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Heft 4 (2009) - Igda.net

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Der Wagen bremste scharf und kam zum<br />

Stehen. Die Hecktür wurde geöff<strong>net</strong>. Kartons<br />

wurden zur Seite geschoben, dann setzte<br />

sich mein Karton ebenfalls in Bewegung.<br />

Schräglage, einige Meter über knirschenden<br />

Schnee, dann unsanft auf den Boden gestellt.<br />

Der Bote schien zu klingeln. Verzerrte Worte<br />

aus einer Sprechanlage waren zu hören.<br />

Ein Türöffner summte. Dann wurde ich<br />

wieder auf die Sackkarre gehievt und ins<br />

Innere des Hauses geschoben. Ich biss auf<br />

die Zähne. Nur noch wenige Minuten, dann<br />

war ich am Ziel. Zum ersten Mal in Carolas<br />

Wohnung, mit ihr allein! Das Fest der<br />

Freude konnte beginnen. Ich war in einer<br />

so erwartungsfrohen Stimmung, dass ich<br />

dem Boten sogar verzieh, mich die Treppe<br />

hinauf in den ersten Stock noch einmal<br />

richtig durchzuschütteln. Offenbar besaß die<br />

Sackkarre einen Radkranz aus drei oder vier<br />

Rädern auf jeder Seite und war demzufolge<br />

imstande, Lasten auch über Treppen hinweg<br />

zu bewegen. Vor Aufregung bekam ich<br />

Kopfschmerzen, konnte kaum noch etwas<br />

hören. Erst als eine Tür geöff<strong>net</strong> wurde und<br />

ich noch einige Meter weit geschoben wurde,<br />

kam ich auch innerlich wieder zur Ruhe.<br />

Entspannt atmete ich aus. Ich war am Ziel!<br />

Schritte auf einem Parkettboden näherten<br />

sich. Leise Weihnachtsmusik erfüllte mein<br />

Versteck. Vom Himmel hoch, da komm ich<br />

her...<br />

Sie blieb vor dem Karton stehen. Welche<br />

Gedanken mochte sie wohl jetzt haben? Wer<br />

käme auf die Idee, ihr einen Farbfernseher<br />

ins Haus zu schicken? Sicher studierte<br />

sie bereits den Paketzettel. Harald hatte<br />

in weiser Voraussicht natürlich meine<br />

Anschrift angegeben. Ob sie eine Ahnung<br />

überschleichen würde? Einen furchtbaren<br />

Augenblick lang wartete ich darauf, dass<br />

sie den Boten zurück beordern würde,<br />

um sich des Geschenkes sofort wieder zu<br />

entledigen.<br />

Nein, sie hatte beschlossen, es zu<br />

behalten.<br />

Ohne Vorwarnung durchstach eine<br />

Messerklinge den Kartondeckel, genau in<br />

ProSa<br />

IGDA aktuell, <strong>Heft</strong> 4 (<strong>2009</strong>) Seite 18<br />

der Mitte, und zog sich sägend durch den<br />

entstandenen Schlitz zwischen meinen Knien<br />

hindurch weiter auf mich zu. Spärliches<br />

Licht drang in das Innere, während die<br />

Klinge unbeirrt weiter auf mich zu eilte.<br />

Der einladende Duft nach Lebkuchen,<br />

Tannennadeln und Kerzenwachs folgte ihr<br />

nach. Ich holte noch einmal tief Luft. Dann<br />

stemmte ich mich nach oben, riss die Deckel<br />

auseinander und breitete die Arme aus,<br />

während der rote Morgenmantel von meinen<br />

Schultern rutschte.<br />

»Ho ho! Hier kommt das Geschenk des<br />

Herrn!«, rief ich in den Raum hinein, bemüht<br />

um ein strahlendes Lächeln. Meine Augen<br />

mussten sich erst an das Kerzenlicht des<br />

Weihnachtsbaumes gewöhnen.<br />

»Mein Gott!«, sagte die Frau mit dem<br />

Messer in der Hand, bevor sie zu Boden<br />

stürzte und dabei den brennenden Baum mit<br />

sich riss.<br />

»Ihr Kinderlein kommet«, plärrte es aus<br />

einem altmodischen Grammophon aus der<br />

Ecke.<br />

Zwei Tage saß ich in Untersuchungshaft.<br />

Grober Unfug, Hausfriedensbruch, Verstoß<br />

gegen das Transportsicherungsgesetz,<br />

fahrlässige Körperverletzung und Verstoß<br />

gegen die guten Sitten lauteten die<br />

Anklagepunkte, um nur die wichtigsten zu<br />

nennen.<br />

Der von mir eiligst herbei gerufene<br />

Notarzt konnte die alte Dame erfolgreich<br />

reanimieren. Schlimmer war der Schaden<br />

durch den ausgelösten Wohnungsbrand. Die<br />

Feuerwehr rückte mit drei Wagen an, obwohl<br />

ich geistesgegenwärtig den Brand mit einem<br />

Teppich ersticken konnte, nachdem ich die alte<br />

Dame in Sicherheit gebracht hatte. Trotzdem<br />

löschten die Feuerwehrleute ausgiebig nach.<br />

Das gab dem Parkett und dem teuren Perser<br />

den Rest. Harald und der Paketbote, der<br />

zwei der Aufkleber miteinander vertauscht<br />

hatte (die 6 und die 9), konnten schließlich<br />

den Richter davon überzeugen, dass es sich<br />

um ein tragisches Versehen gehandelt hatte.

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