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Kernfragen des Glaubens - Evangelische Akademikerschaft in ...

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<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />

Die Reformation geht weiter! Auch für den Glauben.<br />

Der Lan<strong>des</strong>verband Pfalz-Saar der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong> <strong>in</strong> Deutschland<br />

stellt Inhalte <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> zur Diskussion<br />

Inhaltsverzeichnis Seite 3 ausführliches Inhaltsverzeichnis am Ende der <strong>Kernfragen</strong> Seite 61 - 64<br />

Der Glaube verändert sich, auch der christliche: Es<br />

gibt neue Gottesvorstellungen und andere Arten zu<br />

beten, die Bibel zu verstehen und Jesus als Sohn<br />

Gottes zu sehen. E<strong>in</strong>iges ist nicht mehr so wichtig,<br />

anderes ist gefragt.<br />

Viele Begriffe und manche Inhalte <strong>des</strong> christlichen<br />

<strong>Glaubens</strong> werden heute h<strong>in</strong>terfragt und entsprechen<br />

häufig nicht mehr der heutigen spirituellen<br />

Praxis. Fragen wie „Was ist heute Kirche?“ oder<br />

„Wie verhalten sich Naturwissenschaft und Glauben<br />

zue<strong>in</strong>ander?“ lassen sich nicht mehr zufriedenstellend<br />

und angemessen nur mit Sätzen aus Luthers<br />

oder aus dem Heidelberger Katechismus beantworten.<br />

Das (apostolische) <strong>Glaubens</strong>bekenntnis wird anders<br />

als früher <strong>in</strong>terpretiert. „Ich glaube an Gott, den Allmächtigen....,<br />

.... an die Auferstehung der Toten und<br />

das ewige Leben.“ Das sprechen manche Gottesdienstbesucher<br />

nicht mehr mit. Brauchen wir e<strong>in</strong><br />

neues, anderes Bekenntnis? Die christlichen Kirchen<br />

gehen auf solche Fragen nicht ausreichend<br />

e<strong>in</strong>.<br />

Wir brauchen Bes<strong>in</strong>nung auf und Nachdenken über<br />

das Wesentliche <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> als S<strong>in</strong>ngebung unseres<br />

Lebens – e<strong>in</strong>e „Reformation“ (auch) beim<br />

<strong>Glaubens</strong>verständnis!<br />

Zwar gibt es neue theologische Literatur und neue<br />

religiöse Praxis. Aber nötig wäre, dass wir selber<br />

verständlich von den D<strong>in</strong>gen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> reden<br />

können, von Gott, von Jesus, von der Bibel, von<br />

der Kirche, vom Jenseits und vom Ewige Leben.<br />

Gibt es da Neues? Anderes? Es geht nicht nur um<br />

Kritik an der Tradition, sondern um geme<strong>in</strong>sam zu<br />

f<strong>in</strong>dende und zu def<strong>in</strong>ierende neue Zugänge, zu<br />

denen zunehmend Nichttheologen kreative Beiträge<br />

leisten.<br />

Wir – das s<strong>in</strong>d Mitglieder e<strong>in</strong>es theologischen Arbeitskreises<br />

der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong> –<br />

haben damit angefangen, unser Verständnis von<br />

e<strong>in</strong>igen <strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong> aufzuschreiben,<br />

zu diskutieren und aus eigener Sicht<br />

zu beantworten.<br />

Wir wollen, kurz gesagt:<br />

1. Neue <strong>Glaubens</strong>vorstellungen prüfen und, wenn<br />

nötig und möglich, <strong>in</strong>haltlich und praktisch konkretisieren<br />

und weiter entwickeln.<br />

2. Möglichkeiten der Verb<strong>in</strong>dung von traditionellen<br />

<strong>Glaubens</strong>formen mit neuen theologischen Ansätzen<br />

untersuchen und vermitteln.<br />

3. Innerhalb und außerhalb der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong><br />

dazu anregen, dass neues <strong>Glaubens</strong>verständnis<br />

und neue <strong>Glaubens</strong>formen <strong>in</strong><br />

der Kirche anerkannt und aufgenommen werden,<br />

ohne dadurch bisher praktizierte und bewährte<br />

<strong>Glaubens</strong>weisen zu bee<strong>in</strong>trächtigen.<br />

Wir halten es für e<strong>in</strong>e Aufgabe der <strong>Evangelische</strong>n<br />

<strong>Akademikerschaft</strong> <strong>in</strong> Deutschland, e<strong>in</strong>en Beitrag zur<br />

Entwicklung und Aktualisierung <strong>des</strong> christlichen<br />

<strong>Glaubens</strong> <strong>in</strong> dieser Zeit zu leisten, <strong>in</strong>dem ihre Mitglieder<br />

ihr eigenes <strong>Glaubens</strong>verständnis klären und<br />

neue <strong>Glaubens</strong>aussagen prüfen.<br />

Die Auswahl der Themen erfolgte nach Aktualität<br />

und im Zusammenhang mit Veranstaltungen der<br />

<strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong>.<br />

In den e<strong>in</strong>zelnen Themen ist e<strong>in</strong> unterschiedliches<br />

<strong>Glaubens</strong>verständnis zu erkennen, was aber e<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>igung auf e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Stellungnahme <strong>des</strong><br />

Arbeitskreises nicht verh<strong>in</strong>dert hat. Damit soll e<strong>in</strong><br />

Beispiel für Geme<strong>in</strong>schaft im Glauben auch bei unterschiedlichen<br />

Auffassungen gegeben werden.<br />

Greifen Sie das Thema „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“<br />

auch <strong>in</strong> Ihren Veranstaltungen auf! (Kurze Inhaltsangaben<br />

zu den 15 Themen f<strong>in</strong>den Sie jeweils im<br />

kursiv gesetzten Vorspann). Vorsch lägefür die Praxis<br />

werden auf der gleichen Web-Seite angeboten<br />

wie dieser Text<br />

Ihre Zustimmung und Kritik, Ihre Fragen und Antworten<br />

und Ihre Erfahrungen mit <strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong><br />

<strong>Glaubens</strong> <strong>in</strong> der heutigen Zeit (auch über den Kreis<br />

von Mitgliedern der EAiD h<strong>in</strong>aus) können, wenn Sie<br />

es erlauben, auf unserer Internetseite<br />

http://www.ev-akademiker.de/ea-vor-ort/pfalz-saar/<br />

(Diskussionsforum) veröffentlich und etwa Ende 2014<br />

als Beitrag“ der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong> i.D.<br />

zum 500. Reformationsjubiläum verwendet werden.<br />

Beiträge zu weiteren Themen s<strong>in</strong>d erwünscht!<br />

eMail-Adresse für Beiträge: Günter Hegele<br />

hegele@ev-akademiker.de<br />

Anschrift: Günter Hegele, Ahornstr.5, 76829 Landau<br />

1


H<strong>in</strong>weise zu den Texten:<br />

Anführungszeichen im Text können Zitate (auch ohne oder mit pauschalen Quellenangaben) oder Beiträge<br />

von Arbeitskreisteilnehmenden se<strong>in</strong>, die sich der Arbeitskreis zu eigen gemacht hat.<br />

In den Texten s<strong>in</strong>d – entsprechend der Zusammensetzung <strong>des</strong> Arbeitskreises – unterschiedliche theologische<br />

und naturwissenschaftliche Auffassungen enthalten. Sie liegen aber im Rahmen pluralistischer Theologie und<br />

verbreiteter naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Der Arbeitskreis bemüht sich, die Offenheit und Toleranz für<br />

unterschiedliche religiöse Positionen auch selbst zu praktizieren. Bei gegensätzlichen Auffassungen wird e<strong>in</strong>e<br />

Abwertung anderer Überzeugungen soweit wie möglich vermieden.<br />

Inhalt: Seite<br />

Erweitertes Inhaltsverzeichnis am Ende der <strong>Kernfragen</strong><br />

1. Warum Kern-„Fragen“, wenn es um unseren Glauben geht? 3<br />

Warum nicht Kern-„Aussagen“?<br />

2. Was ist Glaube? 6<br />

3. Glaube und Wissen 8<br />

4. Naturwissenschaft und Glauben 9<br />

5. Religion und Naturwissenschaft im Licht der modernen Physik 13<br />

6. Kommunikation mit Gott? 17<br />

7. Gott <strong>in</strong> der Mystik f<strong>in</strong>den? 20<br />

8. Das Gebet als Kommunikation mit Gott 25<br />

9. Jesus – wer war und wer ist das? 32<br />

10. Me<strong>in</strong>e Kirche ? 35<br />

11, Schuld / Sünde / Vergebung 42<br />

12 Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben 49<br />

13, Hoffen über den Tod h<strong>in</strong>aus? 53<br />

14. Der andere Gott – damals und heute 57<br />

15. Theodizee – Gott entschuldigen? 59<br />

Erweitertes Inhaltsverzeichnis 64<br />

2


1. Warum Kern-„Fragen“, wenn es um unseren<br />

Glauben geht?<br />

Warum nicht Kern-„Aussagen“?<br />

Wir s<strong>in</strong>d unsicher geworden.<br />

In den protestantischen Kirchen Europas, zumal <strong>in</strong><br />

Deutschland breitet sich Unsicherheit aus, wie man<br />

der schw<strong>in</strong>denden B<strong>in</strong>dung ihrer Mitglieder an die<br />

Organisation und ihrer Verkündigung begegnen<br />

kann.<br />

Auch das Verständnis <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> ist unsicher<br />

geworden. Selbst Aussagen im <strong>Glaubens</strong>bekenntnis<br />

zu Gott und über den Heiligen Geist werden<br />

nicht mehr voll bejaht. Erkenntnisse der Naturwissenschaften<br />

lassen manches früher für selbstverständlich<br />

Gehaltene als fraglich und überholt ersche<strong>in</strong>en.<br />

Vieles ersche<strong>in</strong>t aber auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen Licht.<br />

Es lohnt sich, Fragen zu stellen, auch wenn nicht<br />

gleich und nicht leicht Antworten zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d.<br />

Neue Ansätze <strong>in</strong> der Theologie s<strong>in</strong>d überraschend<br />

und weiterführend. Sie s<strong>in</strong>d nicht nur <strong>in</strong> der Spanne<br />

zwischen säkularisiertem Denken und Fundamentalismus<br />

zu f<strong>in</strong>den. Auch auf <strong>in</strong>dividueller Ebene<br />

kann ergebnisoffen nach dem Grund <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />

gefragt werden. Wir stellen ke<strong>in</strong>e neuen<br />

„Kernsätze <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ auf, sondern wir fragen<br />

nach neuen Möglichkeiten zu glauben, tun dies<br />

gerne mite<strong>in</strong>ander und auch zusammen mit anderen<br />

Interessierten. Unser Glaube an Gott und unsere<br />

„Gottesbilder“ müssen nicht <strong>in</strong> negativer Theologie<br />

enden. Neue Gottesbilder korrespondieren<br />

mit dem, was wir über die Welt wissen können.<br />

Wir s<strong>in</strong>d unsicher geworden.<br />

In den protestantischen Kirchen Europas, zumal <strong>in</strong><br />

Deutschland breitet sich Unsicherheit aus, wie man<br />

der schw<strong>in</strong>denden B<strong>in</strong>dung ihrer Mitglieder an die<br />

Organisation und ihrer Verkündigung begegnen<br />

kann.<br />

Diese Schwächung ist nicht nur „gefühlt“, sie<br />

schlägt sich <strong>in</strong> Austrittszahlen und nachlassenden<br />

Gottesdienstbesuchen nieder, obwohl die immer<br />

wieder genannten Gründe für die ganz ähnlichen<br />

Probleme der katholischen Kirche, Priestermangel,<br />

Frauenord<strong>in</strong>ation, Zölibat, den Protestanten nicht<br />

zu schaffen machen.<br />

Unsicherheit spüren wir aber auch selber, die wir<br />

der Kirche noch nahestehen und wir erfahren sie <strong>in</strong><br />

Gesprächen, was unseren Glauben und se<strong>in</strong> Bekenntnis<br />

angeht.<br />

Wer ist das, der Drei-e<strong>in</strong>e Gott, den wir bekennen?<br />

Wer ist das, se<strong>in</strong> Sohn, <strong>des</strong>sen Tod und Auferstehung<br />

uns von Sünden lossprechen und das ewige<br />

Leben verheißen sollen?<br />

Uns, die wir das Wort „Sünde“ vielfach gar nicht<br />

mehr im Munde führen, geschweige denn, dass wir<br />

uns unsere Fehltritte als Sünde zurechnen (weswegen<br />

wir wohl auch nicht mehr zwischen Schuld<br />

und schicksalhaftem Unglück zu unterscheiden<br />

vermögen).<br />

Uns, denen die Sterblichkeit als unausweichliches<br />

Los alles Lebendigen bewusst ist, selbst wenn wir<br />

sie zeitlebens verdrängen wollen.<br />

Wo f<strong>in</strong>den wir ihn, den Heiligen Geist? Heute, <strong>in</strong><br />

den Beschleunigerkathedralen der Physiker, wenn<br />

diese das „Gottesteilchen“ als „miss<strong>in</strong>g l<strong>in</strong>k“ e<strong>in</strong>er<br />

durch und durch als materiell verstandenen Welt<br />

aufspüren?<br />

Wir sprechen das apostolische <strong>Glaubens</strong>bekenntnis<br />

im Gottesdienst, allsonntäglich oder bei besonderen<br />

Anlässen. Aber nicht wenige fragen sich, ob<br />

sie dabei nicht e<strong>in</strong>em Missverständnis erliegen.<br />

Weil <strong>in</strong> ihren Köpfen e<strong>in</strong>e andere Vorstellung Platz<br />

gegriffen hat als die von e<strong>in</strong>er Welt, geteilt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Unterwelt, das Reich <strong>des</strong> To<strong>des</strong>; die Erde, auf der<br />

sich das Leben abspielt; den Himmel dort oben, der<br />

verheißen ist, wenn wir das Gericht bestanden haben.<br />

Welches Gericht denn? Von welchen unterirdischen<br />

und überirdischen Orten ist die Rede?<br />

Gott, der Schöpfer der Welt, das kann plausibel<br />

kl<strong>in</strong>gen, weil man da auch an den „Urknall“ denken<br />

kann als den Schöpfungsakt. Aber auch als der<br />

allmächtige Vater wird er angesprochen. Und sofort<br />

steht das Bild vom hoheitsvollen Alten mit weißem<br />

Bart vor Augen, der <strong>in</strong> wallendem Gewand auf der<br />

Wolke thront. Gott wie e<strong>in</strong> überaus erhabener<br />

Mensch, nur viel älter als je<strong>des</strong> Menschenalter,<br />

ewig sogar, und von unermesslicher Macht. E<strong>in</strong><br />

majestätischer Herrscher auch, für den wir nicht<br />

nur K<strong>in</strong>der, sondern zugleich Untertanen s<strong>in</strong>d.<br />

Diese Bilder können wir nicht ohne weiteres zusammen<br />

sehen und zusammen denken mit dem,<br />

was wir, meist nur ganz unvollkommen verstanden,<br />

aber jedenfalls begründet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em rationalen Zusammenhang<br />

und beglaubigt durch die technische<br />

Bewältigung unserer Lebenswelt, als das „naturwissenschaftliche<br />

Weltbild der Moderne“ ver<strong>in</strong>nerlicht<br />

haben.<br />

Diagnosen werden gestellt. E<strong>in</strong>e davon vermutet,<br />

gerade das unzeitgemäße Bekennen <strong>des</strong> Apostolikums<br />

habe die Verkündigung <strong>in</strong>fiziert und verursache<br />

die <strong>Glaubens</strong>verflüchtigung. Konziliartheologischer<br />

Tradition entsprungen, wird es augensche<strong>in</strong>lich<br />

dem modernen Weltverständnis nicht<br />

3


mehr gerecht, aber auch nicht dem biblischen Gottesverständnis.<br />

Selbst diese bibelfundierte Gottesverkündigung ist<br />

aber nach dieser Überzeugung defizitär, weil <strong>in</strong><br />

Mythen und Bildern sprechend, die, so die Behauptung,<br />

nicht mehr die unseren se<strong>in</strong> können.<br />

Was könnte näher liegen, als mit dem Theologen<br />

Matthias Kroeger e<strong>in</strong>en „Ruck <strong>in</strong> den Köpfen“ <strong>des</strong><br />

kirchlichen Personals, der Kirchenleitungen und<br />

ihrer Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrer zu fordern, damit die<br />

neuen Theologien Platz greifen können, die seit<br />

dem Aufbruch <strong>in</strong> die historisch-kritische und liberale<br />

Theologie seit dem 19. Jahrhundert von den gelehrtesten<br />

Köpfen <strong>des</strong> europäischen Protestantismus<br />

entwickelt wurden?<br />

Öffnet sich damit nicht der Weg, die <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halte<br />

und <strong>Glaubens</strong>formeln den neuen Erkenntnissen<br />

der Naturwissenschaft und ihrem Weltbild anzupassen?<br />

Oder müssen wir uns damit abf<strong>in</strong>den, dass der<br />

Diskurs zwischen Naturwissenschaft und Religion ,<br />

wenn er nicht schon als entschieden gelten kann,<br />

nur noch als Konfrontation e<strong>in</strong>es fundamentalistischen<br />

Naturalismus der modernen Wissenschaften<br />

mit e<strong>in</strong>er mehr oder weniger dogmatischunzeitgemäßen<br />

Religiosität und ihrem überholten<br />

Weltbild ausgetragen werden kann? E<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>andersetzung,<br />

die bei fortschreitender Säkularisierung<br />

<strong>des</strong> Denkens mit dem Verschw<strong>in</strong>den jeglichen<br />

<strong>Glaubens</strong> an e<strong>in</strong>e Sphäre <strong>des</strong> Göttlichen enden<br />

müsste.<br />

E<strong>in</strong>en Ausweg sucht, wer e<strong>in</strong>e relativierende Koexistenz<br />

der Weltauffassungen vor Augen sieht, e<strong>in</strong><br />

friedliches oder auch gleichgültig-gleichwertiges<br />

Nebene<strong>in</strong>ander von mehr oder weniger <strong>in</strong>dividuellen<br />

<strong>Glaubens</strong>überzeugungen vom Göttlichen und<br />

Num<strong>in</strong>osen e<strong>in</strong>erseits, über<strong>in</strong>dividuell überprüfbaren<br />

Wirklichkeitsaussagen im Rahmen wissenschaftlicher<br />

Methodik andrerseits. Es sche<strong>in</strong>t, dass<br />

dieser Sichtweise e<strong>in</strong>er neutralen Koexistenz gerade<br />

der Theologe und „Weltethiker“ Hans Küng zuneigt,<br />

der sich auch <strong>in</strong> naturwissenschaftlichen<br />

Fragen als beschlagen zeigt, der aber dem Versuch<br />

e<strong>in</strong>er „Synthese der Erkenntniswege“ letzten<br />

En<strong>des</strong> e<strong>in</strong>e Absage erteilt.<br />

E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehende Beschäftigung <strong>des</strong> Arbeitskreises<br />

mit neuen Veröffentlichungen Küngs ergab ke<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>stimmiges Votum für diese Position, auch wenn<br />

die Tendenz zu spüren war, sie als wichtiges Ergebnis<br />

<strong>in</strong> die eigenen Überlegungen e<strong>in</strong>zubeziehen<br />

(www.evangelische-akademiker.de/publikationen).<br />

Sie könnte für die verfassten Kirchen tatsächlich<br />

e<strong>in</strong>e Option se<strong>in</strong>, die vielen bereits Distanzierten<br />

wieder enger an sich zu b<strong>in</strong>den, ohne dass zu viel<br />

an theologisch-traditionellem Bestand geopfert<br />

werden muss.<br />

Kann man behaupten, wie wir die Welt im Glauben<br />

erkennen, kann überhaupt nicht <strong>in</strong> Widerspruch<br />

geraten zu dem, was die Naturwissenschaft darüber<br />

zu sagen hat? Auf jeden Fall müsste das, ehrlicherweise,<br />

e<strong>in</strong>er agnostische Haltung der Naturwissenschaftler<br />

entsprechen. Deren methodische<br />

Selbstbeschränkung führt notwendig zur Ausgrenzung<br />

<strong>des</strong> nicht über<strong>in</strong>dividuell Überprüfbaren, <strong>des</strong><br />

„<strong>Glaubens</strong>mäßigen“, als nichtwissenschaftlich,<br />

wenn nicht als irrelevant oder falsch. Dass es zwischen<br />

Naturwissenschaft als dem „Bereich <strong>des</strong><br />

Wissens“ und der Religion als dem „Bereich <strong>des</strong><br />

<strong>Glaubens</strong>“ ke<strong>in</strong>en Widerspruch geben kann, wäre<br />

also e<strong>in</strong>e Feststellung, die man zuallererst von den<br />

Naturwissenschaftlern erwarten müsste.<br />

Statt<strong>des</strong>sen wird, ungeachtet der Grundlagenproblematik<br />

ihrer Welterklärungsmodelle, <strong>in</strong>sbesondere<br />

der physikalischen, von e<strong>in</strong>er atheistischen Fraktion<br />

unter den Naturwissenschaftlern, der aggressive<br />

Anspruch auf Monopolisierung der Welterkenntnis<br />

erhoben. Fragen wir, welche Wirklichkeit wir mit<br />

ihrer Methodik erkennen, so tritt zutage, dass es<br />

ke<strong>in</strong>eswegs um die ganze uns existentiell berührende<br />

Wirklichkeit gehen kann, und dass selbst das<br />

naturalistisch-materialistisch gedeutete Wirklichkeitsfragment,<br />

das sie bearbeiten, noch so große<br />

Lücken aufweist, dass ihre Schließung auch bei<br />

größtem Forschungsaufwand unwahrsche<strong>in</strong>lich<br />

ersche<strong>in</strong>t. Damit lassen sich ke<strong>in</strong>e Denkverbote<br />

aussprechen.<br />

Das lässt nicht den Umkehrschluss zu, naturwissenschaftliche<br />

Welterkenntnis sei ihrerseits für die<br />

Frage nach Gott <strong>in</strong> der Welt irrelevant. Die Vermutung<br />

bleibt begründet, dass die Naturwissenschaft<br />

zwar ke<strong>in</strong>eswegs das e<strong>in</strong>zige Fenster ist, durch das<br />

wir auf die Wirklichkeit blicken können, sondern<br />

dass andere Fenster, wie das <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>,<br />

durchaus s<strong>in</strong>nhafte E<strong>in</strong>blicke öffnen können.<br />

E<strong>in</strong>ige Entdeckungen der Naturwissenschaften<br />

legen geradezu nahe, dass <strong>in</strong> ihnen e<strong>in</strong>e Begegnung<br />

mit dem Göttlichen stattf<strong>in</strong>det. Schon <strong>in</strong> den<br />

kreativen Möglichkeiten <strong>des</strong> sich evolutionär entfaltenden<br />

Universums kann sich für den Glauben die<br />

Anwesenheit <strong>des</strong>sen spiegeln, der es erschaffen<br />

hat und der seit Anbeg<strong>in</strong>n der Zeit mit ihm ist.<br />

Zweifel an Aussagen biblischen und christlichen<br />

<strong>Glaubens</strong>, die das schlechth<strong>in</strong> „Wunderbare“ zu<br />

behaupten sche<strong>in</strong>en, so auch die Möglichkeit e<strong>in</strong>er<br />

Auferstehung von den Toten, gab es schon <strong>in</strong> frühen,<br />

vormodernen Zeiten, die ebenso wie wir um<br />

die Grundbef<strong>in</strong>dlichkeiten unserer irdischen Existenz<br />

wussten. Diese Zweifel mussten nicht erst<br />

von den Naturwissenschaften aufgebracht und ge-<br />

4


nährt werden. Diese ergriff im Vere<strong>in</strong> mit der Aufklärung<br />

allerd<strong>in</strong>gs Partei gegen e<strong>in</strong>en kirchlich-<br />

religiösen Dogmatismus, der dem Wunder im Namen<br />

Gottes die Dignität der Welterklärung zusprechen<br />

wollte.<br />

Der sicher von sonntäglichen Erfahrungen gestützte<br />

Vorwurf, unsere Kirche nehme neue theologische<br />

Vorstellungen nicht ernst genug, die manchen<br />

Anstoß an traditionell-religiösen Formen der Welterklärung<br />

beseitigen könnten, sche<strong>in</strong>t überzogen.<br />

Ihre Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrer s<strong>in</strong>d, ausweislich<br />

ebenfalls praktischer Erfahrungen <strong>in</strong> Gottesdiensten<br />

und Bibelarbeiten, durchaus willig und fähig,<br />

neue theologische E<strong>in</strong>sichten den <strong>Glaubens</strong>unwilligen<br />

nahezubr<strong>in</strong>gen. Sie nutzen ihre theologische<br />

Ausbildung <strong>in</strong> Predigten und bei der Ausgestaltung<br />

der Liturgie, für Freiheiten e<strong>in</strong>er Verkündigung, die<br />

auch neue theologische Inhalte vermittelt. Alle<strong>in</strong> auf<br />

Grund dieser Ausbildung ist es ihnen gar nicht<br />

mehr möglich, <strong>in</strong> der Sprache „überholter“ Theologien<br />

zu reden. Und dass ihre Zuhörer e<strong>in</strong> von der<br />

Moderne geprägtes Weltbild haben wie sie selber,<br />

muss man ihnen nicht erst erzählen. Müssen hier<br />

offene Türen e<strong>in</strong>gerannt werden?<br />

Geflissentlich übersieht man aber auch die Unkenntnis<br />

und die Lernunwilligkeit <strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong>den<br />

für das theologisch Neue, für das e<strong>in</strong>e gläubige<br />

Spiritualität nicht oberstes Anliegen ist, Sie stehen<br />

der manifesten Unkenntnis naturwissenschaftlichen<br />

Wissens kaum nach. Als Seelsorger wissen die<br />

Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrer - und die Kirche tut gut<br />

daran, sie dar<strong>in</strong> anzuleiten und zu bestärken - dass<br />

sie die Menschen nicht mit dem Neuen überrumpeln<br />

dürfen. Diese wollen das, was sie für ihren<br />

Glauben halten, nicht ohne weiteres gegen Lehrme<strong>in</strong>ungen<br />

vom Hochschulkatheder e<strong>in</strong>tauschen.<br />

Ohneh<strong>in</strong> hat sich unsere Kirche längst e<strong>in</strong>e Verkündigungsdiät<br />

für die Gläubigen zu eigen gemacht..<br />

Das extrem Anstößige <strong>in</strong> den biblischen<br />

Schriften wird heute niemand mehr zugemutet, der<br />

es nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er privaten Bibellektüre aufsuchen<br />

will. Auch das ganz und gar Antiquierte hat im Gottesdienst<br />

ke<strong>in</strong>en Platz mehr. Was ke<strong>in</strong>en auch im<br />

weitesten S<strong>in</strong>n für uns relevanten „<strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halt“<br />

transportiert, f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> der gottesdienstlichen Agenda<br />

e<strong>in</strong>fach nicht statt und niemand wird für verpflichtet<br />

gehalten, es aufzusuchen.<br />

Aber natürlich werden von der Kanzel noch D<strong>in</strong>ge<br />

verkündet, von denen der Pfarrer/die Pfarrer<strong>in</strong><br />

weiß, dass sie für jeden vernünftigen Menschen<br />

heute nur noch Legenden bedeuten können. Dass<br />

man sie wortwörtlich glauben soll, wird er/sie nicht<br />

mehr verlangen, selbst wenn sich das mancher<br />

Zuhörer selbst suggerieren mag. Manche mögen<br />

wegen e<strong>in</strong>er für sie unglaubwürdigen Verkündigung<br />

den Gottesdiensten fernbleiben, viele aber tun dies<br />

aus Gleichgültigkeit dieser oder jeder anderen Verkündigung<br />

gegenüber. Anders herum sagt sich<br />

mancher Pfarrer/manche Pfarrer<strong>in</strong> wohl, dass es<br />

ganz <strong>in</strong> Ordnung ist, wenn schlichtere Gemüter<br />

manches glauben, was er/sie selber besser weiß.<br />

E<strong>in</strong>e andere Diagnose stellt der „Säkularisierung<br />

<strong>des</strong> Denkens“ <strong>in</strong> unseren Breiten, die unter Protestanten,<br />

aber auch unter Katholiken, um sich greift,<br />

die Zunahme e<strong>in</strong>er, wenn auch eher diffusen Spiritualität<br />

gegenüber. Ihr versuchen vielfältige Angebote<br />

nachzukommen.<br />

So ist die sogenannte Esoterik zu e<strong>in</strong>em Sammelbecken<br />

geworden, <strong>in</strong> dem das Dümmste neben<br />

dem Ehrwürdigen, neben den echten spirituellen<br />

Traditionen der Welt, zu f<strong>in</strong>den ist.<br />

Der von den offensichtlichen Symptomen ausgelösten<br />

Besorgnis um die Zukunft europäischer Volkskirchen<br />

ist freilich das Phänomen christlicher Missionierung<br />

entgegenzuhalten. Als evangelikale<br />

Verkündigung im weitesten S<strong>in</strong>n beherrscht sie<br />

Nordamerika, und breitet sich <strong>in</strong> Südamerika und<br />

im nichtmuslimischen Afrika und selbst im andersreligiösen<br />

Asien aus, ganz im Gegensatz zu unseren<br />

Erfahrungen. In diesen Weltteilen sche<strong>in</strong>t der<br />

religiöse Eifer gerade <strong>in</strong> Gestalt der „reformiert“protestantischen<br />

