ina, aber niemals leichtsinnig, und du<br />

wirst dich immer als den Urheber deiner<br />

Geschichte sehen, niemals als das Opfer.<br />

Daneben wirst du dich bemühen,<br />

deinen Platz in der amerikanischen Gesellschaft<br />

zu finden, auch in der Arbeitswelt.<br />

Bei insgesamt 21 Jobs, die du im Laufe<br />

deines Lebens haben wirst, wird man dich<br />

19-mal feuern. Doch du wirst auf jeder<br />

einzelnen Etappe etwas lernen, was du<br />

später brauchen kannst.<br />

Im stolzen Alter von 37 Jahren, liebe<br />

Ina, wirst du deinen ersten Kuchen backen<br />

und dabei eine seltsame Freude empfinden,<br />

womöglich eine Vorahnung. Wenig<br />

später richtest du dir eine Backstube ein,<br />

bringst dir selbst das Backen bei und gründest<br />

1980 ein Cateringunternehmen für<br />

Desserts – zu einer Zeit, als es etwas Vergleichbares<br />

nicht gab. 1991, wenn du 48<br />

Jahre alt bist, eröffnest du dein erstes<br />

Restaurant. Und du stellst fest, dass es eine<br />

enorme Motivation ist, unterschätzt zu<br />

werden.<br />

«Ina’s Kitchen» wird die Frühstückskultur<br />

in Chicago für immer verändern. Du<br />

wirst Julia Child und Wolfgang Puck verköstigen<br />

und die grosse Freundlichkeit von<br />

Anthony Bourdain erleben. Berühmtheiten<br />

und Politiker werden zu dir strömen,<br />

ebenso wie viele Chicagoer Köche, die vor<br />

deinen Augen reifen und Chicago zu einer<br />

Gastro-Destination von Weltrang machen.<br />

Letztendlich wirst du als eine Unternehmerin<br />

bekannt sein, die ihrer Zeit weit<br />

voraus ist. Man wird dich als die Frau<br />

kennen, die das Rauchverbot in Chicago<br />

durchsetzt, welche die Green Chicago<br />

Restaurant Coalition mitbegründete und<br />

ein Erfolgsrezept entwickelt, das Mitgefühl,<br />

hohe Ansprüche und schiere Willenskraft<br />

miteinander verbindet.<br />

Nach einer 33-jährigen Karriere, die<br />

dir viel Glück und Herzschmerz gebracht<br />

hat, wirst du den Absprung wagen und<br />

dich neuen, aufregenden Möglichkeiten<br />

zuwenden. Du wirst ein Memoiren-/<br />

Kochbuch schreiben, wirst das Thema<br />

eines preisgekrönten Dokumentarfilms<br />

sein und monatlich eine Kolumne für die<br />

«Chicago Tribune» verfassen.<br />

Bis es so weit ist, wirst du viele Jahre<br />

lang mit aller Kraft versuchen, dich anzupassen.<br />

Du willst um jeden Preis als «normal»<br />

durchgehen; dieser Wunsch ist<br />

unter Polio-Überlebenden weit verbreitet.<br />

Wenn die Spätfolgen der Krankheit<br />

ihren Tribut fordern, wirst du neue Wege<br />

finden müssen, dich fortzubewegen: erst<br />

mit einer Schiene, dann mit einem Stock,<br />

später mit einer Gehhilfe und schliesslich<br />

im Rollstuhl. Doch all der Mühen zum<br />

Trotz, wird dein Leben auch dann ein<br />

Quell der Freude sein!<br />

Was du am meisten schätzen wirst,<br />

Ina, ist der Austausch mit Menschen.<br />

Gerade die Rotarier liegen dir besonders<br />

am Herzen. Wann immer sie dich einladen,<br />

sagst du zu und erzählst deine<br />

Geschichte. Du empfindest es als grosses<br />

Privileg, von deinen Erfahrungen berichten<br />

zu dürfen. Den Rotariern ist es im<br />

Gegenzug eine Ehre, dass du sie in ihrem<br />

Kampf gegen die Kinderlähmung unterstützt.<br />

Wenn du all dies im Voraus wüsstest,<br />

mein liebes Kind, dann würdest du jetzt<br />

nicht ängstlich in deinem Krankenbettchen<br />

liegen und bange in die Zukunft<br />

schauen. Darum: Los, mein Schatz, geh<br />

raus und kämpfe! Es lohnt sich.<br />

K Ina Pinkney | A Agate Publishing<br />

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