PDF - Handbuch Arbeitsrecht
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19. Jahrhundert bis 1918<br />
Der »neue Kurs« war im Wesentlichen verbunden mit der Person des Handelsministers<br />
Berlepsch. Unter seiner Federführung wurde 1891 das sog. Arbeiterschutzgesetz mit dem<br />
bescheidenen Titel »Gesetz, betreffend Abänderung der Gewerbeordnung« verabschiedet. 42<br />
Dabei wurde durch den Zusatz in § 105, wonach die vertragliche Regelung der Arbeitsbedingungen<br />
nurmehr »vorbehaltlich der durch Reichsgesetz begründeten Beschränkungen«<br />
möglich war, auch programmatisch der Grundstein für eine künftige <strong>Arbeitsrecht</strong>sgesetzgebung<br />
gelegt. Im Wesentlichen enthielt das Gesetz folgende Regelungen:<br />
– weiterer Ausbau des Jugendarbeitsschutzes,<br />
– erstmals Schutzfristen für Wöchnerinnen,<br />
– Verbot der Nachtarbeit für Arbeiterinnen (1992 vom BVerfG unter Gleichheitsgesichtspunkten<br />
aufgehoben; <strong>Handbuch</strong>, § 26 Rn. 101),<br />
– Beschäftigungsverbote für gewerbliche Arbeiter an Sonn- und Feiertagen (prinzipielle<br />
Geltung bis heute; vgl. <strong>Handbuch</strong>, § 26 Rn. 152ff.) und<br />
– eine ausdrückliche Verpflichtung zum Gesundheitsschutz (die erst 1996 durch das<br />
ArbschG abgelöste Generalklausel des § 120 a; vgl. <strong>Handbuch</strong>, § 93 Rn. 32). 43<br />
Außerdem wurden erste – allerdings dispositive – Mindestkündigungsfristen für Arbeiter<br />
und technische Angestellte eingeführt, wie sie bereits seit 1861 aufgrund des ADHGB für<br />
Handlungsgehilfen galten.<br />
Das »Arbeiterschutzgesetz« legte auch den Grundstein zur Entwicklung der betrieblichen<br />
Mitbestimmung. 44 Gemäß § 134 a GewO wurde der AG verpflichtet, eine Arbeitsordnung<br />
zu den wichtigsten arbeitsvertraglichen Inhalten zu erlassen. Vor ihrem – einseitig möglichen<br />
– Erlass hatte der AG jedoch den Arbeitern oder, wenn vorhanden, einem freiwillig gebildeten<br />
Arbeiterausschuss Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Damit war das erste<br />
Mal die Belegschaft als Kollektiv rechtlich anerkannt – eine von den AG aus grundsätzlichen<br />
Erwägungen abgelehnte Einmischung in die nur als bilateral akzeptierten Beziehungen zu<br />
den einzelnen AN. In Preußen wurden 1905 nach einem mehrwöchigen Bergarbeiterstreik<br />
Arbeiterausschüsse in Bergwerken mit mehr als 100 AN obligatorisch (in Bayern bereits<br />
1900). Im Hinblick auf die ihnen zugedachte Funktion als Befriedungsinstrument in den<br />
Händen der AG wurden sie allerdings bei den ersten Wahlen weitgehend boykottiert. 45<br />
Mit dem Gewerbegerichtsgesetz vom 29. 7.1890 (RGBl. S. 141) schuf Berlepsch eine reichseinheitliche<br />
Grundlage für die Errichtung von Gewerbegerichten. 46 Sie konnten als selbstständige<br />
Gerichte mit Beisitzern aus dem Kreis der AG und AN örtlich zur Entscheidung von<br />
Streitigkeiten zwischen AG und Arbeitern eingerichtet werden. Mit dem Kaufmannsgerichtsgesetz<br />
vom 6. 7.1904 (RGBl. S. 266) wurden Kaufmannsgehilfen einbezogen, so dass<br />
fortan von Gewerbe- und Kaufmannsgerichten die Rede war. Sie waren nur in erster Instanz<br />
tätig; Rechtsmittel mussten bei den ordentlichen Gerichten eingelegt werden. Die<br />
Gewerbe- und Kaufmannsgerichte hatten zugleich die Funktion von Einigungsämtern (als<br />
Vorläufer der späteren Schlichtungsbehörden). Insgesamt sind in Deutschland 585 Gewerbegerichte<br />
und 338 Kaufmannsgerichte errichtet worden. 47 Sie erwarben sich großes Vertrauen<br />
42 RGBl. 1891, S. 261; vgl. H.-J. von Berlepsch,<br />
»Neuer Kurs« im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik<br />
des Freiherrn von Berlepsch (1890–1896),<br />
1987; Gamillscheg, KA Bd. 1, S. 107; Kaufhold,<br />
ZfA 1991, 277; ders., AuR 1989, 231; Reichold,<br />
ZfA 1990, 26.<br />
43 Vgl. Hausen, Arbeiterinnenschutz, Mutterschutz<br />
und Krankenversicherung im Kaiserreich<br />
und in der Weimarer Republik, in Gerhard,<br />
Hrsg., Frauen in der Geschichte des<br />
Rechts, 1997, S. 713 [719ff.].<br />
44 Vgl. Braun/Eberwein/Tholen, Belegschaften und<br />
Unternehmer. Zur Geschichte und Soziologie<br />
der deutschen Betriebsverfassung, 1992;<br />
Milert/Tschirbs, Von den Arbeiterausschüssen<br />
zur Betriebsverfassung, 1991; Rückert/Fried-<br />
rich, Betriebliche Arbeiterausschüsse in<br />
Deutschland, Großbritannien und Frankreich<br />
im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert,<br />
1979; Teuteberg, Geschichte der industriellen<br />
Mitbestimmung in Deutschland, 1961; Eberwein,<br />
WSI-Mitt. 1992, 497; Gamillscheg, AuR<br />
1991, 272; Weber, ZfA 1993, 517.<br />
45 Vgl. Däubler 1, Rn. 724.<br />
46 Vgl. Weiss, Arbeitsgerichtsbarkeit und Arbeitsgerichtsverband<br />
im Kaiserreich und in<br />
der Weimarer Republik, 1984; Hanau, NZA<br />
1993, 338; Leinemann, NZA 1991, 961; Söllner,<br />
FS Arbeitsgerichtsverband, 1994, S. 1ff.; Weiss,<br />
FS Arbeitsgerichtsverband, 1994, S. 75ff.<br />
47 Vgl. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des <strong>Arbeitsrecht</strong>s,<br />
Bd. 1, 3. bis 5. Aufl. 1932, S. 685.<br />
Kittner 7<br />
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