Bekenntnisse e<strong>in</strong>en enormen Aufschwung<br />

zu erfahren. Und das nicht nur mittels<br />

e<strong>in</strong>er frei flottierenden „pf<strong>in</strong>gstlerischen“ Spiritualität,<br />

sondern auch <strong>in</strong> der strikt traditionellen schrift-<br />

und offenbarungsgläubigen Form, die wir fundamentalistisch<br />

nennen.<br />

E<strong>in</strong>es der wichtigsten Kennzeichen der Diskussion<br />

im Arbeitskreis war es, solchen Diagnosen den<br />

Versuch an die Seite zu stellen, sich nicht mit den<br />

Alternativen der Konfrontation oder der Koexistenz<br />

von Religion und Naturwissenschaft zu begnügen<br />

oder gar e<strong>in</strong>e fundamentalistische Regression für<br />

denkbar oder geboten zu halten, sondern nach der<br />

Möglichkeit <strong>des</strong> Brückenschlags, e<strong>in</strong>er Synthese<br />

zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnisweise<br />

und christlicher <strong>Glaubens</strong>erkenntnis zu fragen. Wir<br />

stellen ke<strong>in</strong>e neuen „Kernsätze <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ auf,<br />

sondern wir fragen nach neuen Möglichkeiten zu<br />

glauben, und tun dies gerne mite<strong>in</strong>ander und auch<br />

zusammen mit anderen Interessierten.<br />

Wir haben uns der Frage gestellt, ob unser Glaube<br />

an Gott und unsere „Gottesbilder“ es überhaupt<br />

zulassen, <strong>in</strong> negativer Theologie zu enden, oder<br />

dies sogar von uns fordern.<br />

Beharren wir darauf,<br />

Gott habe als Schöpfer <strong>in</strong> ganz e<strong>in</strong>deutiger<br />

Weise mit der Konstitution se<strong>in</strong>er Welt zu tun,<br />

5


sei <strong>in</strong> ganz bestimmter Weise <strong>in</strong> ihr anwesend<br />

und unterhalte sogar – und nach biblischer<br />

Lesart ganz bestimmt – e<strong>in</strong>e aktive Beziehung<br />

zu ihr,<br />

nicht nur als der beständig Anwesende von<br />

Ewigkeit zu Ewigkeit,<br />

sondern <strong>in</strong> sorgender Liebe, mit e<strong>in</strong>em auf<br />

Vollendung gerichteten Heilsplan,<br />

so wie es dem christlichen <strong>Glaubens</strong>bekenntnis<br />

entspricht,<br />

kommen wir zu e<strong>in</strong>em anderen Schluss. Wir müssen<br />

unseren Gottesbildern e<strong>in</strong>e Bedeutung geben,<br />

die mit dem korrespondiert, was wir über die Welt<br />

wissen können. Die Physik als herausragende Vertreter<strong>in</strong><br />

der Naturwissenschaften, stellt uns seit<br />

dem Beg<strong>in</strong>n <strong>des</strong> 20.Jahrhunderts <strong>in</strong> ihren Großtheorien<br />

e<strong>in</strong> tief problematisches Bild der Welt vor<br />

Augen.<br />

Folgen wir se<strong>in</strong>er Entwicklung bis heute, so lässt es<br />

unser Wissen von der Welt als e<strong>in</strong> ebenso großes<br />

Geheimnis ersche<strong>in</strong>en wie unser Bild von Gott.<br />

Mehr dazu <strong>in</strong> dem Beitrag „Religion und Naturwissenschaft<br />

im Licht der modernen Physik“.<br />

2. Was ist Glaube?<br />

Vom Verständnis <strong>des</strong>sen, was mit „Glaube“ geme<strong>in</strong>t<br />

ist, hängt auch se<strong>in</strong> Inhalt ab: Ist es e<strong>in</strong>e besondere<br />

Erkenntnisform, die weiter reicht als Gefühl<br />

und Verstand? Oder e<strong>in</strong>e Grundhaltung, die<br />

das Handeln bestimmt? Wor<strong>in</strong> liegt der Unterschied<br />

von Glauben und Wissen, von Religion und Naturwissenschaft?<br />

Wie kommen Menschen zum Glauben<br />

und welche Veränderungen s<strong>in</strong>d festzustellen,<br />

zu wünschen? Auch bei erheblichen Unterschieden ist<br />

die Anerkennung <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> anderer nach neuem<br />

<strong>Glaubens</strong>verständnis möglich. (So das „Jahr der Toleranz<br />

2013“ vor dem Reformationsjubiläum der <strong>Evangelische</strong>n<br />

Kirche <strong>in</strong> Deutschland).<br />

Glaube ist Offenheit für MEHR : Hilfe, Helfen, Kraft,<br />

Verstehen. Gott.<br />

Glaube ist Offenheit für MEHR: Für die größere<br />

Wirklichkeit, für die Existenz Gottes. Von daher<br />

kommen Gaben und Aufgaben: Mit dem Verstand<br />

erkennen wir, durch Arbeit schaffen wir, mit Gefühl<br />

empf<strong>in</strong>den wir: Schönes und Bedrohliches. Mehr<br />

oder weniger. Auf- oder abgeblendet. E<strong>in</strong> Glaube<br />

an die größere Wirklichkeit verhilft zu e<strong>in</strong>em Leben<br />

<strong>in</strong> größerem Zusammenhang: Mehr als <strong>in</strong> dem<br />

Namen Gott enthalten ist. Es darf ruhig noch<br />

MEHR als das se<strong>in</strong>. War im „Wort zum Sonntag“<br />

am 21.1.12 zu hören.<br />

Nach religiösem Verständnis bedeutet das Tätigkeitswort<br />

„glauben“ vertrauen auf ..., sich verlassen<br />

auf, ..Rückb<strong>in</strong>dung an e<strong>in</strong>e höhere Wirklichkeit.......<br />

Sich-richten-nach, Offense<strong>in</strong> für: ... Offenbarung,<br />

Übernatürliches, Transzendentes.<br />

Als Substantiv (Glauben) bezeichnet das Wort<br />

meist bestimmte (Lehr-)Inhalte e<strong>in</strong>er Religion, also<br />

z.B. e<strong>in</strong> Verständnis von Gott, Jesus oder der Kirche.<br />

In e<strong>in</strong>em <strong>Glaubens</strong>bekenntnis s<strong>in</strong>d solche<br />

wesentlichen Inhalte zusammengefasst, zur eigenen<br />

Vergewisserung, aber auch gegenüber „Andersgläubigen“:<br />

„Ich glaube an Gott, den Vater, den<br />

Allmächtigen, den Schöpfer <strong>des</strong> Himmels und der<br />

Erde.“<br />

In Theologie und <strong>Glaubens</strong>praxis äußern sich Unterschiede<br />

bei <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halten e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> der<br />

Hervorhebung von besonderen Inhalten (z.B. Monotheismus,<br />

den Glauben an nur e<strong>in</strong>en Gott, <strong>in</strong> den<br />

„Buchreligionen“ Judentum, Christentum und Islam).<br />

Andererseits wird der eigene Glaube oft mit Hilfe<br />

von Negationen erklärt, also durch Abgrenzungen<br />

gegenüber anderen Auffassungen (oder von Teilen<br />

derselben). Dann glaubt jemand sozusagen etwas<br />

anderes (oder anders) als andere Gläubige. Die<br />

unzureichende Sprache <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> wird durch<br />

Deutungen, wie „im übertragenen S<strong>in</strong>ne, nicht wörtlich<br />

zu verstehen“, Chiffren und Bilder ergänzt.<br />

E<strong>in</strong>en grundlegenden Lebenss<strong>in</strong>n hat wohl jeder<br />

Mensch. Auch wenn dieser sich nicht <strong>in</strong> Worten<br />

ausdrücken kann, zeigt er sich doch im Verhalten.<br />

„Woran de<strong>in</strong> Herz hängt, das ist de<strong>in</strong> Gott“ schreibt<br />

Luther. Der Glaubende f<strong>in</strong>det se<strong>in</strong>en Lebenss<strong>in</strong>n im<br />

Kontakt mit der größeren Wirklichkeit, mit Gott.<br />

Dadurch öffnet er sich auch anderen Menschen, für<br />

die er <strong>in</strong> liebender Zuwendung Verantwortung<br />

übernimmt: “Liebe De<strong>in</strong>en Nächsten wie Dich<br />

selbst“. Das Leben <strong>des</strong> e<strong>in</strong>zelnen, aber auch der<br />

Geme<strong>in</strong>schaft, bekommt e<strong>in</strong>e neue Qualität.<br />

Inhalte und Formen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> .<br />

Die heutigen Inhalte und die Formen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />

an Gott haben sich geschichtlich entwickelt. Sie<br />

beruhen auf E<strong>in</strong>sichten aus religiösen Erfahrungen,<br />

die Menschen gemacht und beschrieben haben.<br />

Persönlich s<strong>in</strong>d sie von sozialisationsbed<strong>in</strong>gtem<br />

Erleben und <strong>des</strong>sen deutender Verarbeitung <strong>in</strong> der<br />

jeweiligen Zeit geprägt.<br />

Neben dem Glauben existieren die im Laufe der<br />

Geschichte angesammelten religiösen Traditionen.<br />

Im christlichen Glauben gab es bei den Vorstellungen<br />

von Gott <strong>in</strong> den 2000 Jahren seit Jesus kaum<br />

Veränderungen. Die Entwicklung <strong>des</strong> zunehmend<br />

naturwissenschaftlich bestimmten Weltbilds beg<strong>in</strong>nt<br />

sich nur zögernd auf den Glauben auszuwir-<br />

6


ken. In letzter Zeit wird mit positiver Bewertung von<br />

e<strong>in</strong>er Evolution auch <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> gesprochen.<br />

Dazu schreibt G. Theißen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en „<strong>Glaubens</strong>sätzen“:<br />

Schon das Urchristentum kannte verschiedene<br />

Reflexionsstufen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>.<br />

Alle s<strong>in</strong>d gültig, ke<strong>in</strong>e ist endgültig.<br />

Alle nähern sich unvollkommen dem, was letztgültig<br />

ist.<br />

Wenn andere e<strong>in</strong>en anderen Glauben haben<br />

So gibt es <strong>in</strong> derselben (evangelischen oder katholischen)<br />

Kirche sehr verschiedene Arten <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>.<br />

In dem Buch „Der Junge, der aus dem Himmel<br />

zurückkehrte“ („E<strong>in</strong>e wahre Geschichte“ von<br />

Kev<strong>in</strong> und Alex Malarkey) wird die Wunderheilung<br />

e<strong>in</strong>es 10-jährien Knaben geschildert, der nach eigener<br />

detaillierter Aussage und Darstellung se<strong>in</strong>es<br />

Vaters nach e<strong>in</strong>em Autounfall während e<strong>in</strong>es<br />

zweimonatigen Komas und danach im Himmel war.<br />

Dort begegnete er Gott, Jesus und vielen Engeln<br />

und sprach mit ihnen (was sich auch <strong>in</strong> der Rekonvaleszenz<br />

fortsetzte). Die Heilung der Trennung<br />

<strong>des</strong> Kopfes von der Wirbelsäule wurde als übernatürliches<br />

Wunder der Kraft vieler Gebete zugeschrieben,<br />

so wie auch erstaunliche Hilfen, die die<br />

Familie von anderen Menschen empf<strong>in</strong>g. Bibelstellen<br />

– wie etwa die Aussage Jesu: „bei Gott s<strong>in</strong>d alle<br />

D<strong>in</strong>ge möglich“ (Mit 19,26) – werden wörtlich verstanden<br />

und als Erklärung für viele unwahrsche<strong>in</strong>liche<br />

Ereignisse herangezogen. Auch <strong>in</strong> den Gebeten<br />

f<strong>in</strong>det der Glaube an die Allmacht und Güte <strong>des</strong><br />

persönlich erfahrenen Gottes se<strong>in</strong>en Ausdruck.<br />

Diese <strong>Glaubens</strong>form f<strong>in</strong>det auch bei vielen jungen<br />

Menschen volle Zustimmung.<br />

Andere Gläubige verstehen viele Bibelworte und<br />

Berichte über das direkte E<strong>in</strong>greifen Gottes oder<br />

von Jesus Christus <strong>in</strong> den Geschehensablauf<br />

mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em übertragenen S<strong>in</strong>n. Wenn es sich<br />

um Beschreibungen von Ereignissen handelt, die<br />

im Widerspruch zu gesicherten naturwissenschaftlichen<br />

Erkenntnissen stehen (oder diese, weil<br />

transrational wie z,B. „Himmel“, transzendieren),<br />

fragen sie nach der Absicht und nach dem S<strong>in</strong>n,<br />

dem Wesentlichen solcher Erzählungen (der sich<br />

meistens auch f<strong>in</strong>den lässt).<br />

Nicht wenige Kirchenmitglieder, darunter auch<br />

Theologen, halten die bis heute tradierten und im<br />

Kirchenvolk verankerten Gottesbilder, also die vorwiegend<br />

anthropomorphen Vorstellungen von Gott,<br />

mit unserem heutigen Weltbild nicht mehr vere<strong>in</strong>bar,<br />

so auch der Theologe und Physiker H.R. Stadelmann:<br />

Er fragt, „ob e<strong>in</strong>ige der traditionellen<br />

christlichen Begriffe und <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halte (Tr<strong>in</strong>ität,<br />

Heiliger Geist, Reich Gottes, Ewiges Leben usw.),<br />

allenfalls neu <strong>in</strong>terpretiert, beibehalten werden können<br />

oder ob sie als heute nicht mehr verständlich<br />

und im Widerspruch zu unserem Weltbild stehend<br />

fallen zu lassen s<strong>in</strong>d.<br />

Die E<strong>in</strong>stellungen zu den jeweils anderen <strong>Glaubens</strong>weisen<br />

s<strong>in</strong>d meist mehr oder weniger kritisch<br />

oder abwertend. Die Erfahrung von Hilfe von Gott,<br />

Jesus oder – für Katholiken – auch von Maria wird<br />

von Kritikern als altertümlich, E<strong>in</strong>bildung oder sogar<br />

als Aberglauben abgelehnt. Wundergläubige mit<br />

direkter, persönlicher Gotteserfahrung dagegen<br />

sehen Wesentliches <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> aufgegeben,<br />

wenn Aussagen der Bibel nicht mit allen E<strong>in</strong>zelheiten<br />

wörtlich verstanden werden – was den Ausschluss<br />

vom ewigen Heil zur Folge haben kann.<br />

Erfreulicherweise nimmt aber die Bereitschaft zu,<br />

anderen Menschen ihre eigenen <strong>Glaubens</strong>formen<br />

zuzugestehen und sich trotzdem mit ihnen im Glauben<br />

verbunden zu fühlen. Die Frage nach der<br />

Wahrheit e<strong>in</strong>es <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halts führt bei ihnen<br />

nicht zur Aufgabe oder zum Ausschluss von Geme<strong>in</strong>schaft,<br />

sondern zu gegenseitigem Respekt<br />

und Interesse. Wenn Glaube als Geschenk (Gottes)<br />

verstanden wird, kann auch bei großen Unterschieden<br />

das Wesentliche z.B. <strong>des</strong> christlichen<br />

<strong>Glaubens</strong> bei anderen als vorhanden und wirksam<br />

vorausgesetzt und gesehen werden. Dabei ist auch<br />

daran zu er<strong>in</strong>nern, dass <strong>in</strong> vielen Religionen und<br />

auch im christlichen Glauben nicht die Wahrheitsbehauptung<br />

für e<strong>in</strong>e Lehre das Wichtigste ist, sondern<br />

die Liebe (nach Paulus), die im Vergleich zu<br />

Glaube und Hoffnung die größte ist!<br />

Wenn das beachtet wird, können sowohl die Rechtgläubigen<br />

wie auch die Offenen für neue <strong>Glaubens</strong>formen<br />

ihre eigenen Auffassungen nicht nur<br />

selbstbewusst praktizieren und vertreten, sondern<br />

dürfen diese durchaus auch Anhängern anderer<br />

<strong>Glaubens</strong>formen zeigen und erklären – ohne<br />

allerd<strong>in</strong>gs deren Überzeugungen herabzusetzen.<br />

Das zu vermeiden br<strong>in</strong>gt auch für die eigene <strong>Glaubens</strong>form<br />

Fortschritte. (Ausprobieren lohnt sich!)<br />

Das Entstehen von Glauben wird als Geschenk<br />

erfahren<br />

Glaube ist e<strong>in</strong>e menschliche Fähigkeit, transzendente<br />

Wirklichkeiten zu erahnen, zu erkennen und<br />

danach zu handeln. („Religiöse Erfahrung ist ‚Gedeutete<br />

Wahrnehmung’ “):<br />

Das Wort „Glaube“ wird <strong>in</strong> den meisten Aussagen<br />

und Texten unseres Kulturkreises ganz selbstverständlich<br />

verstanden als Glaube an den christlichen<br />

Gott, als se<strong>in</strong> Geschenk. Es gibt Berichte und Erklärungen<br />

von eigener Entscheidung zum Glauben:<br />

Bei e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> der Bibel berichteten Dämonenaustreibung<br />

kommt der Vater <strong>des</strong> kranken Jungen nach<br />

7


der an Jesus gerichteten Bitte „.... hilf me<strong>in</strong>em Unglauben!“<br />

zum heilenden Glauben. Und der Ausruf<br />

Jesu „Ihr ungläubiges Geschlecht, wie lange soll<br />

ich bei euch se<strong>in</strong>, wie lange soll ich euch ertragen?“<br />

kl<strong>in</strong>gt vorwurfsvoll. Dass e<strong>in</strong> Mensch zum<br />

Glauben kommt, ist also nicht selbstverständlich,<br />

sondern hängt von se<strong>in</strong>er Offenheit dafür ab.<br />

Aber nicht nur <strong>in</strong> der Geschichte von der Heilung<br />

e<strong>in</strong>es Kranken durch Jesus kommt der Glaube als<br />

Geschenk, auch <strong>in</strong> vielen anderen Bibelstellen und<br />

nicht zuletzt bei Mart<strong>in</strong> Luther ist das so: „Ich glaube,<br />

dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft<br />

an Jesus Christus, me<strong>in</strong>en Herrn, glauben oder zu<br />

ihm kommen kann .......“<br />

Gott hat per def<strong>in</strong>itionem vor menschlichen Möglichkeiten<br />

zu glauben existiert. Demgemäß verdanken<br />

die meisten „Gläubigen“ ihren Glauben nicht<br />

der eigenen Anstrengung, Begabung oder F<strong>in</strong>digkeit,<br />

sondern er ist ihnen zugekommen. Dar<strong>in</strong> wird<br />

persönliche und <strong>in</strong>dividuelle Zuwendung und Fürsorge<br />

Gottes erfahren. Diese kann unter anderem<br />

<strong>in</strong> der Erziehung, der Begegnung mit dem Nächsten,<br />

auch <strong>in</strong> besonderen Erlebnissen gesehen<br />

werden. Zunehmend wird aber heute die Entscheidung<br />

für oder gegen die Annahme bzw. Beibehaltung<br />

e<strong>in</strong>es religiösen <strong>Glaubens</strong> vom e<strong>in</strong>zelnen<br />

Menschen selbst getroffen.<br />

Der eigene Glaube unterscheidet sich wie das Gesicht<br />

e<strong>in</strong>es Menschen von allen anderen. Ist es<br />

nicht so, dass das Neugeborene durch die Eltern<br />

Vertrauen lernt - das von glaubender E<strong>in</strong>stellung<br />

geprägt se<strong>in</strong> kann? Auf diesem Fundament begegnet<br />

es der Umwelt und f<strong>in</strong>det se<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der<br />

Welt: behütet oder verloren „je nach se<strong>in</strong>em Glauben“<br />

im selbstzentrierten Denken oder im0 Erkennen<br />

<strong>des</strong> Anderen, Nächsten. Aber viele gehen<br />

schon früh eigene Wege und werden anders, mehr<br />

oder weniger gläubig als ihre Eltern.<br />

Wenn es Veränderungen beim Glauben gibt,<br />

kommt das auch von weiter her, im positiven Fall<br />

aus der größeren Wirklichkeit Gottes. Also nicht nur<br />

von <strong>in</strong>nen, vom Ich. Von vielen Seiten, <strong>in</strong> vielen<br />

Formen, <strong>in</strong> vielen Zumutungen. Gott eröffnet neue<br />

Möglichkeiten <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>, <strong>in</strong>dem er sich selbst<br />

verändert und damit uns, nicht erst mit dem Auftreten<br />

Jesu, nicht nur <strong>in</strong> der Vergangenheit, sondern<br />

bis heute. Gott ist jener Vertrauensraum, <strong>in</strong> dem<br />

Menschen wachsen und gedeihen können, weil sie<br />

sich von der Macht <strong>des</strong> Lebens selbst getragen,<br />

gehalten und bejaht fühlen.<br />

3. Glaube und Wissen<br />

In welchem Verhältnis stehen Glaube und Wissen?<br />

Nicht erst seit der Aufklärung wird Wissenschaft<br />

und Wissen als die überlegene Erkenntnisform<br />

gegenüber dem Glauben angesehen. Wissenschaft<br />

und <strong>in</strong>sbesondere Naturwissenschaft wird für den<br />

besten Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit gehalten,<br />

auch weil er zur Verbesserung der menschlichen<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen beiträgt. Wird der<br />

Glaube demgegenüber zu ger<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>geschätzt?<br />

Woher lassen sich heute und <strong>in</strong> Zukunft Lebenss<strong>in</strong>n<br />

und Wertbewusstse<strong>in</strong> empfangen? Es ist<br />

notwendig, Glaube und Wissen zutreffend zu unterscheiden<br />

und e<strong>in</strong>e Vermischung zu vermeiden.<br />

Denkverb<strong>in</strong>dungen s<strong>in</strong>d oft aufschlussreich.<br />

In der Umgangssprache wird „glauben“ meistens<br />

im S<strong>in</strong>ne von vermuten, erwarten, me<strong>in</strong>en, für wahr<br />

halten gebraucht. Kritiker setzen das Wort gerne<br />

gleich mit „Nicht-Wissen“.<br />

Nach religiösem Verständnis bedeutet glauben (als<br />

Verb) vertrauen auf ..., sich verlassen auf, ... Sichrichten-nach,<br />

Offense<strong>in</strong> für ... Offenbarung, Übernatürliches,<br />

Transzendentes ....<br />

Als Substantiv (Glauben) bezeichnet das Wort<br />

meist bestimmte (Lehr-)Inhalte e<strong>in</strong>er Religion, also<br />

z.B. e<strong>in</strong> Verständnis von Gott, Jesus oder der Kirche.<br />

In e<strong>in</strong>em <strong>Glaubens</strong>bekenntnis s<strong>in</strong>d solche<br />

wesentlichen Inhalte zusammengefasst, zur eigenen<br />

Vergewisserung, aber auch gegenüber „Andersgläubigen“:<br />

„Ich glaube an Gott, den Vater, den<br />

Allmächtigen, den Schöpfer <strong>des</strong> Himmels und der<br />

Erde.“<br />

Wissen ist das Bewusstse<strong>in</strong> (die Kenntnis, die Berücksichtigung)<br />

von Fakten, Theorien und Regeln<br />

und wird auch als Substantiv für deren Dokumentation<br />

verwendet. Qualifiziertes Wissen wird als<br />

nachweisbar wahre und gerechtfertigte Me<strong>in</strong>ung<br />

def<strong>in</strong>iert und unterscheidet sich von Begriffen wie<br />

Überzeugung und Glauben.<br />

Der Inhalt von Wissen kann wahr oder falsch se<strong>in</strong>.<br />

Dabei gründet e<strong>in</strong>e wissenschaftlich „wahre“ Erkenntnis<br />

auf den def<strong>in</strong>ierten Axiomen, der <strong>in</strong>ternen<br />

Widerspruchsfreiheit, der Wiederholbarkeit im Experiment<br />

und der Überprüfbarkeit (verifizierbar oder<br />

falsifizierbar).<br />

Vieles im menschlichen Leben ist entsprechend<br />

se<strong>in</strong>er Eigenart nicht (oder jedenfalls nicht ganz)<br />

als Wissen zu erfassen, so z.B. der S<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Lebens,<br />

Krankheit und Schmerzen, Geburt und Tod,<br />

das Gefühl, Gott und das Jenseits.<br />

Glauben und Wissen s<strong>in</strong>d vone<strong>in</strong>ander zu unterscheiden,<br />

was bei Aussagen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> und<br />

<strong>des</strong> Wissens schwierig, aber notwendig ist, um ihre<br />

Vermischung zu vermeiden.<br />

Wissenschaft strebt durch e<strong>in</strong>e hochentwickelte<br />

Theoriebildung und Methodik den größtmöglichen<br />

Grad von objektiver Wahrheit <strong>in</strong> ihren Aussagen<br />

und Untersuchungsergebnisse frei von Widersprüchen<br />

an. Das gilt für alle Wissenschaftszweige,<br />

8


also für Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften<br />

und Sozialwissenschaften. Auch die Theologie<br />

arbeitet mit wissenschaftlichen Methoden und hat<br />

ihre eigenen Vorgaben. Notwendig (wenn auch<br />

nicht immer leicht) ist die Unterscheidung zwischen<br />

den verschiedenen Wissenschaftsgebieten.<br />

Wissen hat auch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Dimension. Nach<br />

gedanklicher Beschäftigung mit wichtigen Fragen<br />

glaubt man meistens, für sich e<strong>in</strong> Verständnis und<br />

Konzepte erarbeitet zu haben, die nicht objektivierbar<br />

zu se<strong>in</strong> brauchen, aber für e<strong>in</strong>en selber verb<strong>in</strong>dlich<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Glauben steht auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dynamischen Beziehung<br />

zum Unterbewusstse<strong>in</strong>, <strong>in</strong> dem Gefühle,<br />

Wünsche, Vorstellungen, Ideen verarbeitet und<br />

dann <strong>in</strong> unser Bewusstse<strong>in</strong> gehoben werden.<br />

Das Verhältnis von Glauben und Wissen, aber<br />

auch von Wissen und Glauben verändert sich dauernd<br />

sowohl <strong>in</strong>dividuell als auch generell. Dabei<br />

kann es abwechselnd und mehr oder weniger stark<br />

von Widersprüchen, Gegensätzen, Ergänzung oder<br />

analoger Übere<strong>in</strong>stimmung bestimmt se<strong>in</strong>.<br />

Ken Wilders unterscheidet zwischen prärationalen<br />

und transrationalen religiösen Erfahrungen (zitiert<br />

<strong>in</strong> Küstenmacher u.a. „Gott 9.0“). Beide s<strong>in</strong>d nichtrational,<br />

entsprechen also nicht dem Bewusstse<strong>in</strong><br />

aufgeklärter Vernunft. Im Bereich prärationaler Erfahrung<br />

kann es sich um Mythen, Animismus, Magie,<br />

Aberglauben oder auch um den e<strong>in</strong>fachen<br />

„K<strong>in</strong>derglauben“ handeln, die nicht <strong>in</strong> rationales<br />

Verstehen <strong>in</strong>tegriert oder damit verbunden s<strong>in</strong>d,<br />

(aber ke<strong>in</strong>eswegs durch die kritische Vernunft wertlos<br />

oder s<strong>in</strong>nlos gemacht werden, wie z.B. der Religionskritiker<br />

Feuerbach me<strong>in</strong>te). Transrational<br />

s<strong>in</strong>d dagegen Erfahrungen, die über die Grenzen<br />

rationaler Erkenntnis h<strong>in</strong>ausreichen. Sie werden<br />

auch von Christen <strong>in</strong> kontemplativer Spiritualität,<br />

Mystik und Offenheit für Transzendenz erlebt.<br />

4. Naturwissenschaft und Glauben<br />

Gibt es e<strong>in</strong>e Konkurrenz zwischen Naturwissenschaft<br />

und Glauben? Haben manche naturwissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der<br />

Physik, Vorstellungen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> verdrängt –<br />

wie z.B. beim Verständnis der Entstehung der Welt<br />

und <strong>des</strong> Lebens? S<strong>in</strong>d naturwissenschaftliche Erkenntnisse<br />

mit e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>greifen Gottes <strong>in</strong> den Geschehensablauf<br />

zu vere<strong>in</strong>baren? Oder ist vielmehr<br />

das Verhältnis der beiden Erkenntnisformen neu zu<br />

bestimmen? Können sie sich gegenseitig ergänzen<br />

und fördern? Unterschiede sollen nicht verwischt<br />

werden. Aber es gibt Berührungspunkte zwischen<br />

Naturwissenschaft und Glauben, die bis zur gegenseitigen<br />

Ergänzung führen können. Die Begrenztheit<br />

beider Erkenntniswelten ist offenkundig. Ke<strong>in</strong>e<br />

kann e<strong>in</strong>en berechtigten Anspruch auf die Erfassung<br />

der Gesamtwirklichkeit erheben.<br />

Von großer Bedeutung für den Glauben ist heute<br />

se<strong>in</strong> Verhältnis zu den Naturwissenschaften. Ist es<br />

das e<strong>in</strong>er Konkurrenz oder ergänzen sich beide<br />

gegenseitig?<br />

Die Natur ist der Gegenstand der Erforschung<br />

durch die Naturwissenschaften. Unter Natur versteht<br />

man alles, was mit den Mitteln und den<br />

Messgeräten der Naturwissenschaften beobachtet,<br />

gemessen und beschrieben werden kann. Beobachtungen,<br />

die beliebig oft und von jedermann <strong>in</strong><br />

gleicher Weise reproduziert werden können, werden<br />

mit Hilfe der Mathematik <strong>in</strong> Form von Gesetzen<br />

beschrieben. So wurde, ausgehend von der Beobachtung<br />

e<strong>in</strong>es fallenden Apfels und der Bewegungsbahnen<br />

der Gestirne, mit Hilfe von Messungen<br />

fallender Gegenstände das Gravitationsgesetz<br />

abgeleitet.<br />

Alle e<strong>in</strong>maligen (historischen) Prozesse können<br />

nicht reproduziert werden und entziehen sich somit<br />

e<strong>in</strong>er physikalischen Untersuchung. Die Entstehung<br />

<strong>des</strong> Kosmos und se<strong>in</strong>e Entwicklung s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong><br />

Beispiel hierfür. Modellvorstellungen über die Entstehung<br />

<strong>des</strong> Kosmos werden aber die Gültigkeit<br />

der Naturgesetze berücksichtigen, um nicht von<br />

vornhere<strong>in</strong> unglaubwürdig zu se<strong>in</strong>.<br />

Mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Gesetze s<strong>in</strong>d<br />

