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Heft 4 (2009) - Igda.net

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waren, fuhren die Autos, die Autobusse und<br />

die Straßenbahn durch sie hindurch, ohne<br />

ihnen weh zu tun und sie ihrerseits gingen<br />

unbekümmert durch Mauern hindurch, als<br />

wären diese aus Luft.<br />

So konnten sie in Ruhe alles betrachten.<br />

Wohin sie auch kamen, überall das gleiche<br />

Spektakel. Ein Kommen und Gehen, Kaufen<br />

und Einpacken, Schicken und Bekommen,<br />

Rufen und Antworten. Alle sahen unentwegt<br />

auf die Uhr, alle liefen, alle hatten Angst,<br />

nicht rechtzeitig zu kommen, und manch<br />

einer brach erschöpft zusammen unter der<br />

Sturzflut von Paketen, Broschüren, Papieren,<br />

Kalendern, Geschenken, Telegrammen,<br />

Briefen, Karten, Eintrittskarten usw.<br />

- Du hast mir gesagt - bemerkte der Ochse -<br />

es sei das Fest der Fröhlichkeit, des Friedens,<br />

der Erholung für Leib und Seele.<br />

- Ja, schon - antwortete der Esel. - Früher<br />

war es so. Aber, was willst du machen,<br />

seit einigen Jahren werden die Menschen,<br />

sobald Weihnachten herankommt, von einer<br />

geheimnisvollen Tarantel gestochen und<br />

verstehen nichts mehr. Höre ihnen nur zu.<br />

Der Ochse lauschte erstaunt. Auf den<br />

Straßen, in den Büros, in den Fabriken<br />

sprachen Männer und Frauen nur noch<br />

abgehackt miteinander und tauschten wie<br />

Automaten monotone Formeln aus. Frohe<br />

Weihnachten, alles Gute, alles Gute für sie,<br />

danke gleichfalls, gute Wünsche, alles Gute,<br />

frohes Fest, danke, alles Gute, alles Gute,<br />

alles Gute. Ein Stimmengewirr erfüllte die<br />

ganze Stadt.<br />

Es war ein eindrucksvolles Schauspiel:<br />

die tausend Lichter der Ladenfenster, der<br />

Schmuck, die Girlanden, die Tannenbäume<br />

und der unendliche Autostrom, das eilige<br />

Schwanken der Menschen, ihr Kommen<br />

und Gehen, Eintreten und Herauskommen,<br />

das Gedränge in den Geschäften, das<br />

Beladensein mit Paketen und Päckchen, alle<br />

waren sie ängstlich und gehetzt, als würden<br />

sie verfolgt. Der Esel schien sich über diesen<br />

Anblick zu amüsieren. Der Ochse hingegen<br />

sah sich voller Entsetzen um.<br />

- Hör mal, Freund Esel, du hast mir gesagt,<br />

ProSa<br />

IGDA aktuell, <strong>Heft</strong> 4 (<strong>2009</strong>) Seite 22<br />

dass du mir Weihnachten zeigen würdest.<br />

Und was ist das hier? Du musst dich geirrt<br />

haben. Ich will dir mal eines sagen: Dies hier<br />

ist ein Krieg.<br />

- Aber siehst du nicht, wie alle zufrieden<br />

sind?<br />

- Zufrieden? Mir scheinen sie verrückt<br />

zu sein. Sieh dir doch nur ihre verstörten<br />

Gesichter an. Ihre fieberhaften Augen.<br />

- Weil du ein Trottel vom Lande bist, mein<br />

lieber Ochse, weil du dich niemals aus dem<br />

Paradies herausbewegt hast. Du bist die<br />

modernen Menschen nicht gewohnt, daran<br />

liegt das. Sie müssen sich eben ihre Nerven<br />

ruinieren, um Spaß zu haben, um sich zu<br />

freuen, um sich glücklich zu fühlen.<br />

Der Ochse, als reiner Geist, machte einen<br />

hohen Sprung und hielt an einem Fenster<br />

im siebten Stockwerk an, um ein bisschen zu<br />

schauen. Und das Eselchen kam gutmütig<br />

hinterher.<br />

Sie sahen in ein reich möbliertes Zimmer,<br />

und im Zimmer an einem Tisch eine sehr<br />

beschäftigte Dame sitzen. Zu ihrer Linken<br />

auf dem Tisch befand sich ein Stapel, etwa<br />

einen halben Meter hoch, von Karten und<br />

Kärtchen in allen Farben, zu ihrer Rechten<br />

ein Stapel weißer Karten.<br />

Flink nahm die Dame eine der bunten<br />

Glückwunschkarten, betrachtete sie kurz,<br />

schlug in einem dicken Buch nach, schrieb<br />

etwas auf eine der weißen Karten, tat diese<br />

in einen Umschlag, schrieb etwas darauf<br />

und verschloss ihn. Dann nahm sie vom<br />

Stapel zu ihrer Linken eine weitere bunte<br />

Glückwunschkarte und begann von vorne.<br />

- Sie werden sie wohl wenigstens gut<br />

bezahlen für eine solche Arbeit - sagte der<br />

Ochse, - für eine solche Strafarbeit.<br />

- Was du dir so vorstellst, mein lieber Freund.<br />

Das ist eine ganz reiche Dame, aus der besten<br />

Gesellschaft.<br />

- Aber warum tut sie sich das an?<br />

- Sie tut sich nichts an. Sie beantwortet nur<br />

Glückwunschkarten.

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