Nr. 9 / September 2010 - Grossraumbüro (PDF, 2645 kb - KV Schweiz
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«Ich träume nicht von den Toten»<br />
Christoph Schwager, 65, ist Lehrer an der <strong>KV</strong> Zürich Business School. Zugleich ist er<br />
einer von 700 Freiwilligen im <strong>Schweiz</strong>erischen Korps für Humanitäre Hilfe. In dieser<br />
Funktion verbringt er bis 4 Monate jährlich im Ausland. Von Ingo Boltshauser / Foto Michele Limina<br />
Eigentlich könnte Christoph Schwager<br />
seit diesem Sommer jeden Morgen<br />
ausschlafen, dann gemütlich auf seiner<br />
Terrasse in Wädenswil Kaffee trinken<br />
und in der Zeitung über die Katastrophen<br />
lesen, die in der Welt passiert sind.<br />
Doch nichts davon wird sich wohl so<br />
schnell erfüllen, und dass er keinen Kaffee<br />
mag, ist noch der geringste aller<br />
Gründe. Wer diesen Mann kennenlernt,<br />
kann ihn sich schlicht nicht als Rentner<br />
vorstellen, auch wenn er das Alter dazu<br />
hätte. Zum Interview erscheint er auf seiner<br />
BMW-Geländemaschine. Sein Händedruck<br />
ist eisern. Das Gesicht, das unter<br />
dem Helm auftaucht, kann die Lebensjahre<br />
zwar nicht verbergen, aber es ist<br />
kantig und entschlossen, die Augen mustern<br />
das Gegenüber aufmerksam, fast stechend.<br />
Und über Katastrophen liest er<br />
nicht in der Zeitung. Er fliegt hin.<br />
Seit 23 Jahren ist Schwager Freiwilliger<br />
beim <strong>Schweiz</strong>erischen Korps für Humanitäre<br />
Hilfe (SKH). Wie viele Einsätze er<br />
in dieser Zeit hatte, kann er nicht sagen –<br />
die Zahl geht in die Dutzende. In manchen<br />
Jahren wurde er kein einziges Mal<br />
aufgeboten, in anderen war er bis zu vier<br />
Monate für das SKH im Ausland.<br />
Mehr als Hundestaffeln<br />
Bekannt ist das SKH vor allem für seine<br />
Hundestaffeln und die Ärzteteams, die<br />
unter teils widrigsten Umständen Leben<br />
retten. Ausserdem gibt es noch zahlreiche<br />
Fachleute für die Bereiche Statik und Infrastruktur.<br />
Schwager ist aber in keinem der genannten<br />
Bereiche tätig. Er ist Logistiker.<br />
Seine Aufgabe ist es dafür zu sorgen, dass<br />
die Spezialisten unter den bestmöglichen<br />
Bedingungen arbeiten können. «Es wäre<br />
ja dumm, wenn Ärztinnen oder Ingenieure<br />
ihre halbe Einsatzzeit damit verbringen<br />
müssten, sich um Schlafplätze, Essen<br />
oder Nachschub zu kümmern.»<br />
context 9 – <strong>2010</strong><br />
Wenn eine Katastrophe über ein Land<br />
hereinbricht, ist er deshalb meist einer<br />
der Ersten, die aufgeboten werden. Das<br />
geschieht in der Regel nach drei bis vier<br />
Stunden, also sobald sich das Aussendepartement<br />
einen ersten Überblick verschaffen<br />
konnte. Oft erreicht ihn die Alarmierung<br />
lange bevor die Medien davon<br />
berichten, manchmal mitten im Schulunterricht.<br />
Kurz nach der Alarmierung<br />
macht er sich dann auf nach Bern, zum<br />
Departement für Entwicklung und Zusammenarbeit<br />
(Deza), dem das SKH unterstellt<br />
ist. Von dort geht es nach dem ers-<br />
ten Briefing zum Flughafen Zürich und<br />
weiter mit dem Rega-Jet ins Einsatzgebiet.<br />
Seine gesamte Ausrüstung hat er fixfertig<br />
gepackt zu Hause griffbereit.<br />
Mit im Gepäck: Grössere Summen an<br />
Bargeld, zum grössten Teil in Dollars und<br />
wenn möglich in Landeswährung. «Ohne<br />
Bargeld läuft nichts», sagt Schwager. «Oft<br />
führen uns unsere Einsätze ja in Gebiete,<br />
in denen alles zusammengebrochen ist.<br />
Da funktioniert kein Telefon mehr, keine<br />
Bank hat offen, kein Taxi fährt mehr,<br />
nichts. Cash ist unter diesen Bedingungen<br />
das einzige akzeptierte Zahlungsmittel.»<br />
Unter solch widrigen Umständen<br />
müssen Schwager und das Vorausdetachement<br />
innert kürzester Zeit mit den<br />
vor Ort zur Verfügung stehenden Mitteln<br />
eine funktionierende Infrastruktur aufbauen.<br />
Dazu gehören Schlafmöglichkeiten<br />
für die in einer zweiten Welle anrückenden<br />
Rettungskräfte, Fahrzeuge und<br />
Chauffeure, Übersetzer, eine Küche, Gemeinschaftsräume,<br />
gegebenenfalls<br />
Räumlichkeiten, die sich zu Operations-<br />
sälen umfunktionieren lassen und so weiter.<br />
Mit etwas Glück stehen dem SKH vor<br />
Ort Botschaftsangehörige oder lokal tätige<br />
Hilfswerke zur Seite, manchmal<br />
funktionieren die staatlichen Organe<br />
auch noch einigermassen und koordinieren<br />
die Hilfe. Manchmal aber, etwa bei<br />
seinem letzten grossen Einsatz, dem verheerenden<br />
Erdbeben von Haiti, ist die öffentliche<br />
Ordnung vollständig zusammengebrochen.<br />
Dann müssen sämtliche<br />
benötigten Dienstleistungen und Güter<br />
buchstäblich mitten im Chaos auf der<br />
Strasse organisiert werden.<br />
Wer diesen Mann kennenlernt, kann ihn sich<br />
schlicht nicht als Rentner vorstellen.<br />
Auf seinen Besorgungstouren trägt<br />
Schwager übrigens immer ein Stempelkissen<br />
mit sich. Auch wenn das SKH<br />
schnell und unbürokratisch hilft, so bleibt<br />
es doch eine Bundesorganisation, und<br />
spätestens bei der Abrechnung ist nichts<br />
mehr mit unbürokratisch. Abgesehen von<br />
Tageseinkäufen auf den Lebensmittelmärkten<br />
muss Schwager sämtliche Ausgaben<br />
akribisch belegen können. «Da<br />
man in vielen Weltgegenden nicht weiss,<br />
ob die Menschen schreiben können, geht<br />
das am effizientesten, wenn man sich die<br />
Ausgaben mit einem Fingerabdruck visieren<br />
lässt.»<br />
Komplizierte Logistik<br />
24 bis 48 Stunden nach dem Vorausdetachement<br />
treffen in der Regel die weiteren<br />
Helfer ein – im Fall von Haiti unter anderem<br />
rund 30 Ärztinnen und Ärzte. Das<br />
Ziel ist es, dass diese Spezialisten direkt<br />
nach Ankunft mit ihrer eigentlichen<br />
Kernaufgabe loslegen können und alles,<br />
was sie benötigen, bereits vorhanden ist.<br />
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