Vorhersagen von Ereignissen <strong>in</strong> der Zukunft und<br />

rückblickende Beschreibungen von Ereignissen <strong>in</strong><br />

der Vergangenheit möglich.<br />

Gegenstand der Naturwissenschaften ist die Beschreibung<br />

der Gegenstände und Ereignisse und<br />

von Beziehungen wie Ursache und Wirkung, nicht<br />

der Versuch e<strong>in</strong>er S<strong>in</strong>nf<strong>in</strong>dung oder S<strong>in</strong>ngebung.<br />

Wenn logisch aus der Erkenntnis, dass alles „zeitlich“<br />

geschieht, folgt, es gäbe generell nur „historische“<br />

Feststellungen, werden auch alle mit streng<br />

naturwissenschaftlichen Methoden gewonnenen<br />

Ergebnisse relativiert. Mit der antiken Welt<strong>in</strong>terpretation<br />

(nach Heraklit und Platon): „Man kann nicht<br />

zweimal <strong>in</strong> denselben Fluss steigen“ ist auch die<br />

Grenze jedweder „Wissenschaft“ markiert. Alles<br />

Se<strong>in</strong> ist demnach nicht statisch, sondern im dtetigen<br />

Wandel als dynamisch zu denken.<br />

Theologie ist (nach überwiegendem Selbstverständnis)<br />

die durch göttliche Offenbarung begründete<br />

Lehre von Gott. Sie befasst sich mit der wissenschaftlichen<br />

Analyse der Inhalte von <strong>Glaubens</strong>dokumenten<br />

und der praktischen Ausübung e<strong>in</strong>er<br />

Religion und ihrer Unterschiede zu anderen <strong>Glaubens</strong>richtungen.<br />

9


Theologie kann dem Ganzen der Evolution e<strong>in</strong>en<br />

S<strong>in</strong>n zuschreiben. Sie kann die Evolution als<br />

Schöpfung <strong>in</strong>terpretieren.<br />

Jeder Mensch kann aufgrund von religiösen Erfahrungen<br />

und mithilfe verschiedener Wissenschaften<br />

se<strong>in</strong>en Glauben entwickeln. E<strong>in</strong>e evolutionäre Veränderung<br />

<strong>in</strong>dividuellen und geme<strong>in</strong>samen <strong>Glaubens</strong><br />

vollzieht sich aber auch ohne erkennbare<br />

eigene Aktivität.<br />

Widersprüche zwischen Naturwissenschaft und<br />

Glauben?<br />

.<br />

Die Naturwissenschaften s<strong>in</strong>d heute frei von Theologie.<br />

Sie machen ke<strong>in</strong>e Aussagen über Gott. Und<br />

die Theologie formuliert ke<strong>in</strong>e Naturgesetze und<br />

steht <strong>in</strong> ihren Aussagen <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Widerspruch zu<br />

den plausiblen und reproduzierbaren Aussagen der<br />

Naturwissenschaften. Es handelt sich um verschiedene<br />

Erkenntniswege, die von uns je e<strong>in</strong>zeln wahrgenommen<br />

und nicht nur akzeptiert, sondern<br />

fruchtbar für unser Leben <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht<br />

werden sollten.<br />

„Dass es zwischen Naturwissenschaft und Glauben<br />

ke<strong>in</strong>en Widerspruch gibt, ist die wichtigste Aussage<br />

<strong>in</strong> unserer Diskussion: Die naturwissenschaftliche<br />

Welt <strong>des</strong> experimentellen Wissens und die religiöse<br />

Welt <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> können sich per def<strong>in</strong>itionem<br />

nicht widersprechen, weil sie es mit zwei verschiedenen<br />

Bereichen und unterschiedliche Erkenntnismethoden<br />

zu tun haben.“<br />

Mit ke<strong>in</strong>er der beiden Erkenntniswelten alle<strong>in</strong>, mit<br />

ke<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zelnen Wissenschaft alle<strong>in</strong> kann die<br />

existierende Wirklichkeit h<strong>in</strong>reichend erklärt<br />

werden. Ihre jeweiligen Beschränktheiten s<strong>in</strong>d<br />

offenkundig. Zum Beispiel beim Hören von Musik<br />

von Bach, der auch der fünfte Evangelist genannt<br />

wird, obliegt der Physik und Technik die<br />

Konstruktion der Instrumente, die Steuerung der<br />

Erzeugung und die Weiterleitung der Schallwellen,<br />

die Erzeugung der Schw<strong>in</strong>gungen im Trommelfell<br />

und Signalübertragung <strong>in</strong> das Gehirn. Das<br />

eigentliche Hören der Musik und die damit<br />

verbundenen Empf<strong>in</strong>dungen werden auf diese<br />

Weise aber nicht erfasst. Hier werden<br />

Wahrnehmungen angestoßen, die über die<br />

materiellen Abläufe h<strong>in</strong>aus gehen. Das wahrnehmende<br />

Hören mit se<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>nesassoziationen ist<br />

ebenso Teil der Wirklichkeit, wie auch die den Ton<br />

abstrahlende schw<strong>in</strong>gende Saite oder e<strong>in</strong>e Orgelpfeife.<br />

Erst die messbaren Abläufe und die emotionalen<br />

Empf<strong>in</strong>dungen zusammen ergeben die Realität<br />

der Musik.<br />

Texte <strong>in</strong> der Bibel, die sche<strong>in</strong>bar im Widerspruch zu<br />

unserer Naturerfahrung stehen, s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e historisch<br />

oder gar naturwissenschaftlich beschreibende<br />

Darstellungen, sondern re<strong>in</strong>e <strong>Glaubens</strong>bezeugungen<br />

<strong>in</strong> der Sprache der damaligen Zeit. Zum Bei-<br />

spiel heißt es <strong>in</strong> der Bibel bei Lukas <strong>in</strong> der Geburtsankündigung<br />

(Lk 1,35): „Der heilige Geist wird<br />

über dich kommen, und die Kraft <strong>des</strong> Höchsten<br />

wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige,<br />

das von dir geboren wird, Gottes Sohn genannt<br />

werden.“<br />

Nach antikem Glauben wurden Herakles und Alexander<br />

durch Zeus’ „göttlichen Geist“ gezeugt und<br />

somit zu Gottessöhnen. E<strong>in</strong>e Frau konnte durch<br />

„Besehen“ e<strong>in</strong>es Gottes schwanger werden. Die<br />

Mutter <strong>des</strong> vergöttlichten Kaisers Nero trug den<br />

Titel Gottesgebärer<strong>in</strong>.<br />

Wie damals <strong>in</strong> der griechisch-mythologische Sprache,<br />

<strong>in</strong> der zur Zeit der Entstehung <strong>des</strong> Neuen Testaments<br />

über Gottessöhne und deren Mütter würdigend<br />

und anbetend gesprochen wurde, bee<strong>in</strong>flusst<br />

auch modernes Denken heutige unterschiedliche<br />

Gottesvorstellungen.<br />

Dementsprechend wird die Besonderheit Jesu nicht<br />

(mehr wie früher weith<strong>in</strong> verbreitet) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Schwangerschaft ohne männlichen Zeugungsakt<br />

gesehen, sondern <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em unvergleichlichen engen<br />

Verhältnis zu Gott, von dem er mehr und anders<br />

erfüllt und bestimmt geglaubt wurde als andere<br />

Menschen; weshalb er auch mit e<strong>in</strong>em schon<br />

damals gebräuchlichen Ausdruck „Gottes Sohn“<br />

genannt und als solcher verehrt wurde.<br />

Es gibt ke<strong>in</strong>en Widerspruch zwischen Naturwissenschaften<br />

und Glauben, auch wenn sie sich der gleichen<br />

Sprache bedienen, die im Spiegel der jeweiligen<br />

Zeit verstanden werden muss. Naturwissenschaften<br />

und Theologie befassen sich mit unterschiedlichen<br />

Aspekten der Wirklichkeit, die für sich<br />

genommen ke<strong>in</strong>en berechtigten Anspruch auf die<br />

Erfassung der Gesamtwirklichkeit dieser Welt erheben<br />

können. Erst das Zusammenwirken beider<br />

Bereiche <strong>in</strong> Kenntnis ihrer jeweiligen Begrenztheit<br />

br<strong>in</strong>gt uns weiter im Verstehen und Gestalten unserer<br />

Lebenswirklichkeit.<br />

Diese Unterscheidung von Naturwissenschaft und<br />

Glaube ermöglicht es (und fordert!), Aussagen wie<br />

die über Weltentstehung und Schöpfung sowie von<br />

Evolution und Leben als Gabe Gottes, eigenständig<br />

mit den jeweils anerkannten Methoden zu erfassen<br />

und nach den Grundpr<strong>in</strong>zipien der eigenen<br />

Betrachtungsweise zu <strong>in</strong>terpretieren. Wer sich für<br />

den Glauben an Gott entscheidet, gew<strong>in</strong>nt nach<br />

Hans Küng e<strong>in</strong>e Art archimedischen Punkt, von<br />

dem aus grundsätzliche Antworten auf die drei<br />

Fragen Kants gesucht werden können: Was können<br />

wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen<br />

wir hoffen?<br />

Die metaempirische, philosophisch-theologische<br />

Betrachtung ist gleichberechtigt mit der<br />

naturwissenschaftlichen. E<strong>in</strong>e Monopolisierung im<br />

S<strong>in</strong>ne der Erkenntnis auf Seiten der Naturwissenschaften<br />

oder der Religionen führt zur<br />

Verabsolutierung von Teilwahrheiten, zu Intoleranz<br />

10


Teilwahrheiten, zu Intoleranz und zur E<strong>in</strong>schränkung<br />

der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten.<br />

Zwischen Naturwissenschaft und Religion gibt es<br />

Berührungspunkte<br />

Kann die Frage nach dem E<strong>in</strong>wirken Gottes <strong>in</strong> die<br />

physikalisch-naturwissenschaftliche Weltvorstellung<br />

dadurch beantwortet werden, dass man <strong>in</strong> der<br />

Quantentheorie, Chaostheorie oder den Zufällen<br />

der Evolution nach „Fugen“ für Gottes E<strong>in</strong>griff<br />

sucht?<br />

Unzweifelhaft üben die heutigen Naturwissenschaften<br />

und die auf ihnen fußende Technik e<strong>in</strong>en dom<strong>in</strong>ierenden<br />

E<strong>in</strong>fluss auf unser Leben aus. Das darf<br />

aber nicht zu dem Trugschluss führen, dass wir mit<br />

dem naturwissenschaftlichen Weltbild die ganze<br />

Wirklichkeit oder die wichtigsten Teile davon erfasst<br />

hätten. Wir leben nicht nur <strong>in</strong> derjenigen Welt,<br />

die wir durch naturwissenschaftliche Methoden<br />

untersuchen und beschreiben. Da gibt es die erfahrbare<br />

Welt der Musik, der Poesie, der Schönheit,<br />

der Grausamkeit, usw., <strong>in</strong> der naturwissenschaftliche<br />

Untersuchungsmethoden versagen. Die<br />

eigentliche Frage ist: Welche Wirklichkeit haben wir<br />

bei der naturwissenschaftlichen Erforschung dieser<br />

Welt erfasst?<br />

E<strong>in</strong>e Antwort ist, dass e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nerhalb der methodischen<br />

Grenzen erworbene Welterkenntnis herauskommt,<br />

die vor allem für technische Verwertungszusammenhänge<br />

bedeutsam ist. Die Folgerung<br />

lautet, dass dieses Ergebnis nicht im Widerspruch<br />

zu e<strong>in</strong>em Schöpfer-Gott steht, denn die Erkenntnisse<br />

<strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> basieren zwar auf anderen,<br />

aber ebenso legitimierten S<strong>in</strong>nerfahrungen.<br />

Die Naturwissenschaften befassen sich per<br />

def<strong>in</strong>itionem nicht mit der Erforschung von Gott.<br />

Aber es gibt naturwissenschaftliche Inhalte, die aus<br />

nichtnaturwissenschaftlicher Sicht beschrieben und<br />

gedeutet wurden. Beim Erkenntnisfortschritt der<br />

Naturwissenschaften wurden hier Abgrenzungen<br />

und Klarstellungen von naturwissenschaftlicher und<br />

z.B. theologischer Aussage notwendig und vorgenommen.<br />

(Schöpfung, Erde im Zentrum <strong>des</strong> Kosmos,<br />

Körper/Seele)<br />

Es gibt Begriffe, die <strong>in</strong> den Naturwissenschaften<br />

und <strong>in</strong> der Theologie (und <strong>in</strong> anderen Geisteswissenschaften)<br />

benutzt werden, als ob ihre Bedeutungen<br />

identisch wären. Die Diskussion der Reichweite<br />

und Bedeutung der jeweiligen Begriffe <strong>in</strong> ihrem<br />

Bezugsrahmen dient der Klärung von Missverständnissen<br />

und der Schaffung von E<strong>in</strong>sichten.<br />

Dies ist das Feld <strong>des</strong> Dialoges zwischen der Theologie<br />

und den Naturwissenschaften (Begriffe wie:<br />

Zufall, Wirklichkeit, Zeit, Wahrheit, Kausalität, Gesetz,<br />

usw.)<br />

Neben der Welterfassung gibt es immer die Frage<br />

nach dem S<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Lebens <strong>in</strong> jedem Menschen,<br />

wenn man akzeptiert, dass es ke<strong>in</strong>en areligiösen<br />

Menschen gibt. Diese Trennl<strong>in</strong>ie zwischen Denken<br />

<strong>in</strong> dem wissenschaftlichen Bereich und dem emotionalen<br />

Wirklichkeitsverständnis tritt nicht immer<br />

klar zu Tage und existiert Seite an Seite.<br />

E<strong>in</strong>e Vermischung zwischen Naturwissenschaft<br />

und Glauben passiert zwar immer, denn selbstverständlich<br />

gleicht jeder Mensch, bewusst oder unbewusst,<br />

se<strong>in</strong> Welt- und se<strong>in</strong> Gottesbild, aufe<strong>in</strong>ander<br />

ab. So besteht nicht nur die Gefahr von Vermischung,<br />

ne<strong>in</strong>: e<strong>in</strong> bestimmter Grad von Vermischung<br />

ist gar nicht zu vermeiden.<br />

Denn der Biologe denkt wie andere Wissenschaftler<br />

selbstverständlich auch über se<strong>in</strong> Fachgebiet<br />

h<strong>in</strong>aus über die Voraussetzungen nach, die h<strong>in</strong>ter<br />

dem Wissen se<strong>in</strong>es Faches liegen.<br />

Jede Naturwissenschaft hat e<strong>in</strong>e Wertebasis, Werte<br />

also die für ihr Forschen maßgeblich s<strong>in</strong>d. Besonders<br />

deutlich wurde dies <strong>in</strong> der Atomphysik, als<br />

klar wurde, welche Folgen für die Menschheit daraus<br />

resultieren können (Atombombe, zerstörerische<br />

Radioaktivität, positiv Stromgew<strong>in</strong>nung). Hier<br />

ist die Verb<strong>in</strong>dung der Naturwissenschaft zur Theologie<br />

unbed<strong>in</strong>gt gegeben, weil, ob gewollt oder<br />

nicht, Verantwortung für sich und andere übernommen<br />

werden muss.<br />

Und der Theologe denkt selbstverständlich auch<br />

über se<strong>in</strong> Fachgebiet h<strong>in</strong>aus die D<strong>in</strong>ge mit, die h<strong>in</strong>ter<br />

den <strong>Glaubens</strong>-Inhalten se<strong>in</strong>es Faches liegen.<br />

Bei<strong>des</strong> muss erlaubt bleiben, ohne dass es als Legitimation<br />

für Spekulationen mit Gültigkeits- oder<br />

Wahrheitsanspruch dienen darf.<br />

Wenn Theologen jenseits ihres Fachgebiets <strong>in</strong> der<br />

Naturwissenschaft nach Beweisen für ihre<br />

Vorstellungen suchen und diese Beweise entweder<br />

über Analogien oder über hypothetische<br />

Behauptungen oder über bei<strong>des</strong> konstruieren, kann<br />

der Verdacht entstehen, dass sie dies tun, um ihre<br />

Nicht-Naturwissenschaft wissenschaftlich<br />

aussehen zu lassen.<br />

Gibt es e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wirken Gottes auf das Weltgeschehen?<br />

Die Physik denkt <strong>in</strong> nachweisbaren Ursachen und<br />

Wirkungen. Die Ursachen bewirken gemäß den<br />

Naturgesetzen die Wirkungen, und die Wirkungen<br />

lassen sich zurückführen auf Ursachen. Dass das<br />

immer so se<strong>in</strong> muss, kann nicht bewiesen werden,<br />

entspricht aber der Erfahrung und behält se<strong>in</strong>e Gültigkeit<br />

bis zum Auftreten e<strong>in</strong>er Wirkung ohne Ursache.<br />

Somit glauben die Physiker an dieses Wechselwirkungspr<strong>in</strong>zip.<br />

Auf Grund dieses „<strong>Glaubens</strong>“<br />

s<strong>in</strong>d sie nicht bereit, e<strong>in</strong>e Wirkung, deren Ursache<br />

sie nicht kennen, als Wirkung ohne Ursache anzuerkennen<br />

oder e<strong>in</strong>en nicht physikalischen Wirk-<br />

11


grund, wie e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>greifen Gottes, zu akzeptieren.<br />

Dies würde sie <strong>in</strong> ihrer Erforschung der Welt nicht<br />

weiter br<strong>in</strong>gen.<br />

H<strong>in</strong>gegen hat der „Glaube“ an die allgeme<strong>in</strong>e Gültigkeit<br />

<strong>des</strong> Wechselwirkungspr<strong>in</strong>zips e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />

von neuen Erkenntnissen gebracht.<br />

Der Naturwissenschaftler Jürgen Schnackenberg<br />

hält e<strong>in</strong> Gottesbild, das die Vorstellung e<strong>in</strong>es von<br />

außen auf unsere Welt e<strong>in</strong>wirkenden Gottes enthält,<br />

für unvere<strong>in</strong>bar mit dem Wechselwirkungspr<strong>in</strong>zip,<br />

also mit e<strong>in</strong>er elementaren, bis jetzt empirisch<br />

zweifelsfrei begründeten physikalischen Aussage.<br />

„Wer dennoch e<strong>in</strong> solches, traditionelles Gottesbild<br />

zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>tegralen Bestandteil <strong>des</strong> christlichen<br />

<strong>Glaubens</strong> erklärt, nötigt damit die ohneh<strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit von Naturwissenschaftlern, die<br />

sich überhaupt noch zu e<strong>in</strong>em christlichen Glauben<br />

bekennen, ihren Glauben aufzugeben oder ihr Bewusstse<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en christlichen und e<strong>in</strong>en wissenschaftlichen<br />

Teil zu spalten oder gar e<strong>in</strong>e elementare<br />

Aussage ihrer eigenen Wissenschaft nicht<br />

mehr ernst zu nehmen.“<br />

„Die bescheidene, aber präzise Antwort <strong>des</strong> Physikers<br />

auf die Frage <strong>in</strong> der Überschrift dieses Abschnitts<br />

lautet also: Ne<strong>in</strong>! Mit dem Zusatz. Dieses<br />

Ne<strong>in</strong> gilt, es sei denn, wir könnten das Wirken Gottes<br />

im Experiment objektiv und reproduzierbar<br />

nachweisen.“<br />

Im übertragenen S<strong>in</strong>ne <strong>des</strong> Wortes „E<strong>in</strong>wirken“ gibt<br />

es vielfältige Möglichkeiten, das Verhältnis Gottes<br />

zur Welt zu beschreiben. Der Physiker Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong><br />

war von der E<strong>in</strong>fachheit der die Natur beschreibenden<br />

Gesetze überzeugt, denn Gott, der<br />

die Welt erschaffen hat, sei e<strong>in</strong> großer Physiker.<br />

„Gott würfelt nicht.“ Diese Gottesüberzeugungen<br />

haben se<strong>in</strong>e Forschung beflügelt und auch gehemmt.<br />

Viele Menschen glauben wie Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> auf<br />

Grund ihrer Erfahrungen <strong>in</strong> dieser Welt, der Begegnung<br />

mit dem Nächsten, <strong>des</strong> Erlebens <strong>des</strong> Entstehens<br />

von neuem Leben, der Vielfalt der entstehenden<br />

Gedanken und durchlebten Emotionen,<br />

dass Gott die Welt erhält.<br />

Die Antwort dieser Menschen auf die Frage <strong>in</strong> der<br />

Überschrift lautet „Ja. Ich erlebe immer wieder,<br />

dass ich mich im Glauben an das Wirken Gottes<br />

beschützt und geborgen fühle. Für mich ist dies<br />

e<strong>in</strong>e Gewissheit.“<br />

Leider kann diese subjektive Gewissheit nicht so<br />

objektiviert werden, dass sie im Pr<strong>in</strong>zip für jedermann/jedefrau,<br />

zu jeder Zeit, an jedem Ort im Großen<br />

oder Kle<strong>in</strong>en nachempfunden werden könnte.<br />

Der Glaube bleibt e<strong>in</strong> Geschenk, das man sich weder<br />

erarbeiten, erkämpfen oder beschaffen, das<br />

man aber immer wieder erneut erbitten kann. (Aber<br />

wenn man darum bittet, glaubt man ja doch<br />

schon....)<br />

Auch für den Theologen Hans Küng stellt sich (vgl.<br />

se<strong>in</strong> Buch „Was ich glaube“) auf dem H<strong>in</strong>tergrund<br />

se<strong>in</strong>er Kenntnis der Naturwissenschaften die Frage:<br />

Können wir <strong>in</strong> dieser Welt der Evolution überhaupt<br />

noch an Wunder durch E<strong>in</strong>greifen Gottes <strong>in</strong><br />

den Geschehensablauf glauben? Die Bibel ist voll<br />

davon, von Anfang bis Ende. Wie br<strong>in</strong>ge ich diese<br />

Wundergeschichten mit dem streng kausalen Entwicklungsprozess<br />

zusammen, wenn da elementare<br />

Naturgesetze durch “Naturwunder” durchbrochen<br />

werden?<br />

H. Küng hat „selbstverständlich Verständnis dafür,<br />

dass auch heute noch Menschen, die von den Ergebnissen<br />

der Naturwissenschaft wenig berührt<br />

s<strong>in</strong>d, solche biblischen ‚Naturwunder’, die den lükkenlosen<br />

Kausalzusammenhang verletzen, wortwörtlich<br />

nehmen wollen. .... Doch aufgeklärte Gottgläubige<br />

brauchen Erzählungen von ‚Naturwundern’<br />

nicht wörtlich zu nehmen oder gekünstelte<br />

naturwissenschaftliche Erklärungen dafür zu suchen.<br />

Schon die Ergebnisse der modernen Bibelwissenschaft<br />

bieten andere Verständnismöglichkeiten<br />

im übertragenen S<strong>in</strong>n. Wunder s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den<br />

Evangelien als Modellgeschichten für das Verhältnis<br />

von Jesus zu den Menschen und zur Welt erzählt.<br />

Diese Zeichen s<strong>in</strong>d heute im übertragenen<br />

S<strong>in</strong>n verständlich: so zum Beispiel die Wunderheilungen<br />

als gelebte Nächstenliebe oder die Auferstehung<br />

Jesu als Beg<strong>in</strong>n und Ersche<strong>in</strong>ungsform<br />

se<strong>in</strong>es Weiterwirkens nach se<strong>in</strong>em Tod bis heute<br />

(was ja auch nicht weniger als e<strong>in</strong> „Wunder“ ist!).<br />

H.R. Stadelmann schreibt zu den Wundergeschichten<br />

<strong>in</strong> der Bibel: „Im Neuen Testament werden Erlösungserfahrungen<br />

der Jünger und der urchristlichen<br />

Geme<strong>in</strong>de häufig <strong>in</strong> Form von Wundergeschichten<br />

weitergegeben. Dass es sich bei solchen<br />

Wundern oder Zeichen nicht um Ereignisse handelte,<br />

<strong>in</strong> denen Jesus unter Zuhilfenahme übernatürlicher<br />

Fähigkeiten Naturgesetze außer Kraft setzte,<br />

versteht sich im evolutionären Welt- und Gottesbild<br />

von selbst. Die Menschen der damaligen Zeit dachten<br />

aber nicht naturwissenschaftlich und kannten<br />

auch ke<strong>in</strong>e Naturgesetze im heutigen S<strong>in</strong>n, sondern<br />

erklärten ihre Erfahrungen im Rahmen <strong>des</strong><br />

herrschenden dualistischen Weltbilds: Je<strong>des</strong> Geschehen,<br />

auch je<strong>des</strong> Naturgeschehen, wurde entweder<br />

der Macht Gottes oder e<strong>in</strong>er bösen dämonischen<br />

Macht zugeschrieben. In der ganzen antiken<br />

Welt waren Dämonenglaube und Dämonenfurcht<br />

weit verbreitet, so dass gerade Geschichten über<br />

Dämonenaustreibungen den ersten Christen besonders<br />

geeignet erschienen, um ihre zum Leben<br />

befreienden Erfahrungen mit Jesus bildhaft <strong>in</strong> Worte<br />

zu kleiden und sie den <strong>in</strong> jener Zeit ohneh<strong>in</strong> auf<br />

Wunder aller Art begierigen Mitmenschen weiterzugeben.<br />

Die zu Wundergeschichten überhöhten<br />

12


und verklärten Erfahrungen sollten also zum Glauben<br />

an den „Gottessohn" aufrufen. Dies gilt auch<br />

für die mit Sicherheit unhistorischen Naturwunder<br />

Jesu, wie die Stillung e<strong>in</strong>es Seesturms oder die<br />

Verwandlung von Wasser <strong>in</strong> We<strong>in</strong>.“<br />

Kann Gott <strong>in</strong> der Zukunft wirken?<br />

Die Physik kann nur über Vergangenes berichten.<br />

Da gibt es Erklärtes und Unerklärtes. Göttliches<br />

kommt nicht vor, weder im Experiment noch <strong>in</strong> der<br />

Theorie. Die Physik ist frei von Theologie. Der Erkenntnisweg<br />

der Physik hat aber die Begrifflichkeit<br />

der Kausalität e<strong>in</strong>geführt, die die offene Zeit voraussetzt.<br />

Was <strong>in</strong> dieser offenen Zeit passieren<br />

kann, darüber kann die Physik ke<strong>in</strong>e Aussage machen.<br />

Der Theologe sieht hier aber deutliche H<strong>in</strong>weise<br />

auf ihr Welt- und Gottesverständnis und auf<br />

die Offenbarungsschriften. Im Vertrauen auf Gottes<br />

Wirken und se<strong>in</strong>er Gegenwart wendet sich der Beter<br />

an ihn mit der Bitte, das Beste für sie/ihn zu<br />

schaffen, ihr/ihm zu neuen Möglichkeiten und E<strong>in</strong>sichten<br />

zu verhelfen und ihn schützend zu begleiten.<br />

Dies sollte nicht als e<strong>in</strong> Gottesbeweis missverstanden<br />

werden, sondern als Verdeutlichung, dass<br />

es zwischen Naturwissenschaften und Religion<br />

ke<strong>in</strong>en Widerspruch gibt. Sie vertreten zwei unterschiedliche<br />

Erkenntniswege e<strong>in</strong>er Wirklichkeit. Zwei<br />

Wege, die sich hier im Zeitbegriff begegnen.<br />

Nach neueren theologischen Auffassungen war<br />

Gott als „Schöpfer“ nicht nur am Anfang <strong>des</strong> Kosmos<br />

(als Auslöser <strong>des</strong> „Urknalls“) aktiv, sondern er<br />

ist dies dauernd <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er „creatio cont<strong>in</strong>ua“ als<br />

Schöpfer von Neuem und Erhaltes <strong>des</strong> Bestehenden.<br />

Stadelmann spricht z.B. von Gott als e<strong>in</strong>em <strong>in</strong><br />

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wirksamen<br />

„Weltgeist“, <strong>des</strong>sen Möglichkeiten nicht im Widerspruch<br />

zu naturwissenschaftlichem Verständnis<br />

stehen.<br />

Fügung oder Zufall?<br />

In der Physik ist der „Zufall“ e<strong>in</strong> Ereignis, das e<strong>in</strong>treten<br />

kann, weil die Randbed<strong>in</strong>gungen nicht h<strong>in</strong>reichend<br />

eng gewählt oder bestimmt worden s<strong>in</strong>d.<br />

Die hochgeworfene Münze fällt auf „Wappen oder<br />

Zahl“, wenn der Wurf diese Möglichkeiten zulässt.<br />

Man möchte z.B. durch e<strong>in</strong>e Zufallsentscheidung<br />

die Platzwahl am Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es Fußballspiels treffen.<br />

Wenn ich aber die Versuchsbed<strong>in</strong>gungen so<br />

wähle, dass die Münze immer nur auf e<strong>in</strong>e Seite<br />

fallen kann, dann ist der Zufall weg. Auch der experimentelle<br />

Aufbau entscheidet z.B. über die Ersche<strong>in</strong>ungsform<br />

<strong>des</strong> Lichtes als Welle oder Korpuskel.<br />

Den Begriff der Fügung gibt es <strong>in</strong> der Physik nicht,<br />

wohl aber <strong>in</strong> der Religion. Wenn Ereignisse, die an<br />

sich unabhängig von e<strong>in</strong>ander s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>nzusammenhang<br />

gebracht werden oder als auf e<strong>in</strong><br />

Ziel gerichtet e<strong>in</strong>geordnet werden, dann spricht<br />

man von Fügung. Fügung passiert nicht objektiv,<br />

sie wird subjektiv entdeckt und entspricht e<strong>in</strong>em<br />

Deutungszusammenhang, der auf Gottes E<strong>in</strong>greifen<br />

bezogen se<strong>in</strong> kann.<br />

5. Religion und Naturwissenschaft im Licht<br />

der modernen Physik.<br />

Wenn Rationalität gründlich und adäquat analysiert<br />

wird, werden sich Naturwissenschaftler und Theologen<br />

als Partner <strong>in</strong> der Suche nach Verstehen<br />

erweisen. Die immer weiter gehende Suche nach<br />

der Wahrheit der Wirklichkeit ist letzten En<strong>des</strong> die<br />

Suche nach Gott. Zu dieser E<strong>in</strong>schätzung gelangt<br />

der britische Physiker und Theologe John Polk<strong>in</strong>ghorne,<br />

und er liefert dafür zahlreiche Beispiele aus<br />

der Physik und Theologie. Ihm kommt es darauf<br />

an, dass sich Analogien zwischen der Entwicklungsgeschichte<br />

physikalischer Theorien und theologischen<br />

Aussagen aufstellen lassen. Er weicht<br />

dabei auch so schwierigen Fragen nicht aus wie<br />

„Können ‚Wunder’ als Ereignisse e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>greifens<br />

