PDF - Handbuch Arbeitsrecht
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Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1998<br />
Den wohl größten arbeitsrechtspolitischen Konflikt in der Geschichte Deutschlands löste die<br />
Regierungskoalition mit Arbeitsminister Norbert Blüm als Protagonisten durch die Änderung<br />
des § 116 AFG aus. Vorausgegangen war die Verweigerung von Kurzarbeitergeld für<br />
mittelbar vom Arbeitskampf Betroffene in dem 1984 um die 35-Stunden-Woche geführten<br />
Arbeitskampf in der Metallindustrie Nordwürttemberg-Nordbaden und Hessen durch den<br />
Präsidenten der Bundesanstalt (»Franke-Erlass«). Auf den sich in dieser Hinsicht abzeichnenden<br />
Konflikt hatte der Arbeitsminister bereits im Vorfeld reagiert, indem er – in jeder<br />
Hinsicht erfolglos – mit dem Vorruhestandsgesetz vom 13.4. 1984 (BGBl. I, S. 601) eine Alternative<br />
zur 35-Stunden-Woche ins Spiel brachte. 309 Der dann tatsächlich geführte Arbeitskampf<br />
war geprägt von der inzwischen hochgradigen Arbeitsteilung und wechselseitigen<br />
Abhängigkeit der Unternehmen in der Automobilindustrie. Bereits ein Streik verhältnismäßig<br />
weniger AN führte zur bundesweiten Beschäftigungslosigkeit mehrerer hunderttausend<br />
AN. Nachdem alle damit befassten Gerichte den »Franke-Erlass« als rechtswidrig bezeichnet<br />
hatten, 310 betrieb die Bundesregierung eine Änderung des § 116 AFG mit dem Ziel, dass für<br />
den Normalfall eines Arbeitskampfes in der Metallindustrie kein Kurzarbeitergeld an mittelbar<br />
Betroffene zu zahlen ist. 311 Trotz anhaltender und intensiver Proteste der Gewerkschaften<br />
wurde das »Gesetz zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit in Arbeitskämpfen«<br />
vom 15. 5.1986 (BGBl. I, S. 740) verabschiedet. 312 Das BVerfG bezeichnete es als<br />
»noch verfassungsgemäß« (vgl. <strong>Handbuch</strong>, § 136 Rn. 65). 313<br />
Die darauf folgende Dekade war generell geprägt von Konflikten um und Angriffen auf das<br />
herkömmliche Tarifvertragssystem. Zum Teil hatte dies seine Ursache in politischen Aktivitäten<br />
der Regierungskoalition bzw. von Teilen von ihr mit zwei Stoßrichtungen:<br />
– gesetzlicher Eingriff in laufende Tarifverträge (zum Hochschulfristengesetz und zu ABM-<br />
Zuschüssen vgl. <strong>Handbuch</strong>, § 8 Rn. 181) und<br />
– Diskussion um gesetzliche Öffnungsklauseln in Tarifverträgen bzw. Änderung des Tarifvorbehalts<br />
gemäß § 77Abs. 3 BetrVG (vgl. <strong>Handbuch</strong>, § 10 Rn. 86ff.).<br />
Zum anderen entwickelten sich in diesen Jahren zentrifugale Kräfte innerhalb des Tarifvertragssystems,<br />
die bis heute anhaltend die Frage nach einer »Krise des Flächentarifvertrags«<br />
ausgelöst haben (vgl. Rn. 136). Eine wichtige Rolle spielte dabei die Ungleichzeitigkeit des<br />
Entwicklungsstandes von neuen und alten Bundesländern nach der Wiedervereinigung (vgl.<br />
Rn. 111ff.). Bemerkenswerterweise betraf die erste außerordentliche Kündigung eines Tarifvertrages<br />
wegen veränderter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen durch einen Arbeitgeberverband<br />
einen Tarifvertrag in der Metallindustrie Ostdeutschlands. Im Gefolge dessen<br />
kam es 1993 zum ersten gewerkschaftlichen Streik in den neuen Bundesländern. 314 Die bis<br />
dahin nur akademisch behandelte Frage, ob ein Streik gegen eine außerordentliche Tarifvertragskündigung<br />
rechtmäßig ist (vgl. <strong>Handbuch</strong>, § 136 Rn. 9), war für alle Beteiligten ebenso juristisches<br />
Neuland wie die Rechtmäßigkeit einer solchen Kündigung selbst (vgl. <strong>Handbuch</strong>,<br />
§ 8 Rn. 310). 315 Sie wurde gerichtlich nicht ausgetragen, sondern ebenso wie die Berechtigung<br />
der Tarifvertragskündigung im konkreten Fall mit der den Streik abschließenden Vereinbarung<br />
(die unter den Bedingungen des gekündigten Vertrags lag) für erledigt erklärt. Immerhin<br />
erklärten in diesem Zusammenhang die Metallarbeitgeber, dass die außerordentliche<br />
Kündigung von Tarifverträgen grundsätzlich kein geeignetes Mittel zur Lösung von Tarifkonflikten<br />
sei. Als Ergebnis dieses Tarifkonflikts wurde die erste »Härteklausel« in einem<br />
Flächentarifvertrag vereinbart (vgl. <strong>Handbuch</strong>, § 8 Rn. 89).<br />
309 Vgl. Engelen-Kefer, SozSich 1984, 55; Höfler,<br />
BArbBl. 7–8/1984, 5.<br />
310 Vgl. HessLSG 22.6. 1984, NZA 1984, 100; LSG<br />
Bremen 22. 6. 1984, NZA 1984, 132; bestätigt<br />
durch BSG 5. 6. 1991, AP AFG § 116 Nr. 2.<br />
311 Umfassende Dokumentation im Protokoll der<br />
Sachverständigenanhörung durch den Bundestagsausschuss<br />
für Arbeit, 91./92./93. Sitzung<br />
1986.<br />
312 Vgl. Apitzsch/Klebe/Schumann, Hrsg., § 116<br />
AFG – Kampf um das Streikrecht.<br />
313 Vgl. BVerfG 4. 7. 1995, NZA 1995, 754.<br />
314 Zu Verlauf und Ergebnis vgl. Bispinck, WSI-<br />
Mitt. 1993, 469.<br />
315 Für die Rechtmäßigkeit ArbG Stralsund<br />
13. 5.1993, AuR 1993, 219 mit Anm. Zachert;<br />
vgl. Belling, NZA 1996, 906; Walker, NZA 1993,<br />
769; einzige bis dahin vorhandene literarische<br />
Quelle Hueck/Nipperdey II, § 49 B II 9.<br />
Kittner 39<br />
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