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Reader zur Tagung - Deutsches Polen Institut

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Dr. Rüdiger Ritter (Bremerhaven/Berlin)<br />

Musik und Migration: Jazz als Vehikel der Amerikanisierung in <strong>Polen</strong><br />

und die Rückwirkung auf die USA<br />

Rüdiger Ritter (geb. 1966) ist derzeit Mitarbeiter im Projekt Jazz im Ostblock an der FU Berlin (Leitung:<br />

Prof. Dr. G. Pickhan). Vorher Mitarbeit an den Forschungsprojekten Die Amerikaner in Bremerhaven<br />

am Museum der 50er Jahre Bremerhaven, Kollektive Identitäten und Geschichte: ein<br />

Vergleich zwischen Belarus, Litauen, <strong>Polen</strong> und der Ukraine an der Universität Bremen sowie West-<br />

Östliche Spiegelungen: Das Russlandbild der Deutschen und das Deutschlandbild der Russen an<br />

der BUGH Wuppertal. Promotion 2005 über Musik für die Nation. Der Komponist Stanisław Moniuszko<br />

(1819 - 1872) in der polnischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, 2004 Monographie Wem<br />

gehört Musik? Warschau und Wilna im Widerstreit nationaler und städtischer Musikkulturen vor 1939.<br />

Im Jahr 1956, gleich als sich der Würgegriff<br />

des Stalinismus zu lockern begann, fand in<br />

Warschau das erste Jazz-Festival statt, das<br />

unter dem Namen Jazz Jamboree fortan zu<br />

einem Magneten nicht nur in der polnischen,<br />

sondern auch in den ost- und ostmitteleuropäischen<br />

Jazz-Szene wurde. Die Wirkung dieses<br />

Ereignisses blieb jedoch nicht auf den<br />

engen Kreis der Jazzmusiker beschränkt. Jazz<br />

bildete in dieser Zeit ein Fenster <strong>zur</strong> Freiheit<br />

und stand symbolisch für den american way<br />

of life. Das Festival bildete eine in der polnischen<br />

Gesellschaft tiefverwurzelte Westorientierung<br />

ab, die durch stalinistische Repressionen<br />

lediglich von der unmittelbar sichtbaren<br />

Oberfläche der Öffentlichkeit verschwunden<br />

war. Zwei Beispiele zeigen, zu welchen ganz<br />

unterschiedlichen Ergebnissen die Amerikaorientierung<br />

im Jazzmilieu führte:<br />

Wie Jazz als Ausdruck einer West- und Amerikaorientierung<br />

bereits vorher funktioniert hatte,<br />

lässt sich exemplarisch am Organisator<br />

des ersten Jazz Festivals zeigen, nämlich an<br />

Leopold Tyrmand. Selbst kein Jazz-Musiker,<br />

fungierte er als Exponent einer polnischen<br />

Bewegung Jugendlicher und junger Erwachsener,<br />

die neben einem auffälligen Kleidungsstil<br />

und einem bestimmten Habitus Jazz<br />

als ein Mittel für eine alternative kulturelle<br />

Orientierung einsetzen, den sog. bikiniarze. Ihr<br />

Leitbild war eine imaginäre Vorstellung von<br />

den USA als Land der Freiheit, das sie vertraten,<br />

ohne jemals selbst dagewesen zu sein.<br />

Die von State Department geförderten Rei-<br />

<br />

52<br />

sen von Jazz-Musikern in den Ostblock (hier<br />

vor allem die Tournee von Dave Brubeck aus<br />

dem Jahre 1958) förderten diese Vorstellung.<br />

Nachdem Tyrmand während eines USA-<br />

Besuchs im Jahr 1966 beschloß, dort zu bleiben,<br />

geriet er schon bald in Konflikt mit der<br />

öffentlichen Meinung, da er weder das eigene<br />

idealistische Amerikabild aufgeben noch<br />

sich mit dem amerikanischen Unverständnis<br />

der polnischen Situation abfinden wollte.<br />

Nach einem Zerwürfnis mit Jerzy Giedroyć<br />

war er auch in der polnischen Emigration isoliert.<br />

Wie transatlantische Migration eines Jazz-<br />

Musikers jedoch einen wechselseitigen Kulturaustausch<br />

hervorbrachte und der polnischen<br />

Jazz-Szene immer wieder zu neuer Vitalität<br />

verhalfen, zeigt das Beispiel des Jazzpianisten<br />

Adam Makowicz, der 1957 als Hörer<br />

von Willis Conovers Sendung Jazz Hour im<br />

Sender Voice of America zum Jazz kam. Seine<br />

»Entdeckung« durch John Hammond führte<br />

zu einer Konzertreise in die USA und <strong>zur</strong><br />

Übersiedlung dorthin. Makowicz fungierte<br />

durch seine Aufnahme von Chopin-<br />

Elementen als Botschafter seines Landes in<br />

den USA (Kampagne »Let Poland be Poland«<br />

während der Solidarność-Zeit) und als Vermittler<br />

US-amerikanischer Werte in seinem<br />

Heimatland. Jazz erhielt durch Kontakte dieser<br />

Art immer eine politische Funktion wechselseitiger<br />

Kulturvermittlung, die ihn sowohl für<br />

den Musikwissenschaftler als auch für den Historiker<br />

interessant macht.

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