<strong>in</strong> den von Gott selbst geschaffenen Kausalzusammenhang<br />

gelten?“. Manche Physiker und<br />

Theologen übernehmen aus der Quantentheorie<br />

e<strong>in</strong> neues Verständnis der Wirklichkeit, <strong>in</strong>dem <strong>in</strong><br />

der subatomaren Dimension nicht mehr von e<strong>in</strong>er<br />

Summe von mechanisch bee<strong>in</strong>flussbaren Teilchen<br />

ausgegangen wird, sondern von e<strong>in</strong>er totalen<br />

Ganzheit von Beziehungen. Diese neuen Deutungen<br />

haben zu der Frage geführt, ob dem Verständnis<br />

der Gott-Welt-Beziehung im Unterschied<br />

zu e<strong>in</strong>em naturalistischen Materialismus nicht auch<br />

Gedanken e<strong>in</strong>er philosophischen Theologie mit<br />

naturwissenschaftlichen Analogien zugrunde zu<br />

legen wären, (wie das bei Autoren wie H.P. Dürr,<br />

H. Primas, Whitehead, Zeil<strong>in</strong>ger und H.R. Stadelmann<br />

ankl<strong>in</strong>gt, auf die im Nachfolgenden kurz e<strong>in</strong>gegangen<br />

wird.)<br />

Mit dem Verhältnis von Erkenntnissen der modernen<br />

Physik zu der Frage nach Gottes Wirken <strong>in</strong> der<br />

Welt hat sich der britische Physiker und Theologe<br />

John Polk<strong>in</strong>ghorne befasst, zu <strong>des</strong>sen Gedanken<br />

der theol. Arbeitskreis der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong><br />

e<strong>in</strong>e ausführliche Stellungnahme veröffentlicht<br />

hat. (www.evangelischeakademiker.de/publikationen)<br />

Für Polk<strong>in</strong>ghorne gilt als Fazit:<br />

Wenn die Realität gründlich und adäquat analysiert<br />

wird, dann wird unser Wissen von ihr sich als e<strong>in</strong>heitlich<br />

herausstellen. Wenn Rationalität gründlich<br />

und adäquat analysiert wird, werden sich Naturwis-<br />

13


senschaftler und Theologen als Partner <strong>in</strong> der Suche<br />

nach Verstehen erweisen.<br />

Die letztliche Integrität und E<strong>in</strong>heit allen Wissens<br />

erlaubt es und fordert dazu heraus, e<strong>in</strong>en realistischen<br />

Standpunkt über die Naturwissenschaften<br />

h<strong>in</strong>aus auszuweiten, um mit vielen anderen Forschungsfeldern<br />

auch die theologische Reflexion<br />

unserer Begegnung mit dem Göttlichen e<strong>in</strong>zuschließen.<br />

Die immer weiter gehende Suche nach<br />

der Wahrheit der Wirklichkeit ist letzten En<strong>des</strong><br />

(theologisch gesehen) die Suche nach Gott.<br />

Theologie und Naturwissenschaft können jede auf<br />

ihre Weise verkünden, dass man e<strong>in</strong> wahrheitsgemäßes<br />

Verständnis der Realität gew<strong>in</strong>nen<br />

kann, das letzten En<strong>des</strong> nicht durch logische Demonstration,<br />

sondern durch unsere kreativen Intuitionen<br />

geschaffen wird.<br />

Gesucht wird der metaphysische Ansatz, der mit<br />

gleichem Ernst sowohl den mentalen als auch den<br />

materiellen Pol <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „komplementären“<br />

Verständnis e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Realität – aufgreift.<br />

Wenn dies als Spekulation ersche<strong>in</strong>t, so<br />

mangelt es ihr doch nicht an Begründung.<br />

Polk<strong>in</strong>ghorne stellt <strong>in</strong> Abrede, dass die Theologie<br />

e<strong>in</strong>e ganz andere Art von Theoretizität aufzuweisen<br />

habe als die Naturwissenschaft, weil ihr Gegenstand<br />

e<strong>in</strong> ganz anderer sei.<br />

(Wobei die Physik im Übrigen durchaus e<strong>in</strong>e andere<br />

Form der Theoretizität, nämlich der mathematischen,<br />

zugrunde legt, als etwa die Chemie und die<br />

neue Leitwissenschaft der Biologie)..<br />

Es kommt ihm auf den Erweis an, dass wir uns<br />

fundamental gleicher Denkweisen bedienen müssen,<br />

wenn wir über göttliche und weltliche D<strong>in</strong>ge<br />

reden. Konzepte mit hoher Erklärungskraft weisen<br />

e<strong>in</strong>en ontologischen Bezug auf, gleich ob sie sich<br />

auf sichtbare oder unsichtbare Entitäten beziehen,<br />

auf „Quarks, Gluonen oder Gott“. Ihre Existenz<br />

bildet die Basis dafür, dass wir verstehen können,<br />

was vor sich geht. Ihm kommt es darauf an, dass<br />

sich nach dem Gesagten Analogien zwischen der<br />

Entwicklungsgeschichte physikalischer Theorien<br />

und theologischen Aussagen aufstellen lassen.<br />

Ihm geht es um die Analogie zwischen Physik und<br />

Theologie. Wissenschaftstheoretisch gesprochen,<br />

gibt es <strong>in</strong> beiden Bereichen Momente radikaler<br />

Revision, <strong>in</strong> denen Erkenntnisse der Vergangenheit<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en neuen <strong>in</strong>tellektuellen Zusammenhang<br />

gestellt werden.<br />

Das alte Verständnis wird „transzendiert“. Die ungelösten<br />

Probleme der neuen Theorie verlangen<br />

nach e<strong>in</strong>em fortgesetzten R<strong>in</strong>gen um e<strong>in</strong> umfassen<strong>des</strong><br />

Verständnis. Dies führt wiederum zu Implikationen,<br />

die bei der Formulierung der neuen Theorie<br />

überhaupt nicht zu erwarten waren.<br />

In der christlichen Theologie sieht Polk<strong>in</strong>ghorne<br />

diese „Theoriendynamik“ <strong>in</strong> den Lehren von der<br />

wesentlichen Göttlichkeit Jesu und se<strong>in</strong>er Auferweckung<br />

und Erhöhung exemplifiziert.<br />

Auch das traditionelle christliche Gottesbild ist für<br />

ihn durch rationale Reflexion entstanden.<br />

Sehr ernst nimmt Polk<strong>in</strong>ghorne aber die Frage, ob<br />

es <strong>in</strong>tellektuell redlich se<strong>in</strong> kann, vom Handeln Gottes<br />

<strong>in</strong> der Welt zu sprechen, angesichts der Aussagen<br />

der Naturwissenschaften über die gesetzmäßige<br />

Entwicklung der Welt. Können etwa Wunder als<br />

Ereignisse e<strong>in</strong>es solchen E<strong>in</strong>greifens <strong>in</strong> den von<br />

Gott selbst geschaffenen Kausalzusammenhang<br />

gelten?<br />

Nach se<strong>in</strong>em Ergebnis ist jedenfalls die christliche<br />

Überzeugung gerechtfertigt, dass Gott den D<strong>in</strong>gen<br />

nicht e<strong>in</strong>fach ihren Lauf lassen muss.<br />

Schon unser Gebrauch personaler Sprache im Reden<br />

von Gott zeigt an, dass wir ihn nicht für <strong>in</strong>different<br />

halten, dass er kategorial etwas anderes repräsentiert<br />

als etwa das Gesetz der Schwerkraft,<br />

dass er auch etwas anderes ist als der deistische<br />

Erhalter.<br />

Hypothetisch nimmt Polk<strong>in</strong>ghornes Gottesverständnis<br />

se<strong>in</strong>en Ausgang von der Existenz theoretisch<br />

begründeter Unvorhersagbarkeiten <strong>in</strong> der<br />

Welt. Doch bezieht er sich dabei nicht auf die<br />

Quantentheorie. Mit der Unschärfe ihrer Ereignisse<br />

bildet diese e<strong>in</strong>en populären Anknüpfungspunkt<br />

dafür. Aber atomare und subatomare, quantentheoretisch<br />

gedeutete Ereignisse sche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fach nicht<br />

der geeignete Anknüpfungspunkt für holistische<br />

Kausalität, weil der zugrundeliegende Prozess e<strong>in</strong>e<br />

Offenheit auf der Ebene der klassischen Physik<br />

makroskopischer Phänomene generieren muss.<br />

Wir verstehen aber bis heute nicht h<strong>in</strong>reichend, wie<br />

die Ebenen der Mikrowelt und der Makrowelt <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander<br />

greifen. (Die ungelöste Schwierigkeit liegt vor<br />

allem dar<strong>in</strong>, dass die Abgrenzung der Quantenwelt<br />

von der Welt der klassischen Physik nicht e<strong>in</strong>deutig<br />

an e<strong>in</strong>en Größenmaßstab gebunden ist. Heute gel<strong>in</strong>gt<br />

es etwa, Quantenphänomene an Vielteilchensystemen<br />

nachzuweisen, die man bereits der Makrowelt<br />

zuordnen kann, während andrerseits selbst<br />

e<strong>in</strong>zelne Atome <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise manipuliert werden<br />

können, als wären sie der durch die klassische<br />

Physik beschreibbaren Welt zuzuordnen).<br />

Polk<strong>in</strong>ghorne hält dementsprechend nach<br />

makroskopischen Phänomenen Ausschau, die als<br />

„kausale Fugen“, als E<strong>in</strong>griffsstellen für außernatürliches<br />

Wirken <strong>in</strong> die lückenlosen Kausalketten der<br />

natürlichen Abläufe gelten könnten.<br />

So können etwa <strong>in</strong> den sogenannten dissipativen<br />

Systemen kle<strong>in</strong>e Auslöser weitreichende Muster<br />

hervorbr<strong>in</strong>gen. Auf diese Weise entstehen im Reich<br />

14


<strong>des</strong> Lebendigen haltbare Strukturen, wenn den<br />

offenen Systemen der Organismen Energie zugeführt<br />

wird, die ihnen erlaubt, „gegen die Entropieflut<br />

anzuschwimmen“. Doch bleiben für Polk<strong>in</strong>ghorne<br />

Zweifel, ob solche Systeme Beispiele für e<strong>in</strong> „von<br />

oben nach unten“ (top-down) gerichtetes Wirken<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Er wendet sich <strong>des</strong>halb den sogenannten „chaotischen<br />

Systemen“ zu, die den überwiegenden Teil<br />

der natürlichen Abläufe beherrschen. Sie s<strong>in</strong>d von<br />

Karl Popper als e<strong>in</strong>em der ersten im Bild von „Wolken<br />

und Uhren“ charakterisiert worden. Es stellt<br />

sehr anschaulich vor Augen, dass „wolkige“ Systeme<br />

im Unterschied zu „uhrwerksmäßigen“ sich<br />

ihrem Wesen nach unvorhersagbar verhalten.<br />

Nicht, weil wir zu wenig über sie wissen, sondern<br />

weil sie gleichsam auf der Kippe stehen, von wo<br />

aus sie sich bei ger<strong>in</strong>gfügigstem Anlass <strong>in</strong> die e<strong>in</strong>e<br />

oder andere Richtung , aber nicht <strong>in</strong> jede beliebige,<br />

entwickeln können. (Die E<strong>in</strong>schränkung der Beliebigkeit<br />

rührt daher, dass diese Systeme, <strong>in</strong> der<br />

Formulierung der Chaostheorie, nur den Raum<br />

ihres jeweiligen „seltsamen Attraktors“ durchqueren<br />

können. Dieser repräsentiert die Fülle aller möglichen<br />

Zustände <strong>des</strong> Systems, die derselben totalen<br />

Energie korrespondieren).<br />

Entscheidend ist nach Polk<strong>in</strong>ghorne für diesen Gedankengang,<br />

dass zwischen dem, was wir von den<br />

D<strong>in</strong>gen wissen (Epistemologie) und dem, was sie<br />

s<strong>in</strong>d (Ontologie) e<strong>in</strong> logischer Zusammenhang besteht,<br />

dass sich also epistemologische Unschärfe<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kritisch-realistischen Interpretation als ontologische<br />

Offenheit verstehen lässt. Dann kann e<strong>in</strong><br />

neues kausales Pr<strong>in</strong>zip die künftige Entwicklung<br />

bestimmen.<br />

Und das ist ke<strong>in</strong>e neue Art energetischer Kausalität.<br />

Der Energiehaushalt <strong>des</strong> Systems bleibt unbetroffen.<br />

Bee<strong>in</strong>flusst werden nur die Muster der sich<br />

entfaltenden dynamischen Entwicklung. Das aber<br />

kann nach Polk<strong>in</strong>ghorne e<strong>in</strong>em Verständnis „göttlichen<br />

Handelns von oben durch aktive Information“<br />

korrespondieren.<br />

Diese Offenheit <strong>des</strong> Weltprozesses bedeutet auch,<br />

dass nicht e<strong>in</strong>mal Gott die Zukunft vorauswissen<br />

kann, weil er e<strong>in</strong>e offene Welt im Werden schuf.<br />

E<strong>in</strong> deutlicher Unterschied zum Bild <strong>des</strong> klassischen<br />

Theismus.<br />

Dieser metaphysische Ansatz erfasst mit gleichem<br />

Ernst sowohl den mentalen/geistigen als auch den<br />

naturalen Pol <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s, beide verstanden als<br />

komplementäre Bestandteile e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Realität.<br />

Er berücksichtigt nun noch nicht die dramatische<br />

Entwicklung der Forschung der letzten Jahr-<br />

zehnte unter den Stichworten der quantenphysikalischen<br />

„Verschränkung“ (entanglement). Polk<strong>in</strong>ghorne<br />

nimmt auf sie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em 1998 erschienenen<br />

Werk „Belief <strong>in</strong> Gold <strong>in</strong> an Age of Sciences“, das<br />

den Diskussionen im Arbeitskreis zugrunde lag,<br />

ausdrücklich ke<strong>in</strong>en Bezug. Heute sche<strong>in</strong>t dies<br />

unumgänglich, wenn man auf dem Stand argumentieren<br />

will, den die Wissenschaft seit der immer<br />

noch umstrittenen Kopenhagener Deutung <strong>des</strong><br />

Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenmechanik<br />

erreicht hat. Dieser ist ke<strong>in</strong>eswegs mehr die e<strong>in</strong>zige<br />

Zumutung der Quantentheorie an unseren<br />

Verstand.<br />

Im Mittelpunkt der Diskussion steht jetzt die „Nichtlokalität<br />

der Welt“, die sich aus der realistischen<br />

Deutung <strong>des</strong> sogenannten EPR(E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-Podolsky-<br />

Rosen)-Paradoxes von 1935 ergibt, der „spukhaften<br />

Fernwirkung“ zwischen verschränkten Elementarteilchen.<br />

Die Experimente seit den 60er Jahren haben gezeigt,<br />

dass diese Phänomene, ersonnen als Gedankenexperiment<br />

zum Nachweis der Unvollständigkeit<br />

der Quantenmechanik, <strong>in</strong> der Realität fundiert<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Denn die materielle Welt lässt sich heute nicht<br />

mehr als e<strong>in</strong>e Summe von Teilen, sondern nur<br />

noch als e<strong>in</strong> Ganzes begreifen, <strong>in</strong> dem alles mite<strong>in</strong>ander<br />

<strong>in</strong> Wechselbeziehung steht. Moleküle,<br />

Atome, Elektronen Quarks oder Str<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d nicht<br />

eigenständige Bauste<strong>in</strong>e der Materie, sondern existieren<br />

nur dank ihrer Wechselwirkung mit der Umgebung.<br />

Anton Zeil<strong>in</strong>ger (e<strong>in</strong>er der führenden Physiker auf<br />

dem Gebiet der „Quantenverschränkung) hat mit<br />

se<strong>in</strong>em Team, parallel zu anderen Forschergruppen,<br />

den experimentellen Nachweis für die Verschränkung<br />

von Photonen erbracht, zuletzt <strong>in</strong> Freilandversuchen<br />

auf den Kanarischen Inseln, <strong>in</strong> denen<br />

die Eigenschaften von Lichtquanten über mehr<br />

als 140 km teleportiert wurden. Man spricht bereits<br />

davon, dass damit der Weg <strong>in</strong> die praktische Anwendung<br />

der „Quantenkryptographie“ offenstehe.<br />

Das könnte bedeuten, dass das von den meisten<br />

Physikern verfolgte Standardmodell der Kosmologie<br />

nicht ohne weiteres mit e<strong>in</strong>er holistischennichtlokalen<br />

Weltvorstellung vere<strong>in</strong>bar ist. Und wir<br />

können andererseits nach der Erkenntnistragweite<br />

solcher unterschiedlichen theoretischen Befunde<br />

fragen, statt uns umstandslos dem Welterklärungsmonopol<br />

e<strong>in</strong>er für homogen gehaltenen Naturwissenschaft<br />

zu unterwerfen.<br />

Denn offenbar muss man davon reden, dass die<br />

Quantenphysik nicht nur das mechanistische Weltbild<br />

überwunden hat, sondern auch die Grenzen<br />

15


e<strong>in</strong>er materialistisch <strong>in</strong>terpretierten Vielkörper-Welt<br />

überschreitet.<br />

Wie der Physiker H.-P. Dürr <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch „Das<br />

Lebendige lebendiger werden lassen“ darlegt, war<br />

und ist das Weltbild der klassischen Physik, <strong>des</strong>sen<br />

Fundamente durch Galilei, Descartes und Newton<br />

gelegt wurden, mechanistisch, e<strong>in</strong>e Welt unabhängiger<br />

Objekte. Die Inhalte dieser Welt s<strong>in</strong>d begreifbar<br />

im doppelten S<strong>in</strong>n. Im Denken s<strong>in</strong>d sie durch<br />

Begriffe deutbar. Und diese Natur ist stofflich, materiell.<br />

Man kann sie zerlegen, ohne dass ihre materiellen<br />

Eigenschaften verloren gehen. Man konnte<br />

also die re<strong>in</strong>e Materie, das Unteilbare, das Atom<br />

suchen, das im Lauf der Zeit immer mit sich selber<br />

identisch bleibt. Diese zeitliche Kont<strong>in</strong>uität der Materie<br />

gewährleistete die Kont<strong>in</strong>uität der Welt. Veränderung<br />

entstand aus der Umordnung der kle<strong>in</strong>sten<br />

Teile. (Das war schon die große Denkleistung<br />

Demokrits gewesen, die zwischen der permanenten<br />

Veränderlichkeit Heraklits und dem ewig und<br />

unveränderlich E<strong>in</strong>en <strong>des</strong> Parmeni<strong>des</strong> vermitteln<br />

wollte).<br />

Diese Physik war <strong>in</strong> ihrer Anwendung auf die Welt<br />

äußerst erfolgreich. In ihrem Weltbild gilt Materie<br />

als das Grundlegende, die Form ist e<strong>in</strong>e aus ihrer<br />

Anordnung abgeleitete Eigenschaft. Ihre kle<strong>in</strong>sten<br />

Teile, die Atome, sollten formlose Materie se<strong>in</strong>.<br />

Weil wir gelernt haben, dass sie sich noch weiter <strong>in</strong><br />

„Elementarteilchen“ zerlegen lassen, verdichtet<br />

sich der Verdacht, dass damit noch ke<strong>in</strong> Ende erreicht<br />

ist und auch nicht erreicht werden kann. Zum<br />

Ende kommen wir aber auf ganz unerwartete Weise:<br />

In der Erwartung kle<strong>in</strong>ster, gestaltloser, re<strong>in</strong>er<br />

Materie bleibt am Ende nichts mehr übrig, was an<br />

Materie er<strong>in</strong>nert. Im Grunde gibt es nur den Geist.<br />

Die Physik sagt nunmehr: Materie ist nicht aus Materie<br />

aufgebaut.<br />

Am Schluss ist ke<strong>in</strong> Stoff mehr, nur noch Form,<br />

Gestalt, Symmetrie, Beziehung.<br />

Das heißt aber auch, die moderne Physik ist für<br />

unsere Sprache gar nicht geschaffen. Wie e<strong>in</strong>e<br />

Analogie zum gläubigen Reden von den göttlichen<br />

D<strong>in</strong>gen mutet an, was Heisenberg festgestellt hat:<br />

Die QT ist e<strong>in</strong> wunderbares Beispiel dafür, dass<br />

man e<strong>in</strong>en Sachverhalt <strong>in</strong> völliger Klarheit verstanden<br />

haben kann und gleichzeitig doch weiß, dass<br />

man nur <strong>in</strong> Bildern und Gleichnissen von ihm reden<br />

kann.<br />

Die Physiker aber erzielen die Genauigkeit e<strong>in</strong>es<br />

Verständnisses von nicht unmittelbar Vorstellbarem<br />

durch höhere Abstraktion und mit der flexibleren<br />

Sprache der Mathematik.<br />

Die Weiterung dieser Gedanken führt bei Dürr dah<strong>in</strong>,<br />

dass es nur das geistig Lebendige gibt, nur<br />

Wandel, Veränderung, Operationen, Prozesse. In<br />

jedem Augenblick wird die Welt neu geschaffen,<br />

jedoch im Erwartungsfeld der ständig abtretenden<br />

Welt. Darum bleibt uns auch die Zukunft verschlossen.<br />

Sie existiert überhaupt nicht. Die gesamte alte<br />

Potentialität gebiert die neue und prägt dabei neue<br />

Realisierungen, ohne sie e<strong>in</strong>deutig festzulegen.<br />

Das ist nicht e<strong>in</strong>fach Entwicklung, Entfaltung. Noch<br />

nie Dagewesenes wird geschaffen, <strong>in</strong> echter Kreation.<br />

Es gibt nur Gestaltveränderung, Metamorphose.<br />

Als offene Beziehungsstrukturen lassen sich solche<br />

Veränderungen nicht isolieren.<br />

Folgen wir Dürr und Zeil<strong>in</strong>ger et al., so ergibt sich<br />

e<strong>in</strong> „modernes Weltbild“, das zu ganz anderen Vorstellungen<br />

vom Gottesglauben führen wird, als<br />

wenn wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em naturalistischen Materialismus<br />

befangen bleiben.<br />

Auch die Physiker s<strong>in</strong>d freilich <strong>in</strong> der überwiegenden<br />

Mehrzahl bis heute bei der Beschreibung der<br />

materiellen Welt im Mikrokosmos, der Welt der<br />

Atome hängengeblieben. Das moderne Paradigma<br />

dieser Physik ist das sogen. Standardmodell. Deshalb<br />

sche<strong>in</strong>t die Frage wichtig, ob man sich auf<br />

Dürres folgenreiche Neudeutung der QT überhaupt<br />

e<strong>in</strong>lassen will.<br />

Denn wenn es Teilchen im alten S<strong>in</strong>n nicht mehr<br />

gibt, dann, wie Dürr ausführt, auch ke<strong>in</strong>e zeitlich<br />

mit sich selbst identischen Objekte, also auch ke<strong>in</strong>e<br />

zeitlich durchgängig existierende objekthafte Welt –<br />

dann kann man auch durch noch so genaues Faktensammeln<br />

die Zukunft nicht vorhersagen.<br />

Man öffnet durch die Beobachtung lediglich e<strong>in</strong><br />

Erwartungsfeld von Möglichkeiten.<br />

Die Zukunft bleibt offen, wenn auch nicht beliebig<br />

und zufällig, weil sie noch durch Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>geengt<br />

ist, die mit den physikalischen Erhaltungssätzen<br />

zusammenhängen und aus den Symmetrieeigenschaften<br />

der Dynamik resultieren. Sie sorgen<br />

dafür, dass im Großen überhaupt die <strong>in</strong> der Physik<br />

verwendeten Kenngrößen erhalten bleiben.<br />

Das kann wie e<strong>in</strong> Teil der Antwort auf die Frage<br />

kl<strong>in</strong>gen, wie es denn um die auffallende Beständigkeit<br />

der uns handgreiflich entgegentretenden Welt<br />

bestellt ist, mit der Vielfalt und Dauerhaftigkeit ihrer<br />

Elemente, deren Manipulation den Wirkungsbereich<br />

der Chemie ausmacht und die auch die biologischen<br />

und neurologischen Wissenschaften wie<br />

selbstverständlich zugrundelegen, ohne nach ihrer<br />

„letztlichen Eigentlichkeit“ zu fragen.<br />

16


Dürres Ausführungen erwecken allerd<strong>in</strong>gs den E<strong>in</strong>druck,<br />

als werde das bisher nicht Begriffene, dass<br />

sich die Materie bei höchster Auflösung der<br />

Beobachtung entzieht und gleichsam verdunstet,<br />

nur <strong>in</strong> anderer Weise wortreich umschrieben, ohne<br />

dass sich für e<strong>in</strong> ontologisches Verständnis Neues<br />

ergibt. Er zieht sich ansche<strong>in</strong>end auf die von der<br />

evolutionären Erkenntnistheorie bekannte<br />

Feststellung zurück, dass unser am Mesokosmos<br />

tra<strong>in</strong>iertes Gehirn nicht darauf programmiert ist, die<br />

QT zu verstehen. Der Anschluss <strong>des</strong> quantenmechanischen<br />

Mikrokosmos an die makroskopische<br />

Welt der klassischen Physik, den Polk<strong>in</strong>ghorne<br />

vermisst, bleibt letzten En<strong>des</strong> der Vermutung<br />

anheimgestellt.<br />

Die mikroskopische Naturgesetzlichkeit ist demnach<br />

so verfasst, dass makroskopisch die uns bekannten<br />

Naturgesetze ersche<strong>in</strong>en. Es sieht dann<br />

so aus, als hätten wir das Kausalgesetz und als sei<br />

die Zukunft von daher aus der Vergangenheit determ<strong>in</strong>iert.<br />

Dann formiert sich auch so etwas wie<br />

Materie, die sich teilen lässt und dabei Materie<br />

bleibt.<br />

Wenn diese Ausführungen als zu weit über die ursprünglich<br />

vom Arbeitskreis anvisierte Thematik<br />

h<strong>in</strong>auszuweisen sche<strong>in</strong>en, so kann „Im Herzen der<br />

Materie – Glaube im Zeitalter der Naturwissenschaften“<br />

(WBG, Darmstadt) von Hans-Rudolf Stadelmann,<br />

<strong>in</strong> gewisser Weise auf die ursprünglichen<br />

Intentionen zurückführen.<br />

Stadelmann hat als Atomphysiker gearbeitet und ist<br />

nach dem Studium der evangelischen Theologie<br />

Geme<strong>in</strong>depfarrer <strong>in</strong> der Schweiz geworden.<br />

Im Zentrum se<strong>in</strong>er Betrachtungen stehen e<strong>in</strong> evolutionäres<br />

Weltbild und daran anknüpfende Überlegungen<br />

zur evolutionären Erkenntnistheorie.<br />

Was er e<strong>in</strong>leitend (gleichsam als „Kroeger light“)<br />

über die Defizite kirchlicher Verkündigung auf der<br />

Grundlage e<strong>in</strong>es antiquierten Weltbilds und über<br />

die Auswirkungen auf Kirchenb<strong>in</strong>dung und <strong>Glaubens</strong>treue<br />

sagt, geht über <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e schlüssige Darstellung<br />

<strong>des</strong> Weltbilds der modernen, von der<br />

Quantenmechanik dom<strong>in</strong>ierten Physik.<br />

Nicht zu kurz kommt im Anschluss daran aus theologischer<br />

Sicht das, was wir „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“<br />

genannt haben, d.h. das , was angesichts<br />

<strong>des</strong> neuen Weltbil<strong>des</strong> vom christlichen <strong>Glaubens</strong>bestand<br />

bleibt und was fallen muss, also Fragen<br />

nach Jesus Christus, Schöpfung, Offenbarung,<br />

Erlösung usw..<br />

Stadelmann sche<strong>in</strong>t auch im Nachgang zu den<br />

Stellungnahmen <strong>des</strong> theol. Arbeitskreises <strong>in</strong>teressant,<br />

weil sich bei ihm die kontroversen Fragestellungen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er evolutionären Deutung <strong>des</strong> Weltge-<br />

schehens zusammenf<strong>in</strong>den. Wer das alte Weltbild<br />

für dekonstruktionsreif hält, erhält ebenso e<strong>in</strong>e<br />

Antwort wie theistisch Denkende und Fühlende.<br />

Stadelmann bemüht dazu ke<strong>in</strong>en Synkretismus,<br />

sondern nimmt, wie Polk<strong>in</strong>ghorne, zu <strong>des</strong>sen Thesen<br />

sich ke<strong>in</strong> Widerspruch ergibt, die E<strong>in</strong>heit der<br />

Welt und die E<strong>in</strong>heit der Vernunft zum Ausgangspunkt.<br />

Diese E<strong>in</strong>heit f<strong>in</strong>det er begründet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kosmischen<br />

Evolutionismus und <strong>in</strong> der evolutionären<br />

Erkenntnistheorie. Er beruft sich dabei vor allem H.<br />

Ditfurth, H.P. Dürr, G. Vollmer, neben e<strong>in</strong>er respektablen<br />

Reihe anderer. Unter se<strong>in</strong>en theologischen<br />

Gewährsleuten f<strong>in</strong>det sich H. Küng, aber auch M.<br />

Welker. Er setzt sich mit der psychoanalytischen<br />

Theologie Drewermanns ause<strong>in</strong>ander und nimmt<br />

die Psychologie von C.G. Jung ernst. Im H<strong>in</strong>tergrund<br />

stehen Teilhard de Chard<strong>in</strong> und der Erkenntnisweg<br />

der Mystik.<br />

Besondere Sympathie hegt Stadelmann für H. Ditfurths<br />

These von der Entwicklung <strong>des</strong> menschlichen<br />

Bewusstse<strong>in</strong>s im Feld <strong>des</strong> primordialen (göttlichen)<br />

