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Der Wagen bremste scharf und kam zum<br />
Stehen. Die Hecktür wurde geöff<strong>net</strong>. Kartons<br />
wurden zur Seite geschoben, dann setzte<br />
sich mein Karton ebenfalls in Bewegung.<br />
Schräglage, einige Meter über knirschenden<br />
Schnee, dann unsanft auf den Boden gestellt.<br />
Der Bote schien zu klingeln. Verzerrte Worte<br />
aus einer Sprechanlage waren zu hören.<br />
Ein Türöffner summte. Dann wurde ich<br />
wieder auf die Sackkarre gehievt und ins<br />
Innere des Hauses geschoben. Ich biss auf<br />
die Zähne. Nur noch wenige Minuten, dann<br />
war ich am Ziel. Zum ersten Mal in Carolas<br />
Wohnung, mit ihr allein! Das Fest der<br />
Freude konnte beginnen. Ich war in einer<br />
so erwartungsfrohen Stimmung, dass ich<br />
dem Boten sogar verzieh, mich die Treppe<br />
hinauf in den ersten Stock noch einmal<br />
richtig durchzuschütteln. Offenbar besaß die<br />
Sackkarre einen Radkranz aus drei oder vier<br />
Rädern auf jeder Seite und war demzufolge<br />
imstande, Lasten auch über Treppen hinweg<br />
zu bewegen. Vor Aufregung bekam ich<br />
Kopfschmerzen, konnte kaum noch etwas<br />
hören. Erst als eine Tür geöff<strong>net</strong> wurde und<br />
ich noch einige Meter weit geschoben wurde,<br />
kam ich auch innerlich wieder zur Ruhe.<br />
Entspannt atmete ich aus. Ich war am Ziel!<br />
Schritte auf einem Parkettboden näherten<br />
sich. Leise Weihnachtsmusik erfüllte mein<br />
Versteck. Vom Himmel hoch, da komm ich<br />
her...<br />
Sie blieb vor dem Karton stehen. Welche<br />
Gedanken mochte sie wohl jetzt haben? Wer<br />
käme auf die Idee, ihr einen Farbfernseher<br />
ins Haus zu schicken? Sicher studierte<br />
sie bereits den Paketzettel. Harald hatte<br />
in weiser Voraussicht natürlich meine<br />
Anschrift angegeben. Ob sie eine Ahnung<br />
überschleichen würde? Einen furchtbaren<br />
Augenblick lang wartete ich darauf, dass<br />
sie den Boten zurück beordern würde,<br />
um sich des Geschenkes sofort wieder zu<br />
entledigen.<br />
Nein, sie hatte beschlossen, es zu<br />
behalten.<br />
Ohne Vorwarnung durchstach eine<br />
Messerklinge den Kartondeckel, genau in<br />
ProSa<br />
IGDA aktuell, <strong>Heft</strong> 4 (<strong>2009</strong>) Seite 18<br />
der Mitte, und zog sich sägend durch den<br />
entstandenen Schlitz zwischen meinen Knien<br />
hindurch weiter auf mich zu. Spärliches<br />
Licht drang in das Innere, während die<br />
Klinge unbeirrt weiter auf mich zu eilte.<br />
Der einladende Duft nach Lebkuchen,<br />
Tannennadeln und Kerzenwachs folgte ihr<br />
nach. Ich holte noch einmal tief Luft. Dann<br />
stemmte ich mich nach oben, riss die Deckel<br />
auseinander und breitete die Arme aus,<br />
während der rote Morgenmantel von meinen<br />
Schultern rutschte.<br />
»Ho ho! Hier kommt das Geschenk des<br />
Herrn!«, rief ich in den Raum hinein, bemüht<br />
um ein strahlendes Lächeln. Meine Augen<br />
mussten sich erst an das Kerzenlicht des<br />
Weihnachtsbaumes gewöhnen.<br />
»Mein Gott!«, sagte die Frau mit dem<br />
Messer in der Hand, bevor sie zu Boden<br />
stürzte und dabei den brennenden Baum mit<br />
sich riss.<br />
»Ihr Kinderlein kommet«, plärrte es aus<br />
einem altmodischen Grammophon aus der<br />
Ecke.<br />
Zwei Tage saß ich in Untersuchungshaft.<br />
Grober Unfug, Hausfriedensbruch, Verstoß<br />
gegen das Transportsicherungsgesetz,<br />
fahrlässige Körperverletzung und Verstoß<br />
gegen die guten Sitten lauteten die<br />
Anklagepunkte, um nur die wichtigsten zu<br />
nennen.<br />
Der von mir eiligst herbei gerufene<br />
Notarzt konnte die alte Dame erfolgreich<br />
reanimieren. Schlimmer war der Schaden<br />
durch den ausgelösten Wohnungsbrand. Die<br />
Feuerwehr rückte mit drei Wagen an, obwohl<br />
ich geistesgegenwärtig den Brand mit einem<br />
Teppich ersticken konnte, nachdem ich die alte<br />
Dame in Sicherheit gebracht hatte. Trotzdem<br />
löschten die Feuerwehrleute ausgiebig nach.<br />
Das gab dem Parkett und dem teuren Perser<br />
den Rest. Harald und der Paketbote, der<br />
zwei der Aufkleber miteinander vertauscht<br />
hatte (die 6 und die 9), konnten schließlich<br />
den Richter davon überzeugen, dass es sich<br />
um ein tragisches Versehen gehandelt hatte.