Nr. 9 / September 2010 - Grossraumbüro (PDF, 2645 kb - KV Schweiz
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16<br />
Monatsinterview<br />
context 9 – <strong>2010</strong><br />
men, wenn ihre Angestellten nach zehn<br />
Jahren ausgepowert sind. Aber daneben<br />
gibt es auch die, die eine nachhaltige Zusammenarbeit<br />
anstreben.<br />
Welche Nebenwirkungen hat die ständige<br />
Erreichbarkeit?<br />
Sie ist ein Mosaikstein in der ständig<br />
zunehmenden Belastung. Dadurch kann<br />
eine ganze StressKaskade losgetreten<br />
werden mit Schlafstörungen als erstes<br />
Indiz, Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit,<br />
sozialem Rückzug, HerzrhythmusStörungen,SchulterNackenproblemen,<br />
MagenDarmBeschwerden und so<br />
weiter. Man darf das Handy aber auch<br />
nicht verteufeln. Sehr viele Menschen<br />
können problemlos damit umgehen.<br />
Ganz allgemein: Wird den Angestellten<br />
heute nicht zu viel Verantwortung für<br />
den Geschäftserfolg aufgebürdet?<br />
Definitiv. Klassisch ist in diesem Zusammenhang<br />
die Arbeitszeitkontrolle.<br />
Sie wird zunehmend an die Arbeitnehmer<br />
delegiert. In einer Untersuchung hat man<br />
herausgefunden, dass Schichtarbeiter die<br />
beste WorkLifeBalance haben, weil sie<br />
ihren Arbeitsplatz zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt räumen müssen. Am schlechtesten<br />
haben gut ausgebildete Angestellte<br />
abgeschnitten, die selber entscheiden<br />
können, ob sie Überzeit machen wollen<br />
oder nicht.<br />
Gleichsam als Gegenpol zu den steigenden<br />
Anforderungen wird heute viel von<br />
Entschleunigung gesprochen. Findet<br />
man solche Tendenzen in der Arbeitswelt,<br />
oder gehört das in den Freizeitbereich?<br />
In der Arbeitswelt geht es primär um<br />
Produktivitätssteigerung. Dieses Primat<br />
und Entschleunigung beissen sich definitiv.<br />
Und wenn Sie das Freizeitverhalten<br />
der Menschen anschauen, kommen Sie<br />
zum Schluss, dass die meisten auch dort<br />
be statt entschleunigen. So gehen sie beispielsweise<br />
nicht einfach gemütlich eine<br />
Stunde joggen, sondern wollen sich auch<br />
dort immer mehr steigern. Anstatt dass<br />
man am Abend mal sagt, jetzt gehe ich in<br />
die Badewanne und dann früh ins Bett,<br />
macht man nachts um elf noch mit Freunden<br />
ab und steht dann am nächsten Morgen<br />
doch wieder früh auf. Wir verhalten<br />
uns schon recht unvernünftig.<br />
Müsste man die Arbeit entschleunigen?<br />
Oft kommt man am Schluss tatsächlich<br />
schneller vorwärts, wenn man die<br />
Dinge langsam angeht. Es gibt eine Untersuchung,<br />
in der zwei Gruppen in einem<br />
Produktionsbetrieb arbeiteten. Die erste<br />
arbeitete am Morgen und am Nachmittag<br />
jeweils vier Stunden durch, die andere<br />
machte nach jeder Stunde fünf Minuten<br />
Pause. Bis am Mittag produzierte die<br />
«In einer Untersuchung hat man herausgefunden,<br />
dass Schichtarbeiter die beste Work-Life-Balance<br />
haben, weil sie ihren Arbeitsplatz zu einem<br />
bestimmten Zeitpunkt räumen müssen.»<br />
Gruppe ohne Pause die grösseren Stückzahlen,<br />
doch am Abend hatte die Gruppe<br />
mit Pausen die höhere Produktivität. Das<br />
heisst: Wenn wir erholt sind, sind wir sogar<br />
