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PDF - Handbuch Arbeitsrecht

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19. Jahrhundert bis 1918<br />

GewO des Norddeutschen Bundes aufgehoben (1871 als GewO des Deutschen Reichs übernommen).<br />

57 Die dafür 1865 von Bismarck ins Feld geführten Argumente sind bis heute bemerkenswert:<br />

Die Koalitionsfreiheit der Arbeit sei zum einen aus Gründen der staatsbürgerlichen<br />

Gleichheit geboten. Sie werde zum anderen nicht zu zügellosen Streikaktivitäten<br />

führen, sondern die Arbeiter vielmehr zur Übernahme von Verantwortung anhalten. Und<br />

schließlich sei von dem von den Gewerkschaften ausgehenden Druck ein heilsames »Korrektiv<br />

gegen das zeitweilige, krankhafte Wachstum einzelner Industriezweige zu erwarten« 58<br />

(zur aktuellen ökonomischen Diskussion vgl. Rn. 126). Neben § 152 GewO stand aber der<br />

ebenfalls neu geschaffene § 153 GewO (abgeschafft erst 1918, vgl. Rn. 22). Diese Vorschrift ermöglichte<br />

eine Bestrafung wegen der Koalitionsbetätigung, soweit sie mit unerlaubten Mitteln<br />

verbunden war (z.B. Drohungen, Verrufserklärungen). § 152 und § 153 GewO setzten<br />

nun einen zwiespältigen, für das Kaiserreich kennzeichnenden Prozess in Gang: Während<br />

die Koalitionsbetätigung zivilrechtlich erlaubt war, wurde sie mit den Mitteln des Strafrechts<br />

schikanös behindert. Zu diesem Zweck wurden auch alle Möglichkeiten des Polizeiund<br />

Versammlungsrechts gegen die Gewerkschaften eingesetzt. In der Zeit des sog. Sozialistengesetzes<br />

59 von 1878 bis 1890 wurden sie als sozialdemokratische Vereine verfolgt und<br />

in die Illegalität gedrängt. Gleichwohl konnte ihre Entwicklung nicht aufgehalten werden.<br />

Die Gewerkschaften entwickelten sich zum einen aus lokalen Unterstützungsvereinen, zum<br />

anderen jeweils als Resultat konkreter Arbeitskämpfe. Als erste »richtige« Gewerkschaften<br />

wurden 1865 der »Deutsche Buchdruckerverein« und der »Allgemeine Deutsche Zigarrenarbeiter-Verein«<br />

gegründet. Nach dem Fall des Sozialistengesetzes entwickelten die Gewerkschaften<br />

sich als von der sozialdemokratischen Partei eigenständige Interessenvertretungen<br />

(neben den sozialdemokratisch orientierten »freien«, den deutlich kleineren »christlichen«<br />

und den – eher sozial-liberalen – »Hirsch-Duncker’schen« Gewerkschaften). 60 Sie überwanden<br />

in den eigenen Reihen Bedenken gegen die zunächst als »Harmonieduselei« verdächtigten<br />

Tarifverträge und nahmen sich dann dieses neuen Instruments erfolgreich an (allerdings<br />

kam es erst 1899 zu einem positiven Grundsatzbeschluss der freien Gewerkschaften). 61 Das<br />

wiederum veranlasste die AG – die freilich schon lange vorher als lokale und regionale<br />

Fabrikantenvereine organisiert präsent waren – seit den 70er Jahren, intensiv ab 1890 zur Bildung<br />

von Arbeitgeberverbänden, die mit Arbeitsnachweisen, »schwarzen Listen« und<br />

schließlich Flächenaussperrungen zunächst die Existenz der Gewerkschaften und danach<br />

den Abschluss von Tarifverträgen bekämpften. 62 Zwar war der Erfolg der Gewerkschaftsidee<br />

wie des Tarifvertrags offenkundig: 1913 hatten die Gewerkschaften ca. 2,3 Mio. Mitglieder;<br />

es existierten etwa 13500 Tarifverträge für 218000 Betriebe mit über 2 Mio. AN. 63 Jedoch<br />

gelang es ihnen nicht, in der Schwerindustrie und in den Zukunftsindustrien (Siemens,<br />

MAN) Fuß zu fassen und dort Tarifverträge durchzusetzen. Andererseits blieben Kaiser,<br />

Reichsregierung und konservative parlamentarische Kräfte mit ihren Versuchen zur Verschärfung<br />

des straf- und polizeirechtlichen Instrumentariums gegen Streiks (»Zuchthausvorlage«<br />

1899) erfolglos. Sie scheiterten damit jedoch durchweg im Reichstag.<br />

Das Tarifrecht der Kaiserzeit war normativ noch wenig geformt. 64 Tarifverträge waren zunächst<br />

rechtlich unverbindlich; Ansprüche aus ihnen konnten nicht vor staatlichen Gerichten<br />

eingeklagt werden. Initiativen zur Kodifizierung des Tarifvertragsrechts im Reichstag 65<br />

und des 29. Deutschen Juristentages 1908 66 blieben erfolglos. Sowohl die AG als auch die<br />

57 Zum Folgenden insgesamt Kittner, Arbeitskampf,<br />

S. 227ff.<br />

58 Vollständiger Text bei Blanke/Erd/Mückenberger/Stascheit,<br />

Hrsg., Kollektives <strong>Arbeitsrecht</strong>,<br />

Quellentexte zur Geschichte des<br />

<strong>Arbeitsrecht</strong>s in Deutschland, Band 1, 1975,<br />

S. 55f.<br />

59 »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen<br />

der Sozialdemokratie« vom<br />

21. 10.1878 (RGBl. S. 351).<br />

60 Vgl. Kittner, Arbeitskampf, S. 239ff.<br />

61 Vgl. Ullmann, Tarifverträge und Tarifpolitik in<br />

Deutschland bis 1914, 1977.<br />

62 Vgl. Kittner, Arbeitskampf, S. 318ff.<br />

63 Vgl. Kittner, Arbeitskampf, S. 370ff.<br />

64 Vgl. Kittner, Arbeitskampf, 370ff.<br />

65 Vgl. Nautz, Das deutsche Tarifrecht zwischen<br />

Interventionismus und Autonomie, in Nutzinger,<br />

Hrsg., Die Entstehung des <strong>Arbeitsrecht</strong>s in<br />

Deutschland, 1998, S. 71 [72f.].<br />

66 Vgl. Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis<br />

in Deutschland, 1995, S. 305ff.<br />

Kittner 9<br />

19<br />

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