Weltgeistes, die eigentlich der Schlussste<strong>in</strong><br />

der evolutionären Erkenntnistheorie genannt werden<br />

kann: „Die Naturwissenschaft hat über das<br />

Sammeln von Fakten und Daten längst h<strong>in</strong>ausgegriffen.<br />

Sie ist die Fortsetzung der Metaphysik mit<br />

anderen Mitteln“. (Hoimar von Ditfurth).<br />

Auf diese Weise lassen sich also viele Themenstellungen<br />

und „<strong>Kernfragen</strong>“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zusammenhang<br />

br<strong>in</strong>gen, die <strong>in</strong> den bisherigen Betrachtungen nur<br />

als e<strong>in</strong>zelne Elemente aufgetaucht s<strong>in</strong>d.<br />

Was aus theologischer Sicht und der Perspektive<br />

<strong>in</strong>dividueller Gläubigkeit <strong>in</strong> großer Breite beigetragen<br />

und erarbeitet wurde und im Folgenden dargestellt<br />

wird, ist <strong>in</strong> stetem H<strong>in</strong>blick auf die Skizzierung<br />

e<strong>in</strong>es neuen Weltbild der Naturwissenschaften, vor<br />

allem der Quantenphysik und der Kosmologie, zu<br />

bewerten.<br />

6. Kommunikation mit Gott<br />

Ist es möglich, Verb<strong>in</strong>dung mit Gott aufzunehmen –<br />

ihm etwas mitzuteilen oder etwas von ihm zu empfangen?<br />

Für betende Gläubige ist das selbstverständlich.<br />

Aber nicht nur im Blick auf neuere naturwissenschaftliche<br />

Erkenntnisse ist zu fragen, was<br />

mit „Offenbarung“ geme<strong>in</strong>t ist und mit der Bezeichnung<br />

der Bibel als „Gottes Wort“. Auch <strong>in</strong> der<br />

Theologie verändert sich die Kommunikation mit<br />

Gott, wenn es von ihm auch andere Vorstellungen<br />

gibt als die e<strong>in</strong>er – wie e<strong>in</strong>en Menschen anzusprechenden<br />

– Person. Wie wirkt es sich <strong>in</strong> der Kommunikation<br />

mit Gott aus, wenn mehr als früher daran<br />

gedacht wird, dass Gott größer und anders ist<br />

17


als unsere Vorstellungen von ihm? Ist er dann auch<br />

anders und auf verschiedene Weise ansprechbar?<br />

Wenn Gott nicht nur (wie vom frühaufklärerischen<br />

Universalgelehrten G.W. Leibniz) als e<strong>in</strong> Uhrmacher<br />

dargestellt wird, der die Welt mit Raum und<br />

Zeit geschaffen hat – sie läuft seitdem, ohne dass<br />

er e<strong>in</strong>greift, von selbst – , dann gibt es auch verschiedene<br />

und wechselnde Verb<strong>in</strong>dungen zu ihm.<br />

Die häufigste Art der Kommunikation mit Gott ist<br />

das Gebet. Aber auch das Denken an ihn, besondere<br />

Erfahrungen (z.B. als „Offenbarung“) oder<br />

Rituale und Symbole können mehr oder weniger<br />

<strong>in</strong>tensive Kontakte mit Gott vermitteln. Die Erwähnung<br />

Gottes <strong>in</strong> täglicher Rede („Ach du lieber<br />

Gott...“) ist zwar fast immer nur noch e<strong>in</strong>e entleerte<br />

Formel, enthält aber doch e<strong>in</strong>en Bezug zu der damit<br />

bezeichneten größeren Wirklichkeit (obwohl sie<br />

gegen das Gebot „Du sollst den Namen Gottes<br />

nicht missbrauchen“ verstößt).<br />

Die Welt, wie wir sie mit dem Verstand und naturwissenschaftlichen<br />

Methoden erkennen können,<br />

lässt die Dimension der Transzendenz meist unbeachtet.<br />

Fragen nach dem S<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Lebens s<strong>in</strong>d<br />

aber nur beantwortbar, wenn auch der spirituelle<br />

Zugang anerkannt wird.<br />

Kommunikation mit Gott kann direkt oder <strong>in</strong>direkt,<br />

bewusst oder unbewusst stattf<strong>in</strong>den. Ihr Verständnis<br />

ergibt sich aus den Aussagen von Gläubigen.<br />

Danach ist e<strong>in</strong>e Kommunikation mit Gott <strong>in</strong> allen<br />

<strong>Glaubens</strong>formen möglich. Die Form und der Inhalt<br />

s<strong>in</strong>d abhängig von dem Gottesbild <strong>des</strong> oder der<br />

Gläubigen. Aktuelle Aussagen über Gott (und se<strong>in</strong>en<br />

Willen, se<strong>in</strong>e Hilfe, se<strong>in</strong>e Wertungen, Pläne,<br />

Warnungen) erwecken oft den E<strong>in</strong>druck, dass sie <strong>in</strong><br />

besonderer Kommunikation mit Gott begründet s<strong>in</strong>d.<br />

E<strong>in</strong>e Kommunikation mit Gott ist für viele selbstverständlich<br />

und unbed<strong>in</strong>gt erforderlich, sei es mit e<strong>in</strong>em<br />

persönlichen Gott oder mit e<strong>in</strong>em nontheistischen<br />

Gott oder „Urgrund allen Se<strong>in</strong>s“. Sie ist<br />

besonders notwendig und oft auch hilfreich <strong>in</strong><br />

schweren Lebenslagen, besonders wenn man auf<br />

frühe religiöse Prägungen zurückgreifen kann.<br />

Viele Namen und Vergleiche für Gott legen es nahe,<br />

von ihm unter Verwendung <strong>des</strong> Feldbegriffs zu<br />

sprechen. Kommunikation mit Gott wird dann als<br />

mehrfache Beziehung wahrgenommen. Das Wort<br />

Feld deutet auf den Zusammenhang <strong>des</strong> Wirkens<br />

von Gott als Geist und Kraft h<strong>in</strong>. Wie das Bildwort<br />

vom „Reich Gottes“ oder „Himmelreich“ reicht es<br />

weit über das kle<strong>in</strong>e Umfeld von e<strong>in</strong>zelnen Menschen<br />

und Gruppen h<strong>in</strong>aus und kann e<strong>in</strong>e Metapher<br />

für die überpersönliche All-Gegenwart Gottes<br />

/der größeren Wirklichkeit se<strong>in</strong>. In den Naturwissenschaften<br />

wurde e<strong>in</strong> Feldbegriff entwickelt, der<br />

Erkenntnisse generiert, die e<strong>in</strong> Zusammenwirken<br />

von geistigen und physikalischen Kräften möglich<br />

ersche<strong>in</strong>en lassen.<br />

Gott wird auch oft als Kraft erlebt, erfahren und<br />

benannt. Das kann das verbreitete Gottesverständnis<br />

als Person ergänzen und erweitern.<br />

Nach M. Kroeger ist Gott „e<strong>in</strong>e Kraft, die schafft,<br />

beschenkt, fordert, vernichtet, zu der anbeten<strong>des</strong><br />

In-Beziehung-Treten ohne Festlegung auf wie auch<br />

immer geartete theologische oder philosophische<br />

Begriffe möglich und lebensdienlich ist.“<br />

Der Theologe G. Theißen hat (<strong>in</strong> „<strong>Glaubens</strong>sätzen“<br />

S. 58) e<strong>in</strong>e Vielzahl neuerer Bezeichnungen für<br />

Gott aufgeführt, die auch e<strong>in</strong>e andere Art der Beziehung<br />

zu dieser größeren Wirklichkeit ermöglichen<br />

und erfordern:<br />

Gott ist das Geheimnis der Wirklichkeit.<br />

Gott ist die alles bestimmende Wirklichkeit.<br />

Gott ist etwas, über das h<strong>in</strong>aus nichts Größeres<br />

gedacht werden kann<br />

Gott ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält.<br />

Gott ist der Grund <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s.<br />

Gott ist die Tiefe <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s.<br />

Gott ist das Ewig E<strong>in</strong>e.<br />

Gott ist die e<strong>in</strong>e Substanz <strong>in</strong> allen D<strong>in</strong>gen: deus<br />

sive natura.<br />

Gott ist Unendlichkeit.<br />

Gott ist das Umgreifende.<br />

Gott ist das Woher schlechth<strong>in</strong>niger Abhängigkeit<br />

und unseres empfänglichen und selbsttätigen Dase<strong>in</strong>s.<br />

Gott ist Postulat moralischen Handelns,<br />

Gott ist die moralische Weltordnung,<br />

Gott ist, worauf Du De<strong>in</strong> Herz hängest und verlässt.<br />

Gott ist das, was e<strong>in</strong>en Menschen unbed<strong>in</strong>gt angeht.<br />

Gott ist Wille zum Leben.<br />

Gott ist das Woher me<strong>in</strong>es >Du sollst!< und >Du<br />

darfst!<<br />

Gott ist das ewige DU.<br />

Gott ist das Umhergetriebense<strong>in</strong> vom andern Menschen<br />

her.<br />

Gott ist Letztpunkt lebensweltlicher Orientierung.<br />

Gott ist E<strong>in</strong>heit von Gegensätzen,<br />

co<strong>in</strong>cidentia oppositorum:<br />

»die absolut-relative,<br />

diesseitig-jenseitige,<br />

transzendent-immanente,<br />

allesumgreifend-allesdurchwaltende<br />

wirklichste Wirklichkeit<br />

im Herzen der D<strong>in</strong>ge,<br />

im Menschen,<br />

<strong>in</strong> der Menschheitsgeschichte,<br />

<strong>in</strong> der Welt.«<br />

18


Die Vielzahl der Formeln erklärt, dass es ke<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong>zige gibt, die alle<strong>in</strong> und überhaupt annähernd<br />

Gott bezeichnen könnte. Es ist kaum noch möglich<br />

und auch nicht nötig, sich Gott nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er überhöhten<br />

anthropomorphen Art vorzustellen. Die<br />

bisherigen religiösen Kommunikationsformen s<strong>in</strong>d<br />

zu erweitern und z.T. neu zu entwickeln.<br />

Gott als Person erfahren<br />

Christen sehen sich <strong>in</strong> der Beziehung zu Gott, der<br />

ihren letzten Grund <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s darstellt. Ganz<br />

überwiegend wird Gott im Glauben als Ansprechpartner<br />

erlebt, der menschliche Züge trägt, der<br />

(e<strong>in</strong>zelne und viele, alle!) Menschen hört, sieht,<br />

ihnen antwortet, hilft, zürnt. Dabei wird selbstverständlich<br />

das „Du“ auf der anderen Seite vorausgesetzt.<br />

Jede/r Gläubige kann ihrer/se<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

ganz persönlichen Beziehung (mit all den Details<br />

der <strong>in</strong>dividuellen Situation) zu Gott stehen. B.<br />

v.Weizsäcker glaubt zwar erklärtermaßen nicht an<br />

e<strong>in</strong>en Gott als Person, spricht ihn aber doch ganz<br />

<strong>in</strong>dividuell und wie e<strong>in</strong>e hörende Person an (<strong>in</strong>: „Ist<br />

da jemand?“).<br />

„Es ist der Gott, mit dem ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Sprache, mit<br />

der ich auch mit Menschen kommuniziere, <strong>in</strong> Gebet<br />

und Meditation sprechen kann. Alle<strong>in</strong> oder mit anderen<br />

zusammen. Laut oder nur <strong>in</strong> Gedanken. Ich<br />

werde es mit Worten tun, die Respekt und Ehrfurcht<br />

ausdrücken. In der Not und <strong>in</strong> der Verzweiflung<br />

werde ich das vergessen und hoffen, dass<br />

Gott mich trotzdem hören will. Ohne dass ich mir<br />

e<strong>in</strong> persönliches Gegenüber vorstelle, werden mir<br />

die rechten Worte fehlen. Von kle<strong>in</strong> auf habe ich<br />

immer nur mit e<strong>in</strong>em persönlichen Gegenüber geredet<br />

und dabei auch gelernt, was Bitten, was Vertrauen,<br />

was Enttäuschung und alle<strong>in</strong> gelassen bleiben<br />

heißt.“<br />

Wir s<strong>in</strong>d immer angewiesen auf andere. Wir benennen<br />

die D<strong>in</strong>ge und Personen. Damit setzen wir<br />

uns immer <strong>in</strong> Beziehung zu e<strong>in</strong>em Gegenüber. Und<br />

wie immer Menschen sich das Göttliche vorstellen,<br />

sie sprechen es an als Gegenüber. (Nur die<br />

mystische Frömmigkeit macht da e<strong>in</strong>e Ausnahme).<br />

Wer aber glaubt – und vom Glauben sollten wir nur<br />

reden, wenn der Glaube an „Gott“/ an e<strong>in</strong>e größere<br />

Wirklichkeit geme<strong>in</strong>t ist, denn der Glaube ist diese<br />

„Offenheit für MEHR“ – der vertraut darauf, von<br />

diesem verborgenen Gegenüber gehört zu werden<br />

<strong>in</strong> Gebet und Meditation. Und er vertraut oder hofft<br />

darauf Antwort zu erfahren, deren Ausbleiben der<br />

Glaubende angstvoll als Gott-Verlassenheit deutet.<br />

Die Mystik vertritt das Ine<strong>in</strong>ander von persönlichen<br />

und überpersönlichen Zügen Gottes.<br />

Gott ist größer und anders als unsere Vorstellungen<br />

von ihm<br />

Gott ist für viele christliche Gläubige e<strong>in</strong>e ansprechbare<br />

Person, für manche e<strong>in</strong>e alle menschliche<br />

Vorstellungen und Namen überschreitende<br />

größere Wirklichkeit. „Non-theistisch“ (d.h. anders<br />

als Gott-Person mit vergleichbar menschlichen<br />

Eigenschaften verstanden) bedeutet nicht e<strong>in</strong> „Weniger<br />

von Gott“, als vielmehr das ehrfürchtige Staunen<br />

vor dem unfassbar großen Geheimnis <strong>des</strong><br />

Se<strong>in</strong>s, vor der allumfassenden Macht, die mit dem<br />

Urwort „Gott“ geme<strong>in</strong>t ist. Diese Macht, dieses Geheimnis<br />

ist nicht nur als supranaturale „Gottperson“<br />

mit gesteigerten menschlichen Eigenschaften angemessen<br />

beschrieben. Sie wird zunehmend auch<br />

mit Namen wie Grund <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s, das Unbed<strong>in</strong>gte,<br />

größere Wirklichkeit bezeichnet und angesprochen.<br />

(Die Verwendung personaler Gottesnamen<br />

ist weiterh<strong>in</strong> möglich, sie werden – wie schon bisher<br />

alle anderen symbolischen und bildhaften Namen<br />

für Gott – im übertragenen S<strong>in</strong>n gebraucht.)<br />

Auf diese Weise kann versucht werden zu vermeiden,<br />

dass eigene Vorstellungen von Gott zu dem<br />

Glauben verleiten, Gott sei wirklich und ganz genau<br />

so, wie das Bild von ihm, das wir uns machen, etwa<br />

das e<strong>in</strong>es Übermenschen im Himmel.<br />

Unser Vorstellungsvermögen kann Gott aber nicht<br />

fassen. Menschen haben Schwierigkeiten, sich etwas<br />

vorzustellen, was sie aus unserer Umwelt nicht<br />

schon kennen. Die Vorstellungskraft reicht nur so<br />

weit, dass sie beschreibt und neu zusammensortiert,<br />

was wir irgendwo schon e<strong>in</strong>mal gesehen oder erlebt<br />

haben.<br />

Der Mensch redet von Gott und setzt dabei, bewusst<br />

oder unbewusst, ständig se<strong>in</strong>e eigenen Verhältnisse<br />

und Möglichkeiten voraus. Somit wird<br />

je<strong>des</strong> Bild, das wir uns von Gott machen, falsch,<br />

denn Mensch bleibt Mensch. Es mag ärgerlich und<br />

beunruhigend se<strong>in</strong>, dass unsere menschlichen<br />

Möglichkeiten, nicht ausreichen, um uns Gott vorzustellen.<br />

Vielleicht ist es aber auch e<strong>in</strong> gutes Gefühl,<br />

dass Gott so ganz anders ist als alles, was wir<br />

e<strong>in</strong>ordnen können. (Zu Wandlungen im Gottesbild<br />

siehe auch das Thema Mystik).<br />

Gott ist auf verschiedene Weise ansprechbar, nicht<br />

nur wie e<strong>in</strong>e Person.<br />

„Es ist durchaus möglich, verschiedene Gottesvorstellungen<br />

abwechselnd zu gebrauchen. z.B. auch<br />

mal beim Zähneputzen danke zu sagen, ohne Gott<br />

anzusprechen – und dann auch wieder DU zu ihm<br />

zu sagen. Er oder sie oder es umgibt mich ja von<br />

allen Seiten und ist <strong>in</strong> allen Zusammenhängen als<br />

größere Wirklichkeit da: Das kann Anlass se<strong>in</strong>,<br />

mehr und anderes von Gott zu erleben und zu entdecken,<br />

als bei e<strong>in</strong>er stark anthropomorph bestimmten<br />

Vorstellung.<br />

19


Dank kann z.B. auch mal gedacht werden, wenn<br />

das Korrekturprogramm im Computer so super<br />

f<strong>in</strong>dig und fähig ist; da muss schon viel und von<br />

weiter her zusammenkommen an Geist und Liebe<br />

zur Sache. Das kann man mit Du und Gott (Vater,<br />

Herr) ansprechen oder nicht – oder e<strong>in</strong>fach wie <strong>in</strong><br />

Facebook die geistige Taste „Gefällt mir“ antippen<br />

und sich etwas MEHR dabei zu denken als sonst –<br />

es gibt viele ungewohnte und neue Formen und<br />

Möglichkeiten für den Gottesglauben: Offenwerden<br />

für größere Wirklichkeit und das Ganze – für das<br />

„Wunder“ <strong>des</strong> Lebens und der Welt, im Kle<strong>in</strong>en,<br />

Nächstliegenden, und im weiten Raum.“<br />

„Das Bekenntnis zum E<strong>in</strong>en Gott <strong>in</strong> „drei Personen“<br />

übersteigt zudem e<strong>in</strong>en allzu gegenständlichen<br />

Personbegriff.“ Im Unterschied zu Stadelmann, der<br />

das Bild von e<strong>in</strong>em dreie<strong>in</strong>igen Gott als mythologisch<br />

und mit dem evolutionären Weltbild nicht vere<strong>in</strong>bar<br />

aufgeben will, sehen wir dar<strong>in</strong> brauchbare<br />

Variationsmöglichkeiten für die Kommunikation mit<br />

dieser vielfältigen höheren Wirklichkeit.<br />

7. Gott <strong>in</strong> der Mystik erfahren?<br />

Mystische <strong>Glaubens</strong>formen f<strong>in</strong>den zunehmen<strong>des</strong><br />

Interesse. Bieten sie andere, tiefergehende Erfahrungen<br />

an als die traditionelle kirchliche Frömmigkeit?<br />

Lässt sich durch besondere Arten von Meditation<br />

e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>swerden mit Gott erreichen? Wie verändert<br />

sich das Gottesbild durch mystische <strong>Glaubens</strong>praxis?<br />

Gel<strong>in</strong>gt es, „das Unsagbare zu sagen“?<br />

Mystik vertritt das Ine<strong>in</strong>ander von persönlichen und<br />

überpersönlichen Zügen Gottes. Gott kommt nahe:<br />

Im Alltäglichen gibt es e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> der Gegenwart<br />

Gottes. Er ist ebenso radikal immanent wie transzendent.<br />

Gott „<strong>in</strong> uns“ und „über uns“ gehören zue<strong>in</strong>ander.<br />

Aber auch kritische Fragen s<strong>in</strong>d zu stellen: Ist die<br />

Überschreitung e<strong>in</strong>es personalen Gottesbilds möglich,<br />

ohne Christus als „Angesicht“ <strong>des</strong> unsichtbaren<br />

Gottes aufzugeben?<br />

Zahlreiche Methoden der Kontemplation bieten<br />

auch den Interessierten Zugang zu mystischer Erfahrung,<br />

die sich nicht gerade besonders begabt<br />

dafür fühlen.<br />

Die neue Fasz<strong>in</strong>ation<br />

Themen der Mystik s<strong>in</strong>d populär geworden. Fast<br />

sieht es nach e<strong>in</strong>er vor kurzem kaum vorstellbaren<br />

Mystik-Mode aus. Wohl hatte der katholische Theologe<br />

Karl Rahner (1904-1984) schon vor 1970 vermutet:<br />

„Der Fromme von morgen wird ‚e<strong>in</strong> Mystiker’<br />

se<strong>in</strong>.“ (Gesammelte Schriften 7,22) Aber das klang<br />

damals, nicht nur für protestantische Ohren, fast<br />

verwegen. Die evangelische Theologie vor allem<br />

<strong>des</strong> deutschen Sprachraums blieb sich lange „weitgehend<br />

e<strong>in</strong>ig, dass Protestantismus und Mystik<br />

unvere<strong>in</strong>bar seien.“(Volker Lepp<strong>in</strong> 2007,118) Pioniere<br />

<strong>des</strong> mystischen Weges galten als Außenseiter.<br />

Heute sche<strong>in</strong>en die konfessionellen Vorbehalte,<br />

außerhalb der universitären Theologie, so gut wie<br />

verschwunden. Wer sich <strong>in</strong> Buchhandlungen umschaut,<br />

trifft auf gut gefüllte Religions- und Esoterik-<br />

Abteilungen, mit e<strong>in</strong>er Fülle von Mystik-Titeln.<br />

Digitale Portale öffnen unabsehbare religiöse Weiten.<br />

Woher diese enorme Anziehungskraft rührt, verdient<br />

e<strong>in</strong>e gründliche Untersuchung. Hier seien nur<br />

e<strong>in</strong>ige Andeutungen gewagt. Längst s<strong>in</strong>d Europäern<br />

im Zug der wirtschaftlichen Globalisierung auch<br />

andere religiöse Welten nahe gekommen. Touristen<br />

nehmen Tänze moslemischer Derwische<br />

wahr; <strong>in</strong> Thailand treffen sie auf buddhistische<br />

Tempel, <strong>in</strong> Indien auf die komplexe religiöse Welt<br />

der H<strong>in</strong>dus. Jüdische und moslemische Geme<strong>in</strong>den<br />

gehören zur Nachbarschaft im eigenen Land. Dabei<br />

stellt sich heraus, dass „Mystik“ ke<strong>in</strong>eswegs<br />

bloß e<strong>in</strong> christliches Phänomen ist. Das Themenheft<br />

„Mystik“ <strong>in</strong> „evangelische aspekte“ hat sich<br />

schon 2006 weiten Horizonten geöffnet. Die großartige<br />

Ausstellung <strong>in</strong> Zürich „MYSTIK- Die Sehnsucht<br />

nach dem Absoluten“ rückte 2011/2012<br />

mystische Welten im Christentum, Judentum und<br />

Islam, aber auch <strong>in</strong> H<strong>in</strong>duismus, Buddhismus und<br />

Daoismus gleichermaßen <strong>in</strong>s Blickfeld.<br />

Aber nicht nur die Nahbegegnung religiöser Kulturen<br />

trägt zu dem neuen Mystik-Interesse bei. Wichtig<br />

ist auch der offensichtliche Schwund profilierter<br />

christlicher Inhalte und biblisch fundierter Lehre.<br />

Mystik verspricht e<strong>in</strong>e Weite, die von traditioneller<br />

Dogmatik frei ist. Gerade diese Unbestimmtheit<br />

erweckt Zutrauen bei vielen, denen fixierte <strong>Glaubens</strong>bekenntnisse<br />

fragwürdig geworden s<strong>in</strong>d. Ja,<br />

Mystik ersche<strong>in</strong>t als anschlussfähig für e<strong>in</strong>e postreligiöse<br />

Kultur und manche Formen <strong>des</strong> Atheismus.<br />

Denn hier sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e Verwurzelung, e<strong>in</strong>e Beheimatung<br />

angeboten, die ke<strong>in</strong>e Kirchenb<strong>in</strong>dung und<br />

ke<strong>in</strong>e konfessionelle Festlegung abverlangt.<br />

Für Christen hat die Attraktivität der Mystik mit der<br />

Chance e<strong>in</strong>es neuen Gottesbilds zu tun. Die<br />

„Sehnsucht nach dem Absoluten“, so sche<strong>in</strong>t Mystik<br />

zu versprechen, muss nicht <strong>in</strong> die Gefangenschaft<br />

begrenzter oder metaphysischer Gottesvorstellungen<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>führen. Aber wer ist „der Gott der<br />

Mystik“? Dieser Leitfrage folgt die hier vorgelegte<br />

Skizze. Sie geht von den Ersche<strong>in</strong>ungsformen<br />

christlicher Mystik aus. Die knappe Übersicht<br />

„Christliche Mystik“ von Volker Lepp<strong>in</strong> (2007), aber<br />

auch Dorothee Sölles Buch „Mystik und Widerstand“<br />

(1997) haben dazu angeregt; auch das<br />

Werk „Gott 9.0“ von Marion und Werner Küstenma-<br />

20


cher (2010, 3.Auflage 2011) soll mit bedacht werden.<br />

E<strong>in</strong>ige Grundzüge mystischer Spiritualität im Christentum<br />

In der christlichen Tradition tritt das Substantiv<br />

„Mystik“ erst als „Kunstwort“ im Frankreich <strong>des</strong><br />

17.Jahrhunderts <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung. (Lepp<strong>in</strong> 7) Gewiss<br />

s<strong>in</strong>d das Verbum „Mye<strong>in</strong>“ (schließen) und das<br />

Adjektiv „Mystikos“ schon <strong>in</strong> der griechischen Antike<br />

geläufig. Damit s<strong>in</strong>d erste Anhaltspunkte geboten.<br />

Mystisch leben bedeute: die Augen schließen<br />

vor e<strong>in</strong>em Gewirr der S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke, sich sammeln,<br />

um so dem <strong>in</strong>neren Lebenszentrum näher zu<br />

kommen. Und: Mystik hat es mit den Geheimnissen<br />

zu tun, mit dem, was sich dem Augensche<strong>in</strong> und<br />

dem Hörensagen <strong>des</strong> Alltags entzieht.<br />

Aber was christliche Mystik <strong>in</strong> den Jahrhunderten<br />

<strong>des</strong> ersten und zweiten Jahrtausends besagte,<br />

kann nicht aus dieser Sprachherkunft herausgesponnen<br />

werden. Es führt weiter, auf e<strong>in</strong>ige der<br />

mystischen Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer vor der Reformation<br />

zu blicken, die sich als maßgebend und<br />

stilbildend e<strong>in</strong>geprägt haben. Volker Lepp<strong>in</strong> verweist<br />

im Osten auf das Werk <strong>des</strong> Unbekannten, der<br />

sich als „Dionysius“ vom Areopag vorstellt (Apostelgeschichte<br />

17,34) und doch erst <strong>in</strong>s 5. Jahrhundert<br />

gehört; dann auf die geistlichen Meister<br />

von Evagrius Pontikus bis zu Gregorius Palmas<br />

(1296-1359). Im Westen Bernhard von Clairvaux,<br />

dann die Franziskaner wie Bonaventura, Dom<strong>in</strong>ikaner<br />

wie Meister Eckhart und Johannes Tauber<br />

und He<strong>in</strong>rich Sause. Nicht zu vergessen die Frauen<br />

seit Hildegard von B<strong>in</strong>gen, Mechthild von Magdeburg<br />

und Margarete Porete. Doch der „mystische<br />

Strom“ (Otto Karrer) geht weiter durch alle Jahrhunderte<br />

der Neuzeit. Auch Edith Ste<strong>in</strong> (1891-<br />

1942), Dag Hammarskjöld (!905-1961), Roger<br />

Schutz (1915-2005) gehören zu ihnen, wenn „Mystik“<br />

nicht pr<strong>in</strong>zipiell von „Spiritualität“ abgehoben<br />

werden soll. Gibt es geme<strong>in</strong>same Züge, die diese<br />

geistlichen Gestalten mystischer Provenienz verb<strong>in</strong>det?<br />

Ihnen allen geht es um die <strong>in</strong>nige Verbundenheit<br />

und Geme<strong>in</strong>schaft mit dem, der Ziel ihrer Sehnsucht<br />

ist: mit der Wirklichkeit Gottes, der Nähe Jesu<br />

Christi, der Lebenskraft <strong>des</strong> Geistes. Aber Verbundenheit<br />

sagt noch zu wenig: die Mystiker me<strong>in</strong>en<br />

e<strong>in</strong>e reale E<strong>in</strong>heit, e<strong>in</strong>e wirkliche Vere<strong>in</strong>igung<br />

mit der Wirklichkeit Gottes. Sie ist ke<strong>in</strong> Ergebnis<br />

leidenschaftlicher Suche. Zuerst und zuletzt bedeutet<br />

Gott suchen die Entdeckung: von Ihm gefunden<br />

se<strong>in</strong>. Also pures Geschenk, Gnade für die <strong>in</strong> Widersprüche<br />

verstrickte Menschenseele. Die Mystik<br />

bezeugt: das Heilsziel der Gottesgeme<strong>in</strong>schaft wird<br />

schon auf dem Weg geschenkt. Psalm 63,9 heißt<br />

es von dieser Geme<strong>in</strong>schaft: „Me<strong>in</strong>e Seele hängt<br />

an dir; de<strong>in</strong>e rechte Hand hält mich.“ Und Christus,<br />

auf den wir zu hoffen wagen, kommt unvorstellbar<br />

nahe. „Christus lebt <strong>in</strong> mir“. (Galater 2,20)<br />

Was die Mystiker zur Sprache br<strong>in</strong>gen, ersche<strong>in</strong>t<br />

ihnen als unfassbares Geschenk. Aber sie sehen<br />

dar<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Privileg. Weder was ihren sozialen Stand<br />

angeht, noch ihre persönliche Bildung. Gott auf<br />

Wegen der Mystik begegnen, schließt niemanden<br />

aus. Immer deutlicher wird <strong>in</strong> der Geschichte der<br />

Christenheit: der mystische Weg ist nicht den Klöstern<br />

vorbehalten. Neben der monastischen Mystik<br />

wird schon bei der franziskanischen und dom<strong>in</strong>ikanischen<br />

Bewegung immer stärker die weltliche<br />

Christusnachfolge wichtig. Die Reformation, aber<br />

auch katholische Erneuerungsbewegungen knüpfen<br />

seit dem 16.Jahrhundert daran an. Und vor<br />

allem: <strong>in</strong> der patriarchalischen Gesellschaft kommen<br />

ganz unverwechselbar Frauen zu Wort, e<strong>in</strong>e<br />

weibliche Mystik mit ihren eigenen Erlebniswelten.<br />

Die Mystik rüttelt an den festgefügten hierarchischen<br />

und ständischen Ordnungen.<br />

Erfahrungen auf dem Weg führen <strong>in</strong> das Zentrum<br />

der Mystik<br />

Zentral gehört zur Mystik das Thema der Erfahrung.<br />

Bernhard von Clairvaux sprach geradezu von<br />

der „Lehrmeister<strong>in</strong> Erfahrung“, „magistra experientia“<br />

(6. Predigt zum Hohen Lied). Mart<strong>in</strong> Luther<br />

rühmt die „sapientia experimentalis“ e<strong>in</strong>er Erfahrungs-Weisheit.<br />

(Anmerkung zu Tauber 1516). Die<br />

Mystiker wissen sich auf e<strong>in</strong>en unabsehbaren Weg,<br />

e<strong>in</strong>e Lebens-Fahrt geschickt. Das biblische Grundbild<br />

der Wüsten-Wanderung Israels steht dabei<br />

ebenso im H<strong>in</strong>tergrund wie das Weg-Motiv <strong>in</strong> den<br />

Evangelien, besonders beim Evangelisten Lukas.<br />

Bei anderen geistlichen Lehren dom<strong>in</strong>iert das Bild<br />

der „Leiter“ oder das der Treppe. Neun „Stufen“<br />

stellt Küstenmacher dar. Johannes Klimakus<br />

(7.Jahrhundert) zeigte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er „scala paradisi“,<br />

der „Leiter zum Paradies“, dreißig Stufen auf. Äußere<br />

Erkenntnisse <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> können ke<strong>in</strong> Ziel<br />

festlegen. Erfahrung bedeutet: auf weitere <strong>in</strong>dividuelle<br />

Wege gefasst bleiben, aber auch: das Äußere<br />

<strong>in</strong>s Innere, <strong>in</strong>s „Herz“ h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>wirken lassen. Ekstase<br />

und Unmittelbarkeit gehören zu diesem Weg.<br />

Innen die Mitte f<strong>in</strong>den<br />

Erfahrungen der Mystik führen nach <strong>in</strong>nen. Sie lassen<br />

e<strong>in</strong>en weiten Innenbereich entdecken, e<strong>in</strong>e<br />

Seelenwelt. Es geht darum, die Mitte zu f<strong>in</strong>den, den<br />

„Grund“ der Seele, „das Herz“, das „Gemüt“. Ohne<br />

die <strong>in</strong>nerliche Resonanz führen alle Außen- Erfahrungen<br />

nicht vorwärts. Es bedarf der <strong>in</strong>neren „Vertiefung“<br />

oder „Versenkung“. Das bedeutet ke<strong>in</strong>e<br />

21


Gleichgültigkeit gegenüber der Welt und den andern<br />

Menschen. In authentischer Mystik lässt sich<br />

Kontemplation nicht von Arbeit und Ethos trennen.<br />

Aber Innerlichkeit gehört zur Erfahrung <strong>des</strong> Weges.<br />

Darum hat auch das Gebet e<strong>in</strong>e zentrale Bedeutung:<br />

nicht nur als Bitte, Lob oder Klage. Sondern<br />

auch als „Herzensgebet“, das der Gegenwart Gottes<br />

im Herzen <strong>in</strong>ne wird und bleibt. Luther hat das<br />

Jesus-Wort Lukas 17,20 übersetzt: „das Reich Gottes<br />

ist <strong>in</strong>wendig <strong>in</strong> euch.“ Darauf haben sich mystische<br />

Autoren evangelischer Herkunft immer wieder<br />

berufen.<br />

Damit wird ke<strong>in</strong>eswegs das vorf<strong>in</strong>dliche Ego mit<br />

se<strong>in</strong>en triebhaften und süchtigen Seiten sanktioniert.<br />

E<strong>in</strong>es der zentralen Worte heißt Wandlung.<br />

Die Mystik ist angetrieben von dem Verlangen, das<br />

oberflächliche Ich überw<strong>in</strong>den zu lassen. Es gilt,<br />

das Herz zu re<strong>in</strong>igen, die Augen der Seele zu läutern,<br />

um empfänglich zu werden für die schöpferische<br />

E<strong>in</strong>wirkung und Anrede von oben. Ohne<br />

schmerzliche Selbsterkenntnis, ohne Konfrontation<br />

mit den eigenen Schatten und Süchten, bleibt alle<br />

verme<strong>in</strong>tliche Erhebung zu Gott nichts als Illusion.<br />

Der Prozess solcher Wandlung kommt dabei niemals<br />

zum Abschluss. Wann immer die Seligkeit der<br />

Gottesgeme<strong>in</strong>schaft erfahren wird, – die Schau <strong>des</strong><br />

„Taborlichtes“ – , Mystiker<strong>in</strong>nen und Mystiker wissen<br />

dann um den befristeten und vorläufigen Charakter.<br />

Es gilt, immer neu vom Berg der Verklärung<br />

herabzusteigen und den Aufgaben am Fuße <strong>des</strong><br />

Bergs standzuhalten. (Matthäus 17).<br />

Unsagbares sagen<br />

Schließlich treffen wir <strong>in</strong> den mystischen Texten auf<br />

e<strong>in</strong>e gewagte Sprache. Sie versuchen Zeugnis zu<br />

geben von dem, was eigentlich die übliche Verständigung<br />

übersteigt. Sie sprechen vom Unsagbaren.<br />

Darum gehen sie ständig über die konventionelle<br />

Kirchensprache h<strong>in</strong>aus. Sie verirren sich dabei<br />

<strong>in</strong> Paradoxien: e<strong>in</strong> „stilles Geschrei“, „e<strong>in</strong> namenloses<br />

Nichts“. Meister Eckhart me<strong>in</strong>t: „Da hörte<br />

ich ohne Laut, da sah ich ohne Licht, da roch ich<br />

ohne Bewegen, da schmeckte ich das, was nicht<br />

war, da spürte ich das, was nicht bestand“. E<strong>in</strong>e<br />

ekstatische, entrückte, zuweilen wie stammelnde<br />

Rede. Das zeigt sich auch <strong>in</strong> der Präsenz e<strong>in</strong>er<br />

gewagten „Liebessprache“, die sich vor allem am<br />

Hohen Lied Salomos entzündet. Diese Sammlung<br />

irdischer Liebeslieder lesen Mystiker, seit Origenes<br />

(gestorben 254), auch als Zwiegespräch Gottes mit<br />

se<strong>in</strong>em Volk, ja der e<strong>in</strong>zelnen Seele. Bernhard von<br />

Clairvaux hat darüber 86 Predigten gehalten und<br />

kam dabei nur bis zum Beg<strong>in</strong>n <strong>des</strong> dritten Kapitels<br />

<strong>des</strong> Hohen Lieds. Mechthild von Magdeburg (1210-<br />

1282) und Johannes vom Kreuz (1542-1591) bezeugen<br />

e<strong>in</strong>e Vitalität solcher Liebespoesie. Sie<br />

f<strong>in</strong>det immer neue Sprachgestaltungen bis zur Gegenwart.<br />

Wandlungen im Gottesbild<br />

Was kann Mystik bedeuten für e<strong>in</strong>e Erneuerung<br />

<strong>des</strong> Gottesbil<strong>des</strong>? Das ist e<strong>in</strong>e riskante Frage.<br />

Gehört es doch zu den Grundgeboten Israels: „Du<br />

sollst dir ke<strong>in</strong> Bildnis noch irgend e<strong>in</strong> Gleichnis machen.“<br />

(2. Mose 20,4) Die Rede von „Gottesbildern“<br />

sche<strong>in</strong>t so durch die zehn Gebote von vornehere<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> Frage gestellt. Der Gott, der Mose am Dornbusch<br />

anredet, entzieht sich mit se<strong>in</strong>em „Ich werde<br />

se<strong>in</strong>, der ich se<strong>in</strong> werde“ aller bildhaften Fixierung.<br />

(2. Mose 3,14) So geht durch das alte Testament<br />

selber, <strong>in</strong> der Tora wie bei den Propheten, e<strong>in</strong> „Bildersturm“,<br />

der die menschlichen Wunschbilder als<br />

„Götzen“ entlarvt und kritisiert. Die frühe Christenheit<br />

folgt dieser bildkritischen Spur. Sie lässt sich<br />

eher als „atheistisch“ schmähen als dem religiösen<br />

Kaiserkult zu folgen. Auch die Aufnahme der kritischen<br />

Philosophie der Griechen dient der Überw<strong>in</strong>dung<br />

anthropomorpher Gottesbilder. Das Bekenntnis<br />

zum E<strong>in</strong>en Gott <strong>in</strong> „drei Personen“ übersteigt<br />

zudem e<strong>in</strong>en allzu gegenständlichen Personbegriff.<br />

Auf der andern Seite spricht die Bibel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vielzahl<br />

von Bildern von Gott. Gerade die Propheten<br />

br<strong>in</strong>gen den unverfügbar heiligen Gott <strong>in</strong> Gleichnissen<br />

zur Sprache. Jesus lehrt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Grundgebet,<br />

den Gott <strong>des</strong> Himmels als unsern „Vater“ anzusprechen.<br />

Im apostolischen <strong>Glaubens</strong>bekenntnis<br />

werden wir ermutigt, den „Schöpfer <strong>des</strong> Himmels<br />

und der Erde“ als „Gott den Vater“ zu verehren. Die<br />

orthodoxe Kirche hat nach langen Kämpfen, auch<br />

im Gegenüber zum Islam, 787 das Recht der Ikonenverehrung<br />

ausdrücklich verteidigt.<br />

So f<strong>in</strong>den wir <strong>in</strong> der Geschichte der Christenheit e<strong>in</strong><br />

komplexes Mite<strong>in</strong>ander von Bilderkritik und Bildgebrauch.<br />

In der frühen Neuzeit widersetzt sich Luther<br />

weniger den äußern Bildern und Skulpturen <strong>in</strong><br />

den Kirchenräumen. Um so radikaler trifft se<strong>in</strong>e<br />

Kritik die <strong>in</strong>neren Angstvorstellungen e<strong>in</strong>es fordernd-strafenden<br />

Gottes, der den Menschen von<br />

se<strong>in</strong>en religiösen Leistungen her betrachtet; dagegen<br />

setzt er von neuem den Gott der bed<strong>in</strong>gungslosen<br />

Gnade. Die Provokationen der Aufklärung<br />

führen auch <strong>in</strong> der christlichen Theologie zu e<strong>in</strong>er<br />

neuen Vorsicht gegenüber unbedachten Gottesbildern.<br />

Schleiermacher zeigt, wie im frommen<br />

Selbstbewusstse<strong>in</strong> „das eigne Se<strong>in</strong> und das unendliche<br />

Se<strong>in</strong> Gottes E<strong>in</strong>es se<strong>in</strong> kann.“(Der christliche<br />

Glaube,1830, §32) Die Theologien Karl Barths,<br />

Rudolf Bultmanns, Paul Tillichs lassen sich als Versuche<br />

lesen, der neuzeitlichen Bildkritik am<br />

Gottesglauben überzeugend zu antworten. So<br />

wäre es e<strong>in</strong>e Preisgabe theologischer Erkenntnis,<br />

22


wenn erst von mystischer Gottesbegegnung der<br />

entscheidende Durchbruch zu e<strong>in</strong>em verantwortbaren<br />

Gottesbild erwartet würde. Trotzdem wird die<br />

Fragestellung künftig noch dr<strong>in</strong>glicher werden:<br />

Welchen besonderen Beitrag kann die Mystik zur<br />

Rede und zum Bild von Gott h<strong>in</strong>zufügen?<br />

Mystik vertritt das Ine<strong>in</strong>ander von persönlichen und<br />

überpersönlichen Zügen Gottes.<br />

E<strong>in</strong> wichtiger Beitrag ist vor allem, dass die Mystik<br />

das Ine<strong>in</strong>ander von persönlichen und überpersönlichen<br />

Zügen Gottes vertritt. Gott ist nie nur das<br />

väterlich-mütterliche Du, sondern begegnet auch <strong>in</strong><br />

der Metaphorik von Licht und Feuer, von Quelle<br />

und Meer, von Grund und Abgrund. Das lässt sich<br />

sogar bis <strong>in</strong> Lieder verfolgen, die <strong>in</strong> unser Gesangbuch<br />

E<strong>in</strong>gang gefunden haben: „Luft, die alles füllet,<br />

dr<strong>in</strong> wir immer schweben, aller D<strong>in</strong>ge Grund<br />

und Leben,/ Meer ohn’ Grund und Ende, Wunder<br />

aller Wunder: ich senk mich <strong>in</strong> dich h<strong>in</strong>unter.“(Gerhard<br />

Tersteegen EG 165,5) Aber die<br />

variantenreiche nichtpersonale Bilder-Symbolik<br />

muss überstiegen werden. Schon „Dionysius“<br />

konnte herausarbeiten, dass Gott über die direkten<br />

Bildaussagen h<strong>in</strong>aus treibt: auf e<strong>in</strong>e “via negationis<br />

und „em<strong>in</strong>entiae“.<br />

„Mystiker s<strong>in</strong>d Tiefseetaucher <strong>des</strong> Bewusstse<strong>in</strong>s“.(Küstenmacher<br />

<strong>in</strong> „Gott 9.0“) Gewiss s<strong>in</strong>d<br />

solche Weiterführungen immer wieder auch Erkenntnisse<br />

der Theologie geworden, auch <strong>in</strong> den<br />

großen Entwürfen <strong>des</strong> 20.Jahrhunderts. Doch die<br />

Zeugen der Mystik haben ihre Erkenntnis mit dem<br />

Gewicht und der Leidenschaft eigener Erfahrung<br />

sozusagen beglaubigt.<br />

Die mystische Erfahrung spricht von der Gegenwart,<br />

der puren Präsenz Gottes und von dem „Heute“<br />

Christi. Der Zeitabstand zwischen dem Glauben<br />

heute und den biblischen Zeugnissen damals hat<br />

ke<strong>in</strong>e letzte Beunruhigung. „Es kommt e<strong>in</strong> Schiff<br />

geladen bis an se<strong>in</strong> höchsten Bord“. So heißt es <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Lied <strong>in</strong> der Tradition Johannes Taulers.<br />

(<strong>Evangelische</strong>s Gesangbuch 12) „Der garstige<br />

Graben“ zwischen Vergangenheit und Gegenwart,<br />

der Less<strong>in</strong>g quälte, ist für das mystischen Bewusstse<strong>in</strong><br />

immer überw<strong>in</strong>dbar. Der wahre Gott<br />

muss nicht mühsam aus vergangenen Erzählungen<br />

verbürgt werden; er lässt sich immer im Heute, im<br />

Jetzt, im Alltäglichen erfahren. Der gegenwärtige<br />

Augenblick wird zum Tor für die Wirklichkeit Gottes.<br />

Zugleich hat diese Gegenwart e<strong>in</strong>en „räumlichen“<br />

S<strong>in</strong>n. Gott lässt sich nicht erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er himmlischen<br />

Überwelt, sondern ganz nahe, <strong>in</strong> den gewöhnlichen<br />

D<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong> nächster Nähe erfahren. So ermuntern<br />

die Mystiker zu e<strong>in</strong>em Leben <strong>in</strong> der Gegenwart<br />

Gottes.<br />

Sie s<strong>in</strong>d es, die e<strong>in</strong>erseits mit der radikalen Transzendenz<br />

der Gottheit ernst machen und an der<br />

ebenso radikalen Immanenz festhalten. Gott entzieht<br />

sich den höchsten Zuschreibungen und kann<br />

doch <strong>in</strong> nächster Nähe erspürt werden. Dort, wo<br />

alle Bilder versagen und die schönsten Vorstellungen<br />

zerbrechen, halten die Mystiker dem „unbekannten,“<br />

dem „dunklen“, dem „verborgenen“ und<br />

„sich entziehenden“ Gott die Treue. In e<strong>in</strong>er Liebe,<br />

die nichts für sich selber profitieren will, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

“Umsonst”, das aber radikal dem “Umsonst” der<br />

Liebe Gottes Recht gibt. Dem entspricht auch der<br />

Primat <strong>des</strong> Gotteslobs, der Rühmung Christi, über<br />

alle erlittenen und auferlegten Kalamitäten h<strong>in</strong>weg.<br />

Die Karmelit<strong>in</strong> Therese von Lisieux (1873-1897)<br />

wiederholte bis zu ihrem frühen Sterben den Satz:<br />

„Ich bereue es nicht, mich der Liebe ausgeliefert zu<br />

haben.“. Ja: In der Spannung von Liebe und Macht<br />

Gottes, zwischen Erbarmen und heiliger Souveränität<br />

halten sich die Mystiker an den Primat der Liebe<br />

und <strong>des</strong> Erbarmens. Das zeigt nicht nur die Dom<strong>in</strong>anz<br />

e<strong>in</strong>er riskanten Liebessprache, die sich vor<br />

den erotischen Bildern <strong>des</strong> Hohen Lie<strong>des</strong> nicht<br />

scheut. Gerade die Bereitschaft, Gott „<strong>in</strong> allen D<strong>in</strong>gen“<br />

zu suchen, macht nicht nur die Freude, sondern<br />

auch das unverständliche Leiden zum Ort<br />

möglicher mystischer Erfahrung. (Sölle)<br />

Die E<strong>in</strong>heit mit Gott, mit Christus, die Mystiker ersehnen<br />

und erfahren, stellt das Gegenüber von<br />

menschlichem Ich und göttlichem Du <strong>in</strong> Frage. Sie<br />

widerspricht e<strong>in</strong>er „Objektivierung“, e<strong>in</strong>er Vergegenständlichung<br />

Gottes. Gott „<strong>in</strong> uns“ und „über<br />

uns“ .gehören zue<strong>in</strong>ander. Die menschliche Seele<br />

„<strong>in</strong> Gott“ glaubt sich <strong>in</strong> die göttliche Sphäre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogen,<br />

erlebt sich als „gottfarben“ oder „gottförmig“.<br />

Ja, noch mehr: In den mystischen Texten<br />

begegnen Aussagen, die nach e<strong>in</strong>er teilweisen<br />

Identifikation von Gott und Mensch kl<strong>in</strong>gen. Gott<br />

sche<strong>in</strong>t sich von der Zuneigung <strong>des</strong> Menschen abhängig<br />

zu machen. Angelus Silesius formulierte:<br />

„Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht e<strong>in</strong> Nu kann<br />

leben./ Werd ich zunichte, er muss vor Not den<br />

Geist aufgeben.“ Das muss nicht als blasphemisch<br />

abgewehrt werden. Man darf dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ungeheure<br />

Aufrichtung und Erhöhung <strong>des</strong> Menschen sehen.<br />

Gefahren und Rückfragen<br />

Wer dem mystischen Zeugnis offen begegnet,<br />

muss Fragen nicht unterdrücken. Immer wieder<br />

waren im Mittelalter mystische Bewegungen unter<br />

Verdacht gestellt. Meister Eckhart wurde verurteilt,<br />

Margarete Porete gar h<strong>in</strong>gerichtet. Solche Widerstände<br />

haben <strong>in</strong> der Moderne die Mystik eher aufgewertet.<br />

Aber auch e<strong>in</strong>e reformatorisch orientierte<br />

Theologie richtete an die mystische Gottesrede<br />

kritische Fragen. Auch dann, wenn e<strong>in</strong>e Nähe zur<br />

Mystik ganz offenkundig bestand. Luther selber war<br />

23


von mystischen Anliegen, besonders <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Frühzeit, durchdrungen. Er war fasz<strong>in</strong>iert von den<br />

Predigten Johannes Taulers; selbst das Bild von<br />

„Braut und Bräutigam“ konnte er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Freiheitstraktat<br />

von 1520 positiv aufgreifen. Um so gewichtiger<br />

werden se<strong>in</strong>e Anfragen an e<strong>in</strong>e Mystik mit<br />

Zügen der „theologia gloriae“. Auch Schleiermacher<br />

ist die Mystik bei Novalis nahe vertraut. Trotzdem<br />

vertrat er e<strong>in</strong>e radikale Neu-Reflexion <strong>des</strong><br />

<strong>Glaubens</strong>. Karl Barth kannte e<strong>in</strong>e liberale Erlebnisfrömmigkeit,<br />

die er kritisch vom Wort Gottes <strong>in</strong> Frage<br />

stellte, durchaus aus der Nähe.<br />

Fragen können an alle Grundthesen mystischer<br />

Spiritualität gerichtet werden:<br />

Kann wirklich auf dieser Erde die bleibende<br />

Gott-Vere<strong>in</strong>igung versprochen werden?<br />

Genügt es, auf eigene Erfahrung zu bauen,<br />

statt im Glauben auch gegen die Erfahrung<br />

auszuharren?<br />

Reicht der Rekurs auf die <strong>in</strong>dividuelle Innerlichkeit<br />

aus, ohne die geschichtlichen Vorgaben<br />

<strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> zu achten?<br />

Bedeutet der Wandlungsweg e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>deutigen<br />

Aufstieg, der die vorher durchlaufenen<br />

Stufen entbehrlich macht?<br />

Kann das Wagnis e<strong>in</strong>er riskanten Liebessprache<br />

den vernünftigen Diskurs und die argumentative<br />

Verantwortung ersetzen?<br />

Solche Fragen verschärfen sich gerade bei den<br />

Beiträgen, <strong>in</strong> denen von der Mystik e<strong>in</strong>e Erneuerung<br />

<strong>des</strong> Gottesbil<strong>des</strong> erwartet wird. Jörg Z<strong>in</strong>k, der<br />

so hilfreich die Offenheit zu anderen mystischen<br />

Erfahrungen vertritt, betont gleichwohl: „Es ist<br />

Gott. Der Heilige, der Ferne, der unendlich Nahe,<br />

der nie mit mir zusammenfließt, auch wenn er ‚<strong>in</strong><br />

mir wohnt’. Der Krug wird nie zu Wasser. Er kann<br />

mit Wasser gefüllt und von Wasser umgeben se<strong>in</strong>,<br />

er wird nie etwas anderes se<strong>in</strong> als der Krug.“ (Die<br />

goldene Schnur, 2008,237) Kann die pr<strong>in</strong>zipielle<br />

Überschreitung e<strong>in</strong>es personalen Gottesbilds möglich<br />

se<strong>in</strong>, ohne Christus als „Angesicht“ <strong>des</strong> unsichtbaren<br />

Gottes, als Zentrum und Quelle aufzugeben?<br />

Und kann die Erfahrung <strong>des</strong> „Christus <strong>in</strong><br />

uns“, der “Vere<strong>in</strong>igung mit Gott“ jemals den Unterschied<br />

von Schöpfer und Geschöpf, von Versöhner<br />

und Sünder preisgeben?<br />

Neue Chancen mystischen <strong>Glaubens</strong><br />

Mit solchen nur angedeuteten Rückfragen ist die<br />

mystische Bewegung ke<strong>in</strong>eswegs beiseite geschoben.<br />

Im besten S<strong>in</strong>n verstanden hilft sie, die überlieferten<br />

Gottesbilder zu entlasten, zu läutern und<br />

neu zu entdecken. Das sei <strong>in</strong> vier Thesen knapp<br />

zur Diskussion gestellt.<br />

•<br />

Mystik bewahrt davor, sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Aktivismus<br />

<strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> zu verlieren.<br />

Erst aus <strong>in</strong>nerer Ruhe und e<strong>in</strong>er gründlichen Gott-<br />

Verbundenheit heraus kann christliches Handeln<br />

der Selbstüberforderung und dem Leerlauf entgehen-<br />

Ohne dem Auftrag zur Arbeit an der politischen<br />

Befreiung abzuschwören, nimmt D. Sölle<br />

„Mystik“ zum Widerstand h<strong>in</strong>zu, ja deutet „Mystik“<br />

als Kraft <strong>des</strong> gebotenen Widerstands. Damit bleibt<br />

die Mystik auch sehr nahe bei dem, was die Reformation,<br />

gegen alle Leistungsgerechtigkeit, neu<br />

ans Licht brachte: die Rechtfertigung aus Gnade.<br />

Mystik ermutigt „Gelassenheit“ und e<strong>in</strong> „Gebet der<br />

Ruhe“. So hat es e<strong>in</strong>e tiefe Bedeutung, dass das<br />

ostkirchliche „Herzensgebet“ im Westen so weite<br />

Verbreitung f<strong>in</strong>det.<br />

•<br />

Mystik kann aber auch davor schützen, dass die<br />

notwendigen Klärungen im Gottesbild an der <strong>in</strong>tellektuellen<br />

Oberfläche bleiben.<br />

„Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an<br />

e<strong>in</strong>em gedachten Gott; denn wenn der Gedanke<br />

vergeht, so vergeht auch der Gott.“ (Meister Eckart,<br />

Reden der Unterweisung, Qu<strong>in</strong>t S.60) Es ist e<strong>in</strong>e<br />

der anregendsten Seiten <strong>in</strong> dem Buch „Gott 9.0“,<br />

dass es die Stufen gewandelter Gottesbilder <strong>in</strong><br />

Kontakt hält mit mystischen Erfahrungen und Zuständen.<br />

Neben die neun Stufen solcher Gottesbilder<br />

werden vier Zustände der Selbsterfahrung <strong>in</strong><br />

„Achtsamkeit“, „Meditation“, „Kontemplation“ und<br />

„Verklärung“ gestellt und das Ziel <strong>des</strong> Buches wird<br />

auf die Formel gebracht: „Religiös aufgeklärt dank<br />

Stufen, spirituell erfahren dank Zuständen“. Die<br />

geistige, die theologische Debatte um tragfähige<br />

Gottesbilder bleibt unentbehrlich; die Mystik gibt<br />

ihnen das Gewicht der eigenen Erfahrung. Dabei<br />

bleibt der Mystik mehr, als Küstenmacher u.a. zeigen,<br />

bewusst, dass frühe Stufen <strong>des</strong> Gottesbil<strong>des</strong><br />

nicht e<strong>in</strong>fach überholbar s<strong>in</strong>d. Das Grundvertrauen<br />

und die Allverbundenheit <strong>des</strong> kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong><strong>des</strong> bleiben<br />

<strong>in</strong> gewandelter Form auch für den kritischen<br />

erwachsenen Gottesbezug wesentlich. Darauf<br />

deutet e<strong>in</strong> mehrfach bezeugtes Wort Jesu: „Wer<br />

das Reich Gottes nicht empfängt wie e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, der<br />

wird nicht h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>kommen.“(Markus 10,15) E<strong>in</strong> erwachsener<br />

Glaube hat es nicht nötig, die Geborgenheit<br />

im „Grund <strong>des</strong> Lebens“ zu verleugnen.<br />

•<br />

Mystik er<strong>in</strong>nert an die dem Menschen geschenk-<br />

te Hoheit und Würde.<br />

Was kann größer se<strong>in</strong>, als mit dem vere<strong>in</strong>igt se<strong>in</strong>,<br />

der Quelle und Grund alles Lebens ist? Was führt<br />

24


höher h<strong>in</strong>auf als zu vertrauen: „Christus lebt <strong>in</strong><br />

mir“? Was alle als Ziel <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> erhoffen und<br />

ersehnen, wird Mystiker<strong>in</strong>nen und Mystikern schon<br />

auf dem Weg geschenkt: die Gegenwart der „Verklärung“,<br />

der <strong>in</strong>nersten Ruhe und Stille. Freilich<br />

nicht ohne schmerzhafte Wandlungs- und Umkehrprozesse,<br />

die gerade <strong>in</strong> der besonders glaubhaften<br />

Mystik nicht aufhören. Insofern gibt authentische<br />

Mystik nichts anderes als was F. Steffensky<br />

„Schwarzbrot Spiritualität“ nennt. Johannes Tauber<br />

bleibt denen nah, die sich mit den Widrigkeiten auf<br />

dem Weg plagen und immer wieder <strong>in</strong> „getrenge“<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geraten. Luther setzt bei se<strong>in</strong>en Weisen <strong>des</strong><br />

Bibelumgangs nach „meditatio“ und „oratio“, gegen<br />

alle übliche Tradition, an die höchste Stelle nicht<br />

„contemplatio“, sondern „tentatio“, die Anfechtung,<br />

die Bedrängnis. Mystik hält es aus, mit dem „unbegreiflichen“,<br />

dem „dunklen“ Gott zu leben.<br />

•<br />

Mystik ist e<strong>in</strong>e Schule der Weitherzigkeit, der<br />

religiösen Toleranz.<br />

Hier war bisher vor allem von christlichen Traditionen<br />

der Mystik die Rede. Hier s<strong>in</strong>d Schätze zu entdecken,<br />

die immer noch weith<strong>in</strong> nicht bekannt s<strong>in</strong>d.<br />

Sie können im 21.Jahrhundert neu gehoben werden.<br />

Aber wer die mystische Dynamik im christlichen<br />

Glauben kennen lernt, wird auch frei und unvore<strong>in</strong>genommen<br />

den mystischen Bewegungen <strong>in</strong><br />

andern Religionen begegnen. Er wird Ähnlichkeiten<br />

entdecken und nicht voreilig abstreiten, dass der<br />

Gott Israels derselbe ist, den Christen als Vater<br />

Jesu Christi bekennen. Gerade den östlichen Religionen<br />

gegenüber gilt es aber auch, behutsam zu<br />

se<strong>in</strong> mit der Behauptung e<strong>in</strong>er identischen Erfahrung.<br />

Der <strong>in</strong> <strong>in</strong>terreligiöser Spiritualität so erfahrene<br />

Benedikt<strong>in</strong>er Emmanuel Jungclaussen fasst zusammen:<br />

„Ich glaube, dass wir zu e<strong>in</strong>em überraschend<br />

großen Kernbestand an Geme<strong>in</strong>samkeiten<br />

vordr<strong>in</strong>gen können.“ Er me<strong>in</strong>t aber auch: „die Besonderheit<br />

<strong>des</strong> Christentums darf dabei nicht auf<br />

der Strecke bleiben...wo ke<strong>in</strong>e Reibung entsteht,<br />

kann auch ke<strong>in</strong> Funke überspr<strong>in</strong>gen. Und das herausstehende<br />

Merkmal <strong>des</strong> Christentums ist für<br />

mich die Gestalt Jesu Christi.“ (Der Strom <strong>des</strong> Lebens,<br />

2010,217) Den christlichen Glauben bis zur<br />

Inhaltslosigkeit entwerten, wird ke<strong>in</strong>e Vision für die<br />

Zukunft se<strong>in</strong>. Aber e<strong>in</strong> Weg, der uns lehrt, Gott „<strong>in</strong><br />

allen D<strong>in</strong>gen“ zu suchen, <strong>in</strong> der Gestalt Jesu Christi<br />

als Liebe zu f<strong>in</strong>den, wird auch imstande se<strong>in</strong>, Ihn <strong>in</strong><br />

andern Religionen zu suchen und für Ihn offen zu<br />

werden. Der <strong>in</strong>terreligiöse Dialog braucht den Austausch<br />

der Spiritualität, der mystischen Wege.<br />

Wege und Methoden zu mystischer Erfahrung<br />

Mystik ist ke<strong>in</strong>e Lehre, sondern Praxis und Zustand.<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich auch <strong>des</strong>halb gelangen nur<br />

wenige Gläubige <strong>in</strong> die Nähe mystischen Erlebens,<br />

weil die Methoden der Kontemplation und Meditation<br />

schwer zu erlernen und zu praktizieren s<strong>in</strong>d und<br />

viel Zeit kosten. Sie s<strong>in</strong>d aber ke<strong>in</strong>eswegs auf Klöster<br />

und Räucherstäbchen beschränkt. Diese<br />

<strong>Glaubens</strong>form steht nicht <strong>in</strong> der Gefahr, zu e<strong>in</strong>er<br />

exklusiven Esoterik zu werden. Vielmehr gibt es<br />

zahlreiche Methoden und Wege zu mystischer<br />

Erfahrung, die auch ohne e<strong>in</strong>schlägige Begabung<br />

ausprobiert werden können. Und die auch der sonstigen<br />

Lebensgestaltung neue Impulse geben können.<br />

Sie dienen (nach Berichten praktizierender<br />

Mystiker) der Selbstwahrnehmung und Gotteserfahrung<br />

und lassen höhere Wahrheit unmittelbar<br />

erfahren. Mystische Praxis vermittelt Bewusstse<strong>in</strong>serweiterung<br />

und Ahnung höherer Wirklichkeit,<br />

die über die Grenzen <strong>des</strong> Denkens h<strong>in</strong>ausreicht.<br />

Sie ergänzt das rationale Bewusstse<strong>in</strong> und die traditionelle<br />

Gläubigkeit. Genannt werden häufig Methoden<br />

der “Meditation”, der “Entspannung”, “Verwunderung<br />

und Staunen”, “<strong>in</strong>nere Bilder erfahren”,<br />

“den <strong>in</strong>neren Spiegel re<strong>in</strong>igen”, die “Bilderlose<br />

Schau”, “Nicht-Gott und Nicht-Bild erfahren”, “Das<br />

Ich verschw<strong>in</strong>det”, “Gottes Auge ist me<strong>in</strong> Auge”,<br />

“E<strong>in</strong>sse<strong>in</strong> <strong>in</strong> Christus”.<br />

8. Was bewirkt Beten?<br />

Gerade weil es so viele unterschiedliche Arten,<br />

Formen und Bewertungen <strong>des</strong> Betens gibt, ist es<br />

wichtig, e<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition <strong>des</strong> Gebets zu versuchen.<br />

Auch nach den (zahlreichen!) Funktionen und<br />

Auswirkungen <strong>des</strong> Gebets ist zu fragen. Dazu gehören<br />

auch die Rückwirkungen <strong>des</strong> Gebets auf das<br />

Individuum und auf e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft. Zu welchem<br />

Gott wird gebetet? Die Antwort darauf fällt<br />

bei K<strong>in</strong>dern anders aus als bei Erwachsenen und<br />

alten Menschen. Die Berücksichtigung der Kritik<br />

am Gebet muss das Beten nicht erschweren oder<br />

verh<strong>in</strong>dern, sondern kann es bewusster werden<br />

lassen. Dafür gibt es e<strong>in</strong>en Praxisvorschlag.<br />

Was ist e<strong>in</strong> Gebet?<br />

Hier zunächst der Versuch e<strong>in</strong>er kurzen beschreibenden<br />

Antwort, danach noch zu e<strong>in</strong>igen religiösen<br />

Aspekten etwas ausführlicher:<br />

Gebet gibt es <strong>in</strong> allen Religionen, zu Gott, Göttern<br />

oder zu jenseitig gedachten Personen (z.B. Heiligen,<br />

Maria, Jesus); auch ohne Ansprechen e<strong>in</strong>es<br />

Gegenübers.<br />

Grundlage <strong>des</strong> Gebetes ist der Glaube, dass der<br />

Mensch mit Gott, das heißt mit e<strong>in</strong>er größeren<br />

Wirklichkeit lebt, <strong>in</strong> der er aufgehoben ist und die<br />

ihm helfen kann. Betende glauben, dass Gott sie<br />

hört und auf das Gebet reagiert.<br />

Im Gebet überschreitet der Mensch se<strong>in</strong> Ich und<br />

die Grenzen se<strong>in</strong>es Verstehens. Es ist Ausdruck<br />

25


von Freiheit, Offenheit und Verantwortung für me<strong>in</strong><br />

Tun und Lassen.<br />

E<strong>in</strong>zelheiten <strong>des</strong> Lebens werden im Gebet er<strong>in</strong>nert<br />

und <strong>in</strong> den Zusammenhang <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> gebracht.<br />

Durch Beten gew<strong>in</strong>nen Gläubige Abstand von sich<br />

selbst und vom Druck der Situation. Sie sammeln<br />

Kraft und pflegen auf diese Weise langfristig Wünsche<br />

und Bedürfnisse, die auch ziemlich häufig<br />

zunächst unerfüllbar ersche<strong>in</strong>en (z. B. Frieden,<br />

Gerechtigkeit). Betende f<strong>in</strong>den sich nicht mit der<br />

Wirklichkeit ab, sondern glauben, dass sie veränderbar<br />

ist.<br />

So dient das Gebet auch der Vorbereitung, Ausrichtung<br />

und Reflexion <strong>des</strong> Handelns.<br />

Gebet ist realistisch, weil der Mensch dar<strong>in</strong> unterscheidet<br />

zwischen dem, was er selbst tun kann,<br />

und dem, was nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Macht steht.<br />

Jesus hat zum Gebet ermutigt ("Bittet, so wird euch<br />

gegeben", Matthäus 7,7). Aber daraus lässt sich<br />

ke<strong>in</strong> Anspruch auf Erfüllung aller Gebete ableiten.<br />

Ohnmacht wird weniger als vernichtend, sondern<br />

durch Beten als erträglich erlebt.<br />

An den Gebeten e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen oder e<strong>in</strong>er Gruppe<br />

lässt sich erkennen, wonach das Leben ausgerichtet<br />

wird, am Erwerb von persönlichem Besitz,<br />

beruflichem Erfolg oder an humanitären Werten.<br />

Gebet kann viele Formen haben, von der kurzen,<br />

spontan selbstformulierten Bitte (früher "Stoßgebet"<br />

genannt) bis h<strong>in</strong> zu längeren und durch Gebrauch<br />

bekannten Gebeten, still für sich oder <strong>in</strong> Familie,<br />

Kirche und Gruppen, laut und alle<strong>in</strong> oder zusammen<br />

mit anderen.<br />

In feststehenden Formeln können Betende sich mit<br />

anderen treffen und sich selbst mit ihren eigenen<br />

Anliegen e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen. Auch Meditation, Gesang und<br />

Plakate bei Demonstrationen s<strong>in</strong>d oft Gebete.<br />

Zum (Anlass und) Inhalt <strong>des</strong> Betens kann fast alles<br />

werden: Bitte um kle<strong>in</strong>e und große D<strong>in</strong>ge, für andere<br />

und für alle, Dank, Gedenken, Klage, Bekenntnis,<br />

Frage, Antwort, Zugeben von Schuld, Staunen,<br />

Lob, Anerkennung (nicht aber Anweisung oder Belehrung).<br />

Als Vorlage für Gebete dienen das Vaterunser,<br />

Psalmen und Liederverse, Bücher mit Gebeten für<br />

besondere Situationen und Altersstufen, vom e<strong>in</strong>fachen<br />

K<strong>in</strong>dergebet bis zur kunstvollen Dichtung.<br />

Die Fähigkeit zu beten wird am besten zusammen<br />

mit anderen (z.B. den Eltern) als K<strong>in</strong>d gelernt, aber<br />

auch später kann es e<strong>in</strong>geübt und auch von jemandem<br />

probiert werden, der sich Gott nicht als<br />

Person vorstellt. Feste Zeiten oder Regeln haben<br />

sich als hilfreich erwiesen (z.B. am Morgen oder<br />

Abend, beim Essen oder zu Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Reise).<br />

Aber ihre E<strong>in</strong>haltung ist ebenso wenig wie Hände-<br />

falten oder Knien e<strong>in</strong> sicheres Kennzeichen für<br />

christliches Beten. Dieses muss sich vielmehr immer<br />

wieder neu aus dem ergeben, woraus der<br />

Glaube lebt.<br />

Wer den Wert <strong>des</strong> Gebetes für sich erfahren hat,<br />

wird andere dazu e<strong>in</strong>laden oder teilnehmen lassen.<br />

Zu welchem Gott wird gebetet?<br />

Jede Überlegung zum Gebet muss die Gottesvorstellung<br />

dah<strong>in</strong>ter klären. Gott wird oft als Ansprechpartner<br />

verstanden, der menschliche Züge<br />

trägt. Aber Gott ist für den Glauben auch die<br />

Macht, die außerhalb und zugleich <strong>in</strong> dieser Welt<br />

als letztbestimmende Instanz existiert. Unsere Vorstellungskraft,<br />

unsere Gedanken, können Gott nicht<br />

fassen.<br />

Mit dem Wort Gott wird die Überzeugung bezeichnet,<br />

dass e<strong>in</strong>e größere Wirklichkeit weit über unser<br />

Denken und Tun h<strong>in</strong>aus existiert. An sie richten<br />

sich unsere Erwartungen, unser Glaube, dass<br />

er/sie/es Möglichkeiten der Hilfe, Ergänzung und<br />

Erkenntnis bereithält. Das hat dann praktisch zur<br />

Folge, dass man sich auch wirklich auf se<strong>in</strong>en<br />

Glauben e<strong>in</strong>lässt. Diese Funktion <strong>des</strong> Gebetes ist<br />

jedenfalls nicht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie davon abhängig, ob<br />

das Wort Gott <strong>in</strong> der Anrede gebraucht wird oder<br />

nicht.<br />

Gott wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuzeitlichen Weltbild nicht als<br />

e<strong>in</strong>e willkürlich von außen <strong>in</strong>s Leben e<strong>in</strong>greifende<br />

Kraft angesehen. Deshalb darf e<strong>in</strong> Gebet nicht magisch<br />

missverstanden werden als wortreiches<br />

Bemühen <strong>des</strong> Beters, Gott zu e<strong>in</strong>em gewünschten<br />

„Handeln" zu veranlassen. E<strong>in</strong> Gebet setzt also<br />

nicht Gott <strong>in</strong> Bewegung, kann ihn nicht <strong>in</strong> Bewegung<br />

versetzen, sondern den Beter selbst (so der<br />

Theologe und Physiker Stadelmann; vgl. auch den<br />

Abschnitt „Gibt es e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wirken Gottes auf das<br />

Weltgeschehen?“ Seite .??..16).<br />

Die Sprache <strong>des</strong> Gebets mit dem Urgrund, der abgründigen<br />

Liebe, dem Umgreifenden und wie die<br />

Versuche alle lauten mögen, das Unsagbare zu<br />

benennen, ist uns noch gar nicht gegeben. Wir<br />

kennen nur die Sprache <strong>des</strong> Gebets <strong>in</strong> Worten, mit<br />

der wir auch untere<strong>in</strong>ander als Personen kommunizieren.<br />

Kann e<strong>in</strong>e Bitte wie „Und erlöse uns von<br />

dem Bösen“ an e<strong>in</strong>en „Urgrund“ gerichtet werden,<br />

ohne <strong>in</strong>s Bodenlose zu fallen? Manche tun das<br />

bereits und erfahren bei diesem Wunsch, dass zu<br />

se<strong>in</strong>er Erfüllung mehr helfen muss – und hilft! – als<br />

das, was im eigenen Lebenskreis da ist. Viele<br />

sprechen diese Bitte im Vaterunser aus und hoffen<br />

dabei auf den Beistand e<strong>in</strong>er größeren Macht, die<br />

ihnen die Kraft gibt, selbst dem Bösen zu widerstehen.<br />

So kann das Vaterunser auch gebetet werden,<br />

wenn man nicht an e<strong>in</strong>en persönlichen Gott analog<br />

zur Vaterfigur Michelangelos <strong>in</strong> der Sixt<strong>in</strong>ischen<br />

26


Kapelle glaubt, (Das muss nicht im Gegensatz und<br />

Widerspruch zur Kommunikation mit Gott als e<strong>in</strong>em<br />

persönlichen Wesen stehen).<br />

Wie immer Menschen sich das Göttliche, die größere<br />

Wirklichkeit, MEHR vorstellen, sie sprechen<br />

es an als Gegenüber und vertrauen darauf, von<br />

diesem verborgenen Gegenüber gehört zu werden<br />

v.a. <strong>in</strong> Gebet und Meditation. Und sie hoffen darauf<br />

Antwort zu erfahren – und erleben dies auch.<br />

Unsere Sprache ermöglicht uns die persönliche<br />

Kommunikation. Wir erlernen sie als K<strong>in</strong>der im Aufnehmen<br />

persönlicher Beziehung. Das prägt auch<br />

unsere vertrauende Kommunikation mit der Gottheit<br />

und legt uns e<strong>in</strong> Bild von ihr als Person nahe,<br />

die sich um jeden e<strong>in</strong>zelnen Menschen kümmert<br />

und <strong>in</strong> das Geschehen e<strong>in</strong>greift. „Den K<strong>in</strong>dheitsglauben<br />

verlieren“ kann darum e<strong>in</strong>em wirklichen<br />

Verlust gleichkommen, weil uns die natürlich erworbene<br />

Sprache versagt, sich an e<strong>in</strong> Gegenüber<br />

zu wenden, das wir uns als unpersönlich vorstellen<br />

wollen oder müssen. Das Idiom dafür erwerben wir<br />

nicht wie die Muttersprache, sondern müssen es<br />

wie e<strong>in</strong>e Fremdsprache erlernen, wenn nicht sogar<br />

der Vergleich mit dem Erlernen der Sprache der<br />

Mathematik angebracht ist. Wo und wie können<br />

wir diese Sprachform so gut erwerben, dass wir als<br />

Glaubende uns dar<strong>in</strong> glaubwürdig ausdrücken können?<br />

(„K<strong>in</strong>derglaube“ kann aber auch Erkenntnisfortschritte<br />

verh<strong>in</strong>dern. Deshalb sollte er behutsam<br />

zu e<strong>in</strong>em erwachsenen Verständnis weiterentwickelt<br />

werden, <strong>in</strong> dem er nicht abgeschafft, sondern<br />

gleichsam <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kern aufgehoben ist.)<br />

Beten als Ausdruck <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> – me<strong>in</strong>es <strong>Glaubens</strong><br />

Das Gebet ist für Gläubige e<strong>in</strong> Sprechen zu Gott,<br />

Gespräch mit Gott. Alles darf gesagt werden. Gott<br />

hört.<br />

E<strong>in</strong> Gebet kann e<strong>in</strong>e Bitte oder e<strong>in</strong> Wunsch se<strong>in</strong>,<br />

aber ist das alles? E<strong>in</strong> Gebet kann alles se<strong>in</strong>: E<strong>in</strong><br />

Lied, e<strong>in</strong>e Anrede, festgefügte oder freie Worte,<br />

sogar das ganze Leben kann e<strong>in</strong> Gebet se<strong>in</strong>. Es<br />

kommt auf die Haltung, auf die E<strong>in</strong>stellung zum<br />

Leben an. Glaube ich alle<strong>in</strong>iger Manager me<strong>in</strong>es<br />

Lebens zu se<strong>in</strong> und verstehe ich mich als autonome,<br />

selbstgenügsame Entität, dann wird es mir<br />

schwer fallen zu beten. Wenn ich me<strong>in</strong> Leben jedoch<br />

als Geschenk verstehe, entsteht e<strong>in</strong> Gefühl<br />

der Dankbarkeit. Ich will dem Grund danken, aus<br />

dem ich es empfange. Ich setze damit Gott voraus,<br />

egal wie ich ihn mir vorstelle.<br />

Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber,<br />

was e<strong>in</strong> Gebet ist. Das wirkt sich auf die Praxis <strong>des</strong><br />

Beten aus.<br />

Der e<strong>in</strong>zelne Mensch oder die Geme<strong>in</strong>schaft setzt<br />

sich <strong>in</strong> Beziehung zu Gott, dem letzten Grund <strong>des</strong><br />

Se<strong>in</strong>s. Die Rede zu Gott setzt das „Du“ auf der anderen<br />

Seite voraus. Gott wird dabei häufig menschlich<br />

gedacht. Er wird als Gesprächspartner verstanden,<br />

der auch um entsprechende Reaktionen<br />

gebeten werden kann. Dieses eng geführte personale<br />

Gebetsverständnis hat jedoch häufig zu Missverständnissen<br />

geführt. Für die Leistung e<strong>in</strong>es Gebetes<br />

erwarten viele genau die Gegengabe, die<br />

man sich wünscht. E<strong>in</strong> Gebet ist aber ke<strong>in</strong> Geschäft<br />

auf Gegenseitigkeit. Denn Gott, den wir mit<br />

dem Gebet auffordern oder bitten, dass er uns etwas<br />

gibt oder sich bei uns etwas ändert, ist ja auch<br />

der Geber der Situation, die wir verändern wollen.<br />

Auch das, was der Betende unangenehm erlebt<br />

und ‘wegbitten’ will, ist nicht ohne Gott zu denken.<br />

Wenn wir beten, verlassen wir uns auf Gott. Vielleicht<br />

können wir sowohl die Erfüllung der Bitte als<br />

auch die Nichterfüllung als Aufgabe im Leben annehmen.<br />

Das Gebet hat uns dann dabei gestärkt<br />

und die Richtung für unser Denken und Handeln<br />

gezeigt.<br />

Im Gebet suchen wir die Nähe zu Gott, beispielsweise<br />

<strong>in</strong> den Worten <strong>des</strong> Vaterunsers. Hier wird<br />

Gott als der Schöpfer, der Vater <strong>des</strong> Lebens angesprochen.<br />

Wir können aber auch zu Jesus beten. In<br />

ihm, dem Sohn, zeigt sich die menschliche Seite<br />

Gottes. In beiden Fällen ist jedoch die direkte Beziehung<br />

zu Gott entscheidend für den Glauben.<br />

Arten und Formen <strong>des</strong> Gebets<br />

Arten <strong>des</strong> Gebets<br />

Es gibt beim Gebet die Bitte, den Dank, die Fürbitte<br />

und das Lob, die Anbetung, aber auch die Klage.<br />

Die Bitte setzt (mehr oder weniger selbstverständlich)<br />

voraus, dass Gott daraufh<strong>in</strong> etwas tut, <strong>in</strong> den<br />

Geschehensablauf e<strong>in</strong>greift, etwas ändert. Es wird<br />

nach Erklärungen gesucht, wenn das nicht der Fall<br />

ist oder zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t. Wer nicht mit e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>greifen<br />

Gottes rechnet wird sich eher selbst etwas<br />

wünschen als Gott darum zu bitten.<br />

Das Dankgebet br<strong>in</strong>gt zum Ausdruck, dass viele<br />

Ereignisse, Lebens<strong>in</strong>halte, Menschen und D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong><br />

ihrem Dase<strong>in</strong> und Wert Gabe und Geschenk Gottes<br />

s<strong>in</strong>d, aus e<strong>in</strong>er größeren Wirklichkeit heraus<br />

entstanden und ke<strong>in</strong>eswegs vom Betenden selbst<br />

gemacht oder geschaffen.<br />

Fürbitte ist e<strong>in</strong> mitfühlen<strong>des</strong> Gedenken an andere<br />

Menschen mit dem Wunsch, dass ihnen aus dem<br />

größeren Zusammenhang <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> heraus<br />

Hilfe, Hoffnung und Gutes zukommt und zuteil wird.<br />

Lob und Anbetung br<strong>in</strong>gt Staunen, Ehrfurcht und<br />

Anerkennung für das wunderbare Leben, die Größe<br />

<strong>des</strong> Universums und die Schönheiten der<br />

Schöpfung zum Ausdruck. Sie s<strong>in</strong>d von den Arten<br />

27


<strong>des</strong> Gebets am wenigsten ich-bezogen oder fordernd.<br />

Das Gebet wird zur Klage über verme<strong>in</strong>tlich oder<br />

tatsächlich als unzumutbar erfahrenes Leid <strong>in</strong> der<br />

Zuversicht, dass auch im Leiden die Verb<strong>in</strong>dung<br />

zur größeren Wirklichkeit, zu Gott nicht abreißen<br />

muss (wie es vor allem auch Jesus selbst gezeigt<br />

hat).<br />

Anbetung ist Wahrnehmung und Anerkennung der<br />

Größe und Macht Gottes, aber auch se<strong>in</strong>er Schöpfung<br />

und se<strong>in</strong>er Liebe. Dank für eigenes Wohlergehen<br />

und Schicksal, Bitte, eigene Wünsche und<br />

Fürbitte treten dabei <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund.<br />

Das Gebet hat Rückwirkungen auf die Betenden.<br />

So zeigt sich an den Gebeten e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft,<br />

worauf es ihr ankommt, was ihr wichtig ist. Das<br />

verpflichtet.<br />

Zum Beispiel wird beim Tischgebet bewusst, erkannt<br />

und anerkannt, dass Essen und Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />

von weiter her kommen und durch e<strong>in</strong>en<br />

größeren Zusammenhang bed<strong>in</strong>gt s<strong>in</strong>d (vielleicht<br />

fällt dann auch manche Kritik am Essen oder am<br />

Personal anders aus).<br />

Außerdem wird angedeutet, dass Essen, Aufnehmen<br />

und Annehmen auch e<strong>in</strong>en Zweck haben:<br />

Kraft zu bekommen für die eigenen Aufgaben und<br />

dazu auch e<strong>in</strong>en Beitrag zur Erschließung der größeren<br />

Wirklichkeit zu leisten und diese damit selbst<br />

zu f<strong>in</strong>den: „Segne, Vater, diese Speise, uns zur<br />

Kraft und dir zum Preise". Das heißt übersetzt: Wie<br />

ist eigentlich das zu bewerten, was wir aus den uns<br />

zur Verfügung stehenden Lebensmitteln machen?<br />

Natürlich haben wir dafür gearbeitet — aber Dankbarkeit<br />

und Offenheit für den größeren Zusammenhang<br />

lässt noch MEHR erkennen. Das Essen wird<br />

durch das Gebet zum Modell; die hier angefangene<br />

Offenheit kann auf viele andere Stellen übertragen<br />

werden, z. B. wenn man sich nach dem Essen wieder<br />

<strong>in</strong> das Auto setzt, e<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>e bedient oder<br />

e<strong>in</strong>kaufen geht - auch da kommt MEHR auf uns zu<br />

als uns im Alltagsbetrieb bewusst wird (aber doch<br />

dann, wenn es dafür Anregung und Er<strong>in</strong>nerung<br />

gibt).<br />

Bei Feiern und Festen repräsentiert das Gebet die<br />

Offenheit für den größeren Zusammenhang. Man<br />

muss dafür nicht unbed<strong>in</strong>gt die gewohnte Form <strong>des</strong><br />

Gebetes, also die ausdrückliche Anrede Gottes,<br />

wählen. Wer bei der Vorbereitung der üblichen Ansprachen<br />

daran denkt, welche Aussagen In Gebeten<br />

vorkommen und wie sie auch hier entsprechend<br />

berücksichtigt werden können, der bietet<br />

den Zuhörern möglicherweise mit H<strong>in</strong>weisen auf<br />

H<strong>in</strong>tergrund und Zusammenhang <strong>des</strong> Anlasses<br />

Anregung zu tieferer Erkenntnis und Empf<strong>in</strong>dung.<br />

Formen <strong>des</strong> Gebetes:<br />

Wie die Inhalte so s<strong>in</strong>d auch die Formen <strong>des</strong> Gebetes<br />

vielfältig. Um nur e<strong>in</strong>ige zu nennen:<br />

Es gibt das Freie Gebet, alle<strong>in</strong> oder mit anderen,<br />

nach Vorlagen (aus der Literatur, der Bibel, <strong>in</strong> der<br />

Liturgie), im Lied, <strong>in</strong> Kunstwerken, <strong>in</strong> Gesten und<br />

Demonstrationen.<br />

In der Liturgie <strong>des</strong> Gottesdienstes hat das Gebet<br />

e<strong>in</strong>en festen Platz. Das wird bei positiver Wertschätzung<br />

von Gebet und Gottesdienst etwa so<br />

gesehen:<br />

„Zu Beg<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Gottesdienstes im E<strong>in</strong>gangsgebet<br />

spiegelt sich die Kirchenjahreszeit und ich werde<br />

persönlich aus me<strong>in</strong>em Alltag zu Gott geholt.<br />

Der anschließend gebetete Psalm beheimatet mich<br />

<strong>in</strong> der biblischen Gebetstradition mit den festgefügten<br />

Worten und Bildern.<br />

Das Fürbittengebet, nach der Predigt, verb<strong>in</strong>det<br />

mich mit me<strong>in</strong>en Nächsten und der ganzen Welt,<br />

ich bete mit anderen für Andere.“<br />

Funktionen <strong>des</strong> Gebets:<br />

Hier ist zu unterscheiden zwischen möglichen Wirkungen<br />

von Gebeten auf den Adressaten, auf die<br />

Beter selbst oder auf deren Umgebung.<br />

In der Religions- und Kirchengeschichte wurden<br />

zwar häufig Ereignissen im politischen, gesellschaftlichen<br />

und <strong>in</strong>dividuellen Bereich auf die Bitten<br />

an Gott zurückgeführt. Die Erwartung konkreter<br />

Hilfe Gottes durch E<strong>in</strong>wirken auf den Geschehensablauf<br />

als Reaktion auf Gebete ist aber nicht das<br />

Hauptkennzeichen und Motiv <strong>des</strong> christlichen Gebetes.<br />

Sie wird zudem auch durch die zunehmenden<br />

naturwissenschaftlichen Erkenntnisse verdrängt.<br />

Dagegen lassen sich aber sehr wohl Wirkungen<br />

<strong>des</strong> Gebets auf die Betenden selbst und deren<br />

Umgebung nennen:<br />

Entlastung<br />

Das Gebet hilft im Alltag. Es entlastet und ist Lebensbewältigung.<br />

Das Gebet kann dazu dienen,<br />

schwer überschaubare Situationen, Hoffnungen<br />

und Befürchtungen auszusprechen. Es wirkt dann<br />

entlastend. E<strong>in</strong> lautes oder stilles Vortragen verworrener<br />

oder schwieriger Gedanken ermöglicht<br />

Distanz zu sich selbst und verh<strong>in</strong>dert nutzloses<br />

Grübeln. Ordnung der Gedanken wird geschaffen.<br />

Im Gebet kommt es zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren Klärungsprozess,<br />

<strong>in</strong>dem neue Handlungsalternativen gesehen<br />

werden können. Es eröffnet e<strong>in</strong>e neue Welt.<br />

Im Gebet kann ich auch das eigene Ich zurücktreten<br />

lassen. Ich kann mir deutlich machen, dass fast<br />

alles, was geschieht, nicht von mir selbst gemacht<br />

wird.<br />

28


Durch Beten bekommt man Distanz zum Alltag und<br />

zu se<strong>in</strong>en Sorgen und Problemen. Es gel<strong>in</strong>gt, <strong>in</strong>nerlich<br />

e<strong>in</strong>en Schritt aus diesem Alltag herauszutreten<br />

und ihn aus e<strong>in</strong>er Außenperspektive zu betrachten.<br />

Damit verliert er die Macht uns zu vere<strong>in</strong>nahmen.<br />

Handlungshilfe<br />

Das Gebet befähigt zum Handeln. Es wird erzählt,<br />

dass zwei Bauern mit vollgeladenen Karren e<strong>in</strong>her<br />

kamen. Die Wege waren verschlammt und beide<br />

Karren fuhren sich fest. E<strong>in</strong>er der beiden Bauern<br />

war sehr fromm, er fiel sofort im Schlamm auf die<br />

Knie nieder und begann, Gott zu bitten, ihm zu helfen.<br />

Er betete und betete ohne Unterlass. Der andere<br />

schimpfte entsetzlich über das Unglück, versuchte<br />

aber, den Karren aus dem Dreck zu ziehen.<br />

Er betete leise, Gott möge ihm die Kraft geben, den<br />

Karren herauszuziehen. Er suchte sich Zweige und<br />

Blätter und Erde zusammen, legte sie unter die<br />

Räder und versuchte dann, den Karren herauszuziehen.<br />

Da stieg e<strong>in</strong> Engel aus der Höhe nieder.<br />

Zur Überraschung der beiden, g<strong>in</strong>g er zu dem<br />

Menschen, der geschimpft und gearbeitet hatte.<br />

Darauf wendete der andere verwirrt e<strong>in</strong>:<br />

,,Entschuldige, das muss e<strong>in</strong> Irrtum se<strong>in</strong>! Ich habe<br />

dich doch hernieder gebetet, komm mir zu Hilfe!"<br />

Aber der Engel sagte: ,,Ne<strong>in</strong> - die Hilfe gilt dem<br />

anderen. Gott hilft dem, der betet und arbeitet."<br />

Das Gebet ersetzt das eigene Handeln nicht. Es<br />

regt Handeln an – soweit möglich.<br />

So können Gläubige im Gebet ihr Handeln planen,<br />

korrigieren und an den Maßstäben und Erfordernissen<br />

e<strong>in</strong>er größeren Wirklichkeit orientieren.<br />

Dialog<br />

In der Psychologie wird die Bedeutung <strong>des</strong> „<strong>in</strong>neren<br />

