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Heft 4 (2009) - Igda.net

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ei „Westlern“ drohten drastische Strafen,<br />

bis hin zu Gefängnis.<br />

Nach Rückgabe der Papiere und Kontrolle<br />

des Kofferraumes durften wir endlich<br />

weiterfahren, hinein in die DDR. Mit<br />

mulmigem Gefühl und unter Beachtung aller,<br />

auch sinnloser Vorschriften näherten wir uns<br />

– meist mit Tempo 80, 100 km/h waren selten<br />

auf den Autobahnen erlaubt – Westberlin.<br />

Keinesfalls anhalten und aussteigen!<br />

(Toilettenpause gestrichen) Nichts aus dem<br />

Wagen werfen (es könnte Westpropaganda<br />

sein)! Nicht nach links ausweichen, um bei<br />

Einfahrten Autos sicher auf die AB fahren zu<br />

lassen.<br />

Endlich erreichten wir Dreilinden, den<br />

DDR-Kontrollpunkt vor der Einfahrt nach<br />

Westberlin. Wieder die beängstigende<br />

Prozedur der Grenzkontrolle: Abgabe der<br />

Pässe und der Einreisegenehmigung mit<br />

Transiterlaubnis. Die darf keinesfalls verloren<br />

werden, sonst setzen die uns fest! Und wieder<br />

warten, warten – Taktik der DDR-Grenzer<br />

zur Einschüchterung der Reisenden. Auch<br />

hier die gleiche Atmosphäre der aggressiven<br />

Unsicherheit. Schließlich bekamen wir die<br />

Papiere mit Stempeln zurück und durften<br />

nach Westberlin hinein fahren. Wir atmeten<br />

tief durch, fühlten uns wieder in frei.<br />

Westberlin – Insel der Freiheit!<br />

Am nächsten Tag näherten wir uns am<br />

Reichstag von westlicher Seite her der<br />

Mauer. Meine Tochter wollte unbedingt auf<br />

die Aussichtsplattform, auf der seinerzeit<br />

Kennedy gestanden und mit Blick in den<br />

Osten seine historischen Worte: „Ich bin<br />

ein Berliner!“ gesagt hatte. Auch sie sah<br />

hinüber in den anderen Teil Deutschlands,<br />

spürte die Trennung durch die Mauer, sah<br />

auf die schwarzen Kreuze mit der weißen<br />

Beschriftung, die Namen der Toten an<br />

der Mauer, die ihr Freiheitsstreben mit<br />

dem Leben hatten bezahlen müssen – ein<br />

ergreifendes Erlebnis für eine 16Jährige.<br />

Erst recht lebte bei meiner Tochter das<br />

Gefühl der Beklemmung wieder auf,<br />

als mein Vetter, dank seines politischen<br />

Amtes – er war als Zehlendorfer Bezirksrat<br />

zeitweise Beauftragter für Steinstücken<br />

– mit uns in diese Westberliner Exklave*<br />

ProSa<br />

IGDA aktuell, <strong>Heft</strong> 4 (<strong>2009</strong>) Seite 13<br />

Steinstücken fuhr. Als einziges Zehlendorfer<br />

Territorium, also zu Westberlin gehörend,<br />

war sie, umgeben vom „Roten Meer“, dem<br />

Ostsektor, nur auf östlichem Gebiet, durch<br />

einen schmalen Korridor, ihre Lebensader,<br />

mit dem Westen verbunden. Er durfte nur<br />

mit Sondergenehmigung befahren werden,<br />

die hatte mein Vetter. Beidseits der schmalen<br />

Zufahrtsstraße standen hart, hoch und grau<br />

die Betonmauern, ein besonderer Teil der<br />

Berliner Mauer. Musste jemand schnell die<br />

Enklave* verlassen oder erreichen, war dies<br />

nur per alliiertem Hubschrauber möglich,<br />

denn der Luftraum über Gesamtberlin<br />

unterstand dem Alliierten Kontrollrat,<br />

bestehend aus den drei Westmächten und<br />

der UdSSR (seinerzeit Rechtsgrundlage für<br />

die Luftbrücke während der Blockade).<br />

Dieser Besuch im abgesperrten Steinstücken<br />

und der Anblick von Mauer als sichtbarer<br />

Grenze, mit Todesstreifen, ebenso auch<br />

die unsichtbare Grenze im Wasser, z. B. in<br />

der Mitte des Teltowkanals, prägten sich<br />

meiner Tochter unauslöschlich ein, so wie<br />

die Erinnerung an Angst und Beklemmung,<br />

die uns dort, auch auf der Rückfahrt,<br />

wieder befielen. Das Verhalten und die<br />

Stimmung der DDR-Grenzer war in den<br />

wenigen Tagen unseres Berlinaufenthaltes<br />

noch diffuser, unerklärlicher, eigentlich<br />

hilfloser geworden. Es lag etwas in der Luft,<br />

aber was? Zwar verfolgten wir im Radio<br />

und Fernsehen die kärglichen Nachrichten<br />

über Montagsdemonstrationen und<br />

Friedensgebete in Leipzig, doch ohne zu<br />

wissen, wie umfassend Protest und Aufruhr<br />

zu diesem Zeitpunkt bereits in der DDR<br />

waren Wir wussten nicht, dass es bereits die<br />

Agonie des Unterganges war. Noch konnte<br />

keiner ahnen, dass nur wenige Tage nach<br />

unserer Rückkehr die Mauer fallen und die<br />

DDR sich auflösen würde.<br />

Heute noch, nach 20 Jahren, ist meine längst<br />

erwachsene Tochter froh darüber, die Mauer<br />

noch als tödliche Realität erlebt zu haben.<br />

„Bloß vorstellen könnte ich sie mir nicht. Es<br />

ist gut, dass ich sie wirklich selbst gesehen<br />

habe, nicht nur davon gehört!“<br />

*Steinstücken = enklave vom Osten her gesehen, vom Westen her<br />

= Exklave

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