produktiver, als wenn wir uns keine<br />
Pause gönnen. Das ist in Berufen, in denen<br />
man vor allem mit dem Kopf arbeitet,<br />
nicht anders.<br />
Wenn Sie der Arbeitswelt eine Diagnose<br />
stellen müssten: Wie würde diese lauten?<br />
Wir haben zu viele Sprinter und zu<br />
wenige Marathonläufer. Zu viel Angst vor<br />
Arbeitsplatzverlust und vor Führungspersonen.<br />
Zu viel Opferhaltung und zu wenig<br />
Täterverhalten.<br />
Was heisst das?<br />
Viele Menschen fühlen sich enorm<br />
unter Druck und denken, man erwarte<br />
von ihnen, dass sie jederzeit das Handy<br />
abnehmen und die Mails sofort beantworten.<br />
Aber ist das tatsächlich so? Das ist<br />
das Opferverhalten, anstatt mal zu sagen:<br />
Nein, ich bin jetzt nicht erreichbar.<br />
Das setzt Selbstbewusstsein voraus.<br />
Es geht meistens ums Selbstwertgefühl.<br />
Ich staune manchmal, wie die Menschen<br />
auf Belastungen reagieren. Ich<br />
hatte letzthin eine Patientin, die enorm<br />
unter einer MobbingSituation gelitten<br />
hat. Da habe ich sie gefragt, warum sie<br />
nicht kündige, und sie sagte mir, daran<br />
habe sie noch gar nicht gedacht. So reagieren<br />
viele Menschen: Sie halten lieber<br />
etwas aus und leiden darunter als zu versuchen,<br />
etwas zu ändern.<br />
Ist das nicht verständlich in der gegenwärtigen<br />
Arbeitsmarktsituation?<br />
Doch, aber am Mobbing kaputtzugehen,<br />
ist doch viel schlimmer. Das Bewusstsein,<br />
dass sie nicht in Fesseln sind,<br />
sondern ihr Leben selber in die Hand<br />
nehmen müssen, gegebenenfalls mit einer<br />
Kündigung, fehlt vielen Menschen.<br />
Welche Eigenschaften brauchen die<br />
Arbeitnehmenden ausserdem, um in der<br />
heutigen Arbeitswelt bestehen zu können?<br />
Eine gute Ausbildung und die Bereitschaft,<br />
sich permanent weiterzubilden.<br />
Das ist ganz zentral. Dann die Fähigkeit,<br />
sich selber ehrlich und richtig einzuschätzen<br />
und die eigenen Grenzen auch zu<br />
kommunizieren. Ausserdem braucht es<br />
Veränderungsbereitschaft. Die Arbeitswelt<br />
ändert sich so schnell, dass man abgehängt<br />
wird, wenn man stehen bleiben will.<br />
Wegen des demografischen Wandels werden<br />
die Belegschaften künftig älter. Sind<br />
die Unternehmen darauf vorbereitet?<br />
Nicht alle, aber die grossen Unternehmen<br />
machen sich viele Gedanken darüber.<br />
Sie wissen, dass sich das Durchschnittsalter<br />
in ihren Betrieben in den nächsten<br />
zehn Jahren massiv erhöhen wird.<br />
Wo sollen Unternehmen ansetzen?<br />
Zunächst geht es um Führungsausbildung.<br />
Es gibt eine spannende Studie aus<br />
Finnland, die sagt: Wenn man nichts für<br />
ältere Mitarbeitende tut, dann sinkt ihre<br />
Leistungsfähigkeit. Wenn man ihnen in<br />
den Bereichen Ergonomie oder Arbeitsorganisation<br />
hilft, sinkt sie zwar immer<br />
noch, aber deutlich weniger. Aber wenn<br />
man Führungsschulungen macht und die<br />
Führungskräfte wegbringt von diesem<br />
Defizitmodell gegenüber dem Alter, können<br />
ältere Mitarbeitende ihre Leistungsfähigkeit<br />
sehr lange hoch halten.<br />
Was heisst das für die Führungskräfte?<br />
Sie müssen grosse psychologische<br />
Kompetenzen haben. Eine Führungsper<br />
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