Dialogs“ <strong>in</strong>sbesondere bei K<strong>in</strong>dern hervorgehoben.<br />

Gebete können den „<strong>in</strong>neren Dialog“ verstärken<br />

und <strong>in</strong>haltlich füllen. Die persönliche Wertorientierung<br />

und das Selbstbewusstse<strong>in</strong> wird durch<br />

solche Reflexionen entscheidend gefördert.<br />

Aneignung<br />

Das Gebet bietet den Gläubigen die Möglichkeit,<br />

die aus der Predigt oder sonstiger Verkündigung<br />

aufgenommenen Worte auch selbst zu verwenden<br />

und sich damit bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad anzueignen.<br />

Dadurch wurde es zur e<strong>in</strong>er der wichtigsten<br />

Übungen <strong>des</strong> (z. T. allerd<strong>in</strong>gs nur mitvollziehenden)<br />

Formulierens und Verbalisierens von <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halten,<br />

die es <strong>in</strong> früheren Zeiten ohne Bücher, Zeitungen<br />

und Massenmedien gab.<br />

Bewusstse<strong>in</strong>ssteigerung<br />

Das Gebet ist somit e<strong>in</strong>e umfangreiche, exemplarische<br />

Hervorhebung und Bewusstmachung von<br />

Ereignissen, Gedanken und Möglichkeiten. Wenn<br />

dabei auch e<strong>in</strong>e Auswahl getroffen werden muss,<br />

so gibt es doch grundsätzlich nichts, wozu nicht<br />

gebetet werden könnte.<br />

Schließlich vertieft und variiert das Gebet Erfahrungen,<br />

Ereignisse und Gedanken. Dadurch werden<br />

sie auch für zukünftige Verwendung bereitgestellt.<br />

Besonders deutlich wird das beim Dankgebet. Die<br />

Funktion <strong>des</strong> Dankes ist ja auch bei den zwischenmenschlichen<br />

Beziehungen nicht nur dar<strong>in</strong> zu<br />

sehen, dass dadurch gute Beziehungen zur Außenwelt,<br />

etwa zu den Gebern der empfangenen<br />

Gaben gepflegt werden. Vielmehr erlaubt Dankbarkeit<br />

auch e<strong>in</strong>e bewusste und unterscheidende Aufnahme<br />

der Ereignisse und Erfahrungen, um sie<br />

richtig e<strong>in</strong>zuordnen.<br />

Abstand durch Gebet<br />

Das Gebet ermöglicht dem Menschen auch, e<strong>in</strong>en<br />

gewissen Abstand zu se<strong>in</strong>er Situation e<strong>in</strong>zunehmen.<br />

Er wird von e<strong>in</strong>em entstandenen Handlungs-<br />

und Ambivalenzdruck entlastet, <strong>in</strong>dem er e<strong>in</strong>iges<br />

davon sozusagen Gott zuschiebt. Das mag <strong>in</strong> manchen<br />

Fällen als e<strong>in</strong>e Flucht vor der Realität <strong>in</strong> Verantwortungslosigkeit<br />

und Untätigkeit (Quietismus)<br />

ersche<strong>in</strong>en. Man sollte aber nicht übersehen, welche<br />

Bedeutung Beten — Händefalten! — <strong>in</strong> früheren<br />

Zeiten hatte, <strong>in</strong> denen die Menschen unter<br />

e<strong>in</strong>em ungeheuren Leistungsdruck standen. Der<br />

Existenzkampf g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt vor sich, die zu<br />

arm war, um die menschlichen Bedürfnisse ohne<br />

ständige E<strong>in</strong>schränkungen, Verzichte und Verzögerungen<br />

zu erfüllen und die meist leibeigene Bauern<br />

nur das Nötigste zum Leben für sich und ihre Familien<br />

beschaffen konnten.“<br />

Man kann das Beten mit der Arbeit e<strong>in</strong>es Ballonfahrers<br />

vergleichen. Will er an Höhe gew<strong>in</strong>nen, muss<br />

er Ballast abwerfen. Und genau das können wir im<br />

Gebet tun: Ballast abwerfen! Alles loslassen: Alle<br />

Bilder, alle Gedanken, alles, was uns heute geschehen<br />

ist, können wir loslassen, abgeben, zu<br />

Gott h<strong>in</strong>. Dann werden wir frei: Die Gedanken, die<br />

Erlebnisse von gestern können unseren Geist nun<br />

nicht mehr besetzen, so wie sie das immer getan<br />

haben.<br />

Realismus<br />

Wenn e<strong>in</strong> Mensch betet, dann unterscheidet er<br />

damit zunächst e<strong>in</strong>mal zwischen dem, was er<br />

selbst tun kann und dem, was nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Macht<br />

29


steht. Das ist im Grunde nichts anderes als Realismus<br />

und nüchterne Sachlichkeit. Es ist schon viel<br />

gewonnen, wenn das Unverfügbare im Gebet wenigstens<br />

benannt und abgegrenzt ist.<br />

Im Gebet wird jedenfalls — wie <strong>in</strong> der Wissenschaft<br />

— die Grenze <strong>des</strong>sen, was völlig unmöglich ersche<strong>in</strong>t,<br />

sehr weit h<strong>in</strong>ausgeschoben. Wenn Bitten<br />

an Gott gerichtet werden, so beziehen sie sich <strong>in</strong><br />

der Regel auf etwas, das der Mensch nach vernünftiger<br />

E<strong>in</strong>schätzung der Lage mit den ihm zur<br />

Verfügung stehenden Hilfsmitteln zur Zeit oder auf<br />

lange Sicht h<strong>in</strong> nicht realisieren kann, was er aber<br />

auch nicht aufgeben will.<br />

Willensbildung und Entscheidungsvorbereitung<br />

Wird im Zusammenhang mit wichtigen Entscheidungen<br />

gebetet, so kommt dies e<strong>in</strong>er längeren Offenhaltung<br />

gleich, was die E<strong>in</strong>beziehung weiterer<br />

Aspekte ermöglicht. Wenn für Notleidende gebetet<br />

wird, so wirkt das als Selbstverpflichtung auf die<br />

Betenden zurück. Das Fürbittengebet für Kranke<br />

und Gefangene zeigt und verstärkt die durch den<br />

Glauben begründete Geme<strong>in</strong>schaft. „Das Gebet<br />

bereitet den Menschen darauf vor, die Verantwortung<br />

für se<strong>in</strong>e Welt zu übernehmen"-<br />

Wenn das Beten helfen würde.....<br />

Hoffnung auf Hilfe ist immer noch e<strong>in</strong> starkes religiöses<br />

und psychologisches Motiv <strong>des</strong> Betens. Das<br />

Gebet ist <strong>in</strong> vielen Notlagen die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit,<br />

wenigstens etwas zu tun, wenn es auch nicht sofortige<br />

Abhilfe zur Folge hat. Hier wird Gott verstanden<br />

als e<strong>in</strong>er, der mehr oder weniger direkt <strong>in</strong> den<br />

Ablauf der Geschehnisse e<strong>in</strong>greift.<br />

Für den christlichen Glauben ist aber, wie oben<br />

schon erwähnt, die Hoffnung auf Erfüllung von<br />

Wünschen nicht das Hauptmotiv für das Beten. Es<br />

gibt andere gleichwertige und überzeugende Funktionen.<br />

So ist das Gebet e<strong>in</strong>e Möglichkeit, Form und<br />

Übung, von sich selbst weg zu denken, sich zu<br />

öffnen und offenzuhalten für den größeren Zusammenhang<br />

und die größere Wirklichkeit. Als<br />

Verhaltensweise ist das Gebet weitgehend unabhängig<br />

von äußeren Anlässen und Ereignissen und<br />

zu jeder Zeit und fast unter allen Umständen praktizierbar.<br />

Der Mensch gew<strong>in</strong>nt dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Abstand<br />

von sich selbst und von der Situation, <strong>in</strong> der er sich<br />

bef<strong>in</strong>det. Auf dem Umweg über das Gebet sieht der<br />

Mensch sich selbst im größeren Zusammenhang.<br />

Es hat für ihn die Wirkung e<strong>in</strong>es religiösen archimedischen<br />

Punktes. Jederzeit und ohne Begrenzung<br />

kann so mit e<strong>in</strong>em unendlichen Gesprächspartner<br />

geredet werden, dass jede Bewertung von<br />

Ereignissen, jede konkrete Situation und je<strong>des</strong> ei-<br />

gene Empf<strong>in</strong>den <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Licht ersche<strong>in</strong>t.<br />

Dadurch entsteht Freiheit.<br />

Betende wenden sich <strong>in</strong> ihrem Bewusstse<strong>in</strong> und<br />

Reden dem zu, was jenseits ihrer Grenzen liegt,<br />

was se<strong>in</strong>em Wesen nach nicht erreichbar ersche<strong>in</strong>t.<br />

In der christlichen Gebetspraxis kommt deutlich<br />

zum Ausdruck, dass das Gebet vielfach auch Reaktion<br />

auf etwas Erfahrenes, Gehörtes oder Gelesenes<br />

ist. Es stellt also e<strong>in</strong>e Wechselbeziehung zur<br />

Außenwelt her und <strong>in</strong>stitutionalisiert sie geradezu.<br />

Rückwirkungen <strong>des</strong> Gebetes auf e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft<br />

Zu beachten (und zu beobachten!) ist, dass das<br />

Gebet Rückwirkungen auf die Betenden hat. So<br />

zeigt sich z.B. an den Gebeten e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft,<br />

worauf es ihr ankommt, was ihr wichtig ist.<br />

So wird e<strong>in</strong>e zu politischen Zielen oder gegen Ungerechtigkeit<br />

betende Gruppe nur gewaltfrei agieren<br />

können.<br />

Geme<strong>in</strong>sam zum gleichen Gott betende Menschen<br />

haben normalerweise ke<strong>in</strong>e großen Unterschiede<br />

<strong>in</strong> ihrer gegenseitigen Wertschätzung.<br />

Gebetete Fürbitte kann die Bereitschaft zur Hilfe<br />

verstärken.<br />

Beten mit K<strong>in</strong>dern – warum und wie<br />

Beim Beten erlebt das K<strong>in</strong>d, dass es außer den<br />

Erwachsenen noch jemanden gibt, der <strong>in</strong> ihrem<br />

Leben wichtig ist. Dem man alles anvertrauen kann<br />

- gute und schlechte Erlebnisse. Das kann K<strong>in</strong>dern<br />

im Leben helfen und entlastet sie. Gott ist sogar<br />

jemand, zu dem man reden kann, wenn e<strong>in</strong>en ke<strong>in</strong><br />

Erwachsener versteht. Durch Beten erleben K<strong>in</strong>der<br />

die Gewissheit, nie alle<strong>in</strong>e zu se<strong>in</strong>: Gott ist da, zu<br />

ihm kann ich beten, mit ihm kann ich reden, ihn<br />

kann ich mit <strong>in</strong>s Leben h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> nehmen.<br />

Erwachsene, die mit ihren K<strong>in</strong>dern beten, vermitteln<br />

ihnen e<strong>in</strong>e Geborgenheit, die das ganze Leben<br />

tragen kann. Gleichzeitig erziehen sie ihre K<strong>in</strong>der<br />

aber auch zur Selbstständigkeit, denn das Gebet<br />

kann zu e<strong>in</strong>em Ort werden, an dem sich das K<strong>in</strong>d<br />

eigenständig und unabhängig von den Erwachsenen<br />

fühlt.<br />

Kritik am Gebet<br />

Folgende Argumente werden <strong>in</strong> der Kritik am Gebet<br />

häufig genannt:<br />

Durch das Gebet kann e<strong>in</strong>e Flucht vor der Realität<br />

versucht werden. Man f<strong>in</strong>det sich allzu<br />

leicht damit ab, dass die Welt nicht verändert<br />

30


werden kann. Das Gebet wird dann zur Ersatzhandlung.<br />

Das Gebet ist e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derung <strong>des</strong> Kräftepotentials,<br />

das für die Bewältigung anstehender Aufgaben<br />

verfügbar ist. Selbst e<strong>in</strong> möglicher psychologischer<br />

Erfolg entspricht nicht dem dafür<br />

notwendigen Aufwand.<br />

Durch das Vertrauen auf die Hilfe Gottes wird<br />

möglicherweise die Entwicklung von Wissen<br />

und Erkenntnis beh<strong>in</strong>dert, bis h<strong>in</strong> zum Beharren<br />

auf abergläubischen Vorurteilen (z. B. dass<br />

Gott direkt <strong>in</strong> den Ablauf <strong>des</strong> Naturgeschehens<br />

e<strong>in</strong>greifen könne bzw. wolle).<br />

Durch vorformulierte Gebete wird e<strong>in</strong>e vorgeformte<br />

Wertordnung übernommen und damit<br />

die geltende Herrschaftsstruktur anerkannt und<br />

verfestigt. Extreme Beispiele: Fürbitte für Diktatoren<br />

und Bitte um Kriegsgew<strong>in</strong>n.<br />

Durch die im Gebet vorausgesetzte Haltung der<br />

Demut und Unterordnung wird der Mensch <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividuellen und sozialen Entfaltung geh<strong>in</strong>dert.<br />

Durch die Fixierung auf das Gebet werden ke<strong>in</strong>e<br />

anderen, zeitgemäßen Ausdrucks- und Verhaltensformen<br />

entwickelt, welche ähnliche<br />

Funktionen wie das Gebet haben könnten.<br />

Diese Kritik ist für Christen e<strong>in</strong> willkommener Anlass,<br />

Theorie und Praxis <strong>des</strong> Gebetes immer wieder<br />

kritisch zu überprüfen. Das Gebet hat zu sehr<br />

den Charakter <strong>des</strong> Sakralen, Intimen und <strong>des</strong>halb<br />

Nicht-kritisierbaren bekommen. Aber ebenso wenig<br />

wie der Glaube nicht nur Sache e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen<br />

Menschen se<strong>in</strong> kann, so auch nicht das Gebet.<br />

Worum gerade gebetet wird und werden kann,<br />

muss zur Diskussion gestellt werden oder sich aus<br />

der umfassenden (und <strong>des</strong>halb notwendig auch<br />

geme<strong>in</strong>samen) Orientierung <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> ergeben.<br />

Andererseits kann darauf h<strong>in</strong>gewiesen werden,<br />

dass die kritisierten Folgen e<strong>in</strong>er bestimmten Gebetspraxis<br />

auch bei anderen, vergleichbaren Verhaltensformen<br />

auftreten können. Der Besuch e<strong>in</strong>es<br />

Filmes kann Flucht vor der Realität und Ersatzhandlung<br />

se<strong>in</strong>, ebenso die Lektüre e<strong>in</strong>er Zeitung<br />

oder das unverb<strong>in</strong>dliche Gespräch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft.<br />

Die Zukunft <strong>des</strong> Gebetes<br />

Hat das Gebet unter diesen Aspekten e<strong>in</strong>e unaufgebbare<br />

Bedeutung für den Glauben und e<strong>in</strong>e<br />

Chance für die Zukunft? Die Zukunft <strong>des</strong> Gebetes<br />

ist—wie das Gebet selbst – offen,<br />

Vielleicht werden sich auch die Funktionen <strong>des</strong><br />

Gebetes zum Teil auf andere Formen und Möglichkeiten<br />

verteilen. So erlauben z. B. Telefon und Verkehrsmittel<br />

oder auch soziale Netze heute die Wahl<br />

e<strong>in</strong>es realen und passenden Gesprächspartners,<br />

wo der Mensch früher auf sich selbst zurückgeworfen<br />

war (die Qualität der Offenheit kann ebenso <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Gebet wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gespräch mit e<strong>in</strong>em<br />

anderen Menschen bestimmend se<strong>in</strong>; der Glaube<br />

rechnet ja damit, dass Gott uns im Menschen begegnet).<br />

Tatsächlich ist festzustellen, dass es heute Menschen<br />

gibt, die den christlichen Glauben bejahen<br />

ohne ausdrücklich zu beten. Und Menschen, die<br />

beten und dem Christentum skeptisch gegenüberstehen.<br />

Gebetet wird heute außer <strong>in</strong>dividuell und <strong>in</strong> Gruppen<br />

auch öffentlich, bei E<strong>in</strong>weihungen, Gedenkfeiern<br />

u,ä., meist aber <strong>in</strong> der Kirche und bei kirchlichen<br />

Feiern. Auch <strong>in</strong> Zukunft?<br />

Praktischer Vorschlag:<br />

In e<strong>in</strong>er Gruppe wird aus den folgenden Karten,<br />

von denen jede/r e<strong>in</strong> Päckchen bekommt, jeweils<br />

e<strong>in</strong>e für Zustimmung oder Ablehnung ausgewählt<br />

und darüber diskutiert. Nach Möglichkeit wird als<br />

Ergebnis festgehalten, welche Karten ausgewählt<br />

und welche Argumente vorgetragen wurden. Bei<br />

e<strong>in</strong>igen Anwendungen dieser Methode haben die<br />

Teilnehmenden noch selbst Karten mit Aussagen<br />

bzw. Argumenten zum Gebet geschrieben und<br />

darüber diskutiert, ob und wenn ja welche Karten<br />

aus dem Anfangsangebot aussortiert werden sollten.<br />

31


1. Gebet ist Ausdruck für den Glauben,<br />

dass über mich selbst und andere Menschen<br />

h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e größere Wirklichkeit da<br />

ist, <strong>in</strong> der ich aufgehoben b<strong>in</strong>.<br />

2. Gebet ist vergleichbar mit der Erfahrung,<br />

dass, so wie das überall vorhandene<br />

und wirksame Magnetfeld der Erde die<br />

Nadel e<strong>in</strong>es Kompasses an e<strong>in</strong>em konkreten<br />

Ort bee<strong>in</strong>flusst und ausrichtet, auch<br />

e<strong>in</strong>e größere Wirklichkeit existiert, an der<br />

Menschen ihr Leben ausrichten können<br />

und sollen.<br />

3. Wer betet, denkt von sich weg und<br />

über das h<strong>in</strong>aus, was ihm bekannt ist und<br />

möglich ersche<strong>in</strong>t.<br />

4. Beten ist Ausdruck von Realitätss<strong>in</strong>n,<br />

weil es hilft zu unterscheiden zwischen<br />

dem, was e<strong>in</strong> Mensch selbst tun kann und<br />

dem, was nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Macht steht.<br />

5. Wer betet f<strong>in</strong>det sich nicht mit der Welt<br />

so ab, wie sie ist, sondern versteht sie als<br />

veränderbar.<br />

6. Das Gebet kann Wünsche und Wertungen<br />

korrigieren, weil sich durch die<br />

Beziehung auf Gott und den<br />

Zusammenhang <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> der<br />

subjektive Stellenwert der Wünsche verändert.<br />

Gegenüber Gott kann nach dem<br />

christlichen Glauben nicht egoistisch<br />

gebetet werden.<br />

7. E<strong>in</strong>e Gefahr <strong>des</strong> Gebetes kann dar<strong>in</strong><br />

liegen, dass es Flucht vor der Wirklichkeit<br />

se<strong>in</strong> kann und die eigenen Anstrengungen<br />

verm<strong>in</strong>dert.<br />

8.. Man kann auch ohne Gebet e<strong>in</strong> guter<br />

Christ se<strong>in</strong>.<br />

9. Jesus – wer war und wer ist das?<br />

Woher kommt das eigene Verständnis von Jesus?<br />

Es gibt Romane und historische Darstellungen<br />

über ihn, Filme, Musik, und das Neue Testament <strong>in</strong><br />

der Bibel, nicht zu vergessen die vielen Abbildungen<br />

und Kreuze <strong>in</strong> den Kirchen und die kirchliche<br />

Lehre. Aus all dem kann ausgewählt und das eigene<br />

Jesusbild geformt werden, das von „Jesus der<br />

Mensch“ bis h<strong>in</strong> zu „Gottes Sohn“ und Weltenrichter<br />

am Ende der Zeit reicht. Welche Bedeutung hat<br />

Jesus für den Glauben <strong>in</strong> dieser Zeit? Ist haupt<br />

9. Beten verhilft zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tensiven Erlebnis-<br />

und Bewusstse<strong>in</strong>ssteigerung. Die<br />

zurückliegenden Ereignisse werden dar<strong>in</strong><br />

noch e<strong>in</strong>mal vergegenwärtigt, <strong>in</strong> ihrem<br />

Wert erkannt und fester <strong>in</strong> der Er<strong>in</strong>nerung<br />

verankert.<br />

10. Das Gebet hilft, E<strong>in</strong>zelerfahrungen<br />

und -probleme <strong>in</strong> den Zusammenhang<br />

<strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> zu br<strong>in</strong>gen. Auf diese Weise<br />

dient es auch der E<strong>in</strong>heit der<br />

Persönlichkeit.<br />

11. Vorformulierte Gebete s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Rahmen,<br />

der zum E<strong>in</strong>tragen eigener Erfahrungen<br />

und Gefühle anregt.<br />

12. Geme<strong>in</strong>sames Gebet ist Anlass und<br />

Ausdruck der Willensbildung e<strong>in</strong>er Gruppe.<br />

Es zeigt, woran e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft<br />

liegt, wofür sie sich e<strong>in</strong>setzt.<br />

13. Das Gebet hilft, Abstand von sich<br />

selbst und vom Druck e<strong>in</strong>er Situation zu<br />

gew<strong>in</strong>nen.<br />

14. Das Dankgebet hält offen für die Tatsache,<br />

dass der überwiegende Teil me<strong>in</strong>es<br />

Lebens von außen kommt und nicht<br />

aus me<strong>in</strong>er eigenen Leistung. Es ist lebenswichtig,<br />

sich darauf immer wieder<br />

e<strong>in</strong>zustellen. Die Qualität <strong>des</strong> Lebens<br />

liegt dar<strong>in</strong>, dass es nicht selbstverständlich<br />

ist.<br />

15. Formulierungen von vielen Gebeten<br />

orientieren sich an überholten Weltordnungen<br />

(z.B. Obrigkeitsdenken, Glauben<br />

an Wunder).<br />

16. Die Möglichkeit zu beten ist nicht abhängig<br />

von der Anrede bzw. Annahme<br />

e<strong>in</strong>er persönlichen Gottes.<br />

sächlich se<strong>in</strong>e Lehre und das Vorbild se<strong>in</strong>es Lebens<br />

wichtig oder se<strong>in</strong> Tod als Opfer zur Vergebung<br />

der Sünden und se<strong>in</strong>e Auferstehung als Beg<strong>in</strong>n<br />

neuen Lebens?<br />

Jesus der Mensch<br />

Jesus war der Sohn von Maria und Josef, er hatte<br />

vier Brüder und e<strong>in</strong>ige Schwestern, se<strong>in</strong> Leben und<br />

Sterben s<strong>in</strong>d historisch belegt. Er war Jude und<br />

wurde während der letzten Regierungsjahre Hero-<br />

32


<strong>des</strong>’ <strong>des</strong> Großen geboren, <strong>in</strong> den Jahren 7 - 5 unserer<br />

Zeitrechnung. Er war von Beruf Bauarbeiter.<br />

Er kam <strong>in</strong> Kontakt mit der Taufbewegung (26/28 n.<br />

Chr.) und ließ sich taufen. Dieses Ereignis kam für<br />

ihn e<strong>in</strong>er Berufung gleich. Er wirkte ca. 3 Jahre und<br />

wurde vermutlich im Jahr 30 gekreuzigt.<br />

Jesus wurde als Lehrer, Wundertäter, Heiler gesehen.<br />

Er hat viele Menschen nachhaltig bee<strong>in</strong>druckt<br />

und bee<strong>in</strong>flusst. Er brachte den Menschen die Nähe<br />

Gottes und die Grundsätze se<strong>in</strong>es Willens (bei<strong>des</strong><br />

zusammen wird auch als „Reich Gottes“ bezeichnet).<br />

Jesus, der Mensch, stand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er besonderen,<br />

e<strong>in</strong>zigartigen Beziehung zu Gott, er<br />

stand Gott nahe. („Gesicht“ Gottes, Konzil von<br />

Chalcedon im Jahre 451 n.Chr.) Er war e<strong>in</strong> von der<br />

Urmacht Gottes erfüllter, e<strong>in</strong> gottesgeistbeseelter<br />

Mensch.<br />

Er ließ erkennen, wie gutes, gottgefälliges Leben<br />

für Menschen aussieht und möglich ist. Wie Gott<br />

ganz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Menschen da se<strong>in</strong> und wirken kann.<br />

„Jesus rief zu e<strong>in</strong>er Umkehrung der gewohnten<br />

Maßstäbe auf, nach denen die Macht über andere<br />

e<strong>in</strong> Ausdruck der eigenen Wichtigkeit und anderen<br />

zu dienen erniedrigend ist, zu e<strong>in</strong>em Verhalten also,<br />

das dem <strong>in</strong> der biologischen Evolution geltenden<br />

„survival of the fittest" diametral widerspricht:<br />

‚Wer groß se<strong>in</strong> will unter euch, der soll euer Diener<br />

se<strong>in</strong>; und wer unter euch der Erste se<strong>in</strong> will, der soll<br />

aller Knecht se<strong>in</strong>’ (Mk 10,43.44“. Stadelmann).<br />

Viele haben damals se<strong>in</strong>e Botschaft nicht aufnehmen<br />

können und wollen. Heute würde man von<br />

Überforderung sprechen. Se<strong>in</strong>en Gegnern machte<br />

sie Angst.<br />

Jesus g<strong>in</strong>g davon aus, dass die Gottesherrschaft<br />

(Lk 17,20f) schon begonnen hat und ihre endgültige<br />

Durchsetzung kurz bevor stand. Er hat sich wohl<br />

als Repräsentant <strong>des</strong> Gottes-Reiches verstanden.<br />

Menschen spürten dies, weil sie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Nähe<br />

Heilung und Heil erfuhren. Er behandelte Frauen<br />

und K<strong>in</strong>der als gleichwertig. Er setzte sich mit<br />

Frauen über <strong>Glaubens</strong>fragen ause<strong>in</strong>ander (Maria<br />

und Martha). Se<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>wendung zu Ausgegrenzten<br />

(Zachäus, der Steuere<strong>in</strong>nehmer) verwirrte viele, die<br />

das miterlebten. Se<strong>in</strong>e Nähe war für viele heilsam.<br />

Die Menschen erlebten, was es heißt, geliebte K<strong>in</strong>der<br />

Gottes zu se<strong>in</strong>. Das bedeutete gleichzeitig,<br />

dass die Menschen sich untere<strong>in</strong>ander als Geschwister<br />

annahmen. Sich gegenseitig helfen,<br />

wenn Not ist, sich beistehen, wenn e<strong>in</strong>er scheitert<br />

(Gleichnis verlorener Sohn), war jetzt das angemessene<br />

Tun.<br />

Das Reich Gottes ist mit Jesus <strong>in</strong> der Welt angebrochen.<br />

Es br<strong>in</strong>gt Gottes Nähe und se<strong>in</strong>en Willen.<br />

Das bedeutet, dass der Mensch wichtiger ist als die<br />

E<strong>in</strong>haltung von speziellen Gesetzen. Jesus verteidigte<br />

das Ährenraufen (d.h. arbeiten) am Sabbat,<br />

weil die Jünger Hunger hatten. Er heilte am Sabbat<br />

um der Menschen willen. Diese Haltung macht außer<br />

der Kritik an menschenfe<strong>in</strong>dlichen Gesetzen<br />

deutlich, was gute Gesetze bewirken sollen, nämlich,<br />

dass sie dem Menschen nützen und dienlich<br />

s<strong>in</strong>d. Die Gesetzesbeachtung war im damaligen<br />

Judentum durch rigi<strong>des</strong> Buchstabenverständnis<br />

verfälscht worden.<br />

Das Besondere und E<strong>in</strong>zigartige an Jesus war,<br />

dass er Leben und Welt als Geschenk und Gnade<br />

verstand und dies besonders den Armen und Benachteiligten<br />

verkündete.<br />

Bezeichnungen für Jesus wie z.B. „Sohn Gottes“<br />

sowie „Messias“ und „Christus“ s<strong>in</strong>d Hoheitstitel,<br />

die die Menschen Jesus gegeben haben, um se<strong>in</strong>e<br />

Würde und Bedeutung für die Gläubigen hervorzuheben.<br />

Nicht alle hat Jesus selbst gebraucht. Mit<br />

„Christus“ und „Messias“ wurde die Hoffnung auf<br />

e<strong>in</strong>en neuen und gerechten König, e<strong>in</strong>en neuen<br />

David verbunden. Der Titel „Sohn Gottes“ ist analog<br />

den Würdetiteln im alten Orient zu verstehen,<br />

dort, u.a. <strong>in</strong> Ägypten, wurden die Herrscher so bezeichnet.<br />

Heute werden weitere Bezeichnungen<br />

für Jesus gefunden, z.B. nennt ihn B