PDF - Handbuch Arbeitsrecht
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Novemberrevolution 1918 und Weimarer Republik<br />
die Zwangsschlichtung herbeigeführt wurden. Dieses System kam 1929 an sein Ende, nachdem<br />
das RAG in seiner Entscheidung über die Aussperrung der AG im sog. Ruhreisenstreit<br />
1928 114 die Unvereinbarkeit des Ein-Mann-Schlichterspruchs mit der SchlichtungsVO festgestellt<br />
hatte. 115 Für eine Nachfolgeregelung fand sich zunächst keine politische Mehrheit. 116<br />
Erst die Regierung Brüning führte 1931 wieder die Möglichkeit eines Schlichtungsspruchs allein<br />
mit den Stimmen der Schlichter ein – nunmehr allerdings nicht gegen tarifunwillige AG,<br />
sondern zur Lohnsenkung. 117 Um diese noch effizienter zu ermöglichen, wurde der Reichsarbeitsminister<br />
Ende 1931 ermächtigt, die Laufzeit von Schlichtungsergebnissen auch ohne<br />
Zustimmung der Tarifvertragsparteien zu verändern. 118 In diese Zeit fällt die ausdrückliche<br />
Absage der AG an den Tarifvertrag als unabdingbares Gestaltungsinstrument. Sie stellten<br />
seit 1929 den individuellen Arbeitsvertrag und die Betriebsvereinbarung programmatisch<br />
gleichrangig neben den Tarifvertrag.<br />
Bald verzichtete man ganz auf den Umweg über die Schlichtung und ging zu direkten Eingriffen<br />
in laufende Tarifverträge über: Mit der Notverordnung des Reichspräsidenten vom<br />
8.12. 1931 (RGBl. I, S. 699) wurden alle laufenden Tarifverträge zum 30. 4.1932 beendet und<br />
die tariflichen Lohn- und Gehaltssätze auf das Niveau des Jahres 1927 abgesenkt. Die »VO<br />
zur Vermehrung und Erhaltung der Arbeitsgelegenheiten« vom 5.9. 1932 (RGBl. I, S. 433) erlaubte<br />
es schließlich den AG selbst, die tariflichen Lohn- und Gehaltssätze zu unterschreiten.<br />
Und die VO vom 3. 10.1932 (RGBl. I, S. 493) verbot den Gewerkschaften, gegen solche Festlegungen<br />
zu streiken. Das war das Ende des Tarifvertragssystems.<br />
Nach Vorarbeiten seit 1921 wurden mit dem Arbeitsgerichtsgesetz vom 23.12. 1926 (RGBl. I,<br />
S. 507) die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte (vgl. Rn. 15) durch die Arbeitsgerichte abgelöst.<br />
119 Das Gesetz war als solches heftig umstritten, weil AG, Richterschaft und Rechtsanwälte<br />
die weitere Verselbstständigung dieser Gerichtsbarkeit ablehnten. Als Kompromiss<br />
wurden nur die Arbeitsgerichte in erster Instanz eigene Einrichtungen. Die »Landesarbeitsgerichte«<br />
und das »Reichsarbeitsgericht« waren dagegen lediglich eigene Spruchkörper bei<br />
den Landgerichten bzw. dem Reichsgericht. Heftig umstritten war auch der Ausschluss der<br />
Rechtsanwälte von der Prozessvertretung in erster Instanz. Die Kombination einer neuen<br />
Gerichtsbarkeit mit einem neuen kollektiven <strong>Arbeitsrecht</strong> löste alsbald eine Diskussion über<br />
die Rolle des Richterrechts aus. Dem RAG wurde dabei der Vorwurf gemacht, ohne Rücksicht<br />
auf die Vorgaben der Reichsverfassung eine autonome Interessenvertretung der AN zu<br />
behindern und der – dann ja tatsächlich kommenden – autoritären Arbeitsverfassung den<br />
Boden zu bereiten. 120 Ein abschließendes Urteil aus heutiger Sicht fällt allerdings insofern<br />
schwer, als den Arbeitsgerichten, insbesondere dem RAG, bis zur Machtergreifung durch die<br />
Nationalsozialisten nicht genügend Zeit blieb, das neue Recht dogmatisch konsistent aufzuarbeiten.<br />
Die wichtigste sozialrechtliche Neuerung der Weimarer Republik betraf die Arbeitslosenversicherung.<br />
121 Zunächst wurde die Arbeitsvermittlung mit Verabschiedung des Arbeitsnachweisgesetzes<br />
vom 22. 7.1922 (RGBl. I, S. 657) neu geordnet. Danach wurden die AG und<br />
AN mit der »VO über die Aufbringung der Mittel für die Erwerbslosenfürsorge« vom<br />
114 Vgl. Kittner, Arbeitskampf, S. 483ff.<br />
115 Vgl. RAG 29.1. 1929, Bensheimer Sammlung 5,<br />
167 mit Anm. Nipperdey.<br />
116 Vgl. »Die Reform des Schlichtungswesens«,<br />
Bericht über die Verhandlungen der XI. Generalversammlung<br />
der Gesellschaft für soziale<br />
Reform in Mannheim am 24. und 25. 10.1929<br />
(dort Grundsatzdiskussion zwischen Sinzheimer<br />
– pro Zwangsschlichtung – und Nipperdey<br />
– contra).<br />
117 Vgl. »VO des Reichspräsidenten über die Beilegung<br />
von Schlichtungsstreitigkeiten öffentlichen<br />
Interesses« vom 9. 1. 1931 (RGBl. I, S. 1),<br />
verlängert bis zum 10. 10.1931 durch VO vom<br />
27. 9.1931 (RGBl. I, S. 513).<br />
118 Vgl. VO vom 30.9. 1931 (RGBl. I, S. 521).<br />
119 Vgl. Leinemann, NZA 1991, 964f.; Weiss, FS<br />
Arbeitsgerichtsverband, 1994, S. 75 [83ff.].<br />
120 Vgl. die berühmte Schrift Kahn-Freunds, Das<br />
soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts, 1931,<br />
Wiederabdruck in Ramm, <strong>Arbeitsrecht</strong> und<br />
Politik. Quellentexte 1918–1933; zur zeitgenössischen<br />
Rezeption vgl. Martiny, Integration<br />
oder Konfrontation – Studien zur Geschichte<br />
der sozialdemokratischen Rechts- und Verfassungspolitik,<br />
1976, S. 131ff.; Ramm, Gedächtnisschrift<br />
Kahn-Freund, 1980, S. 225 [240ff.].<br />
121 Vgl. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik,<br />
1949, Neudruck 1978 mit Nachwort<br />
Tennstedt, S. 363ff.<br />
Kittner 17<br />
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