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Untitled - Hessisches Landestheater Marburg

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ErHELLEndE ErfaHrungEn<br />

In dEr dunKELHEIT<br />

von Franz-Josef Hanke<br />

Blindheit ist ein bedauernswürdiger Zustand, aber eine<br />

unverzeihliche Haltung, hat der blinde Schriftsteller<br />

Bernd Kebelmann einmal formuliert. Viele<br />

Menschen mit Sehbeeinträchtigungen erleben<br />

die Blindheit ihrer Mitmenschen tagtäglich als<br />

rücksichtsloses Vorüberrennen oder ignorante<br />

Visualisierung von Informationen in allen Bereichen<br />

des Alltags. Der ›Röhrenblick‹ hat sich in<br />

der durchkommerzialisierten Gesellschaft breit<br />

gemacht. Jeder rennt rücksichtslos nur ge-<br />

radeaus auf sein eng eingegrenztes Ziel zu, ohne<br />

nach rechts oder links zu schauen. Mit den<br />

Ellenbogen stößt er dabei alle beiseite, die ihm<br />

in die Quere kommen.<br />

Als Blinder beobachtet man diese Verhaltens-<br />

weise beinahe zwangsläufig. Denn man ist<br />

immer wieder auf die Solidarität der Mitmenschen<br />

angewiesen. Häufig begegnet man aber auch<br />

sehr hilfsbereiten Zeitgenossen. Als Blinder macht<br />

man Erfahrungen, die Sehende niemals er-<br />

leben können.<br />

Eine Bäckerei erkennt jeder Blinde am Geruch<br />

der frischen Backwaren. Daran kann er auch<br />

ermessen, ob die Produkte dort einigermaßen<br />

empfehlenswert sind oder eher nicht. Aber auch<br />

der Zeitschriftenstand oder die Buchhandlung<br />

verströmen einen ganz eigenen Geruch, den man<br />

im Vorübergehen wahrnehmen kann. Papier und<br />

Druckerschwärze erzeugen jene besondere<br />

olfaktorische Kombination, die in den Regalen<br />

öffentlicher Büchereien mangels Massen an<br />

neuen Büchern oft schon ein wenig Patina ange-<br />

setzt hat.<br />

Das Sehen verleitet viele Menschen dazu, sich<br />

nicht mehr auf ihr Gehör, ihre Geruchswahr-<br />

nehmung und den Tastsinn ihrer Fingerkuppen<br />

zu verlassen. Blinde hingegen sind dazu gezwungen,<br />

ihre Wahrnehmung auf solche Sinne<br />

zu konzentrieren. Wenn man sich auf sein Gehör<br />

verlässt, dann bemerkt man das Zittern der<br />

Stimme des Gegenüber. Man hört seine Unsicher-<br />

heit oder die freundliche Zuwendung aus<br />

der Art, wie er spricht. Irgendwann hört man<br />

vielleicht sogar, ob jemand lügt oder die Wahrheit<br />

sagt.<br />

Im völligen Dunkel sind auch Sehende gezwungen,<br />

sich auf andere Sinnesorgane zu<br />

konzentrieren als ihre Augen. Dann können<br />

sie sich zumindest ein kleines Stück weit in die<br />

Welt der Blinden hineinversetzen. Intensives<br />

Tasten, Schmecken, Hören und Riechen ver-<br />

mittelt vielen ganz neue Erfahrungen. Erstaunt<br />

stellen sie fest, dass auch ihre Nase noch<br />

Düfte wahrnehmen kann und ihre Ohren Geräusche<br />

hören, die ihre Augen lange beiseite<br />

gedrängt hatten.<br />

Diese – im wahrsten Sinne des Wortes – eindrucksvolle<br />

Begegnung mit der eigenen Wahrnehmung<br />

sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

dass Blinde ihre Sinne angesichts der<br />

besonderen Notwendigkeit und der langen Dauer<br />

ihrer Auseinandersetzung damit ganz anders<br />

trainiert haben als Sehende.<br />

Sehr weit verbreitet ist indes die falsche Vor-<br />

stellung, Blinde hätten das absolute Gehör.<br />

Im Gegensatz zu diesem Irrglauben hören viele<br />

Blinde sogar schlecht. Doch sind sie meist<br />

sehr gut darin trainiert, die verschiedenen Geräusche<br />

im Alltag zu unterscheiden.<br />

Ich selbst gehe regelmäßig ins Theater und<br />

rezensiere die Aufführungen mit Hilfe einer<br />

sehenden Begleitung. Andere Blinde sind Stamm-<br />

besucher im Kino oder im Fußballstadion.<br />

Das Meiste kann man hier hören, wenn man nur<br />

gut genug aufpasst.<br />

Kultur gehört allen, ebenso wie Natur und Bil-<br />

dung. Vom unbequemen Rand aus drängen<br />

Behinderte daher in die Mitte der Gesellschaft.<br />

Sie wollen sehen, was man machen kann mitten<br />

unter den Mitmenschen.<br />

Die ›Normalen‹ aber können lernen, dass Sehen<br />

nicht alles ist. Die Augen werden ihnen über-<br />

gehen, wenn sie sich in die optische Finsternis<br />

begeben und dann begreifen, dass Bernd Kebelmann<br />

mit seinem Spruch Recht hat.<br />

Franz-Josef Hanke, geboren 1955<br />

und im Alter von 23 Jahren allmählich<br />

erblindet, arbeitet seit 1986<br />

als freier Journalist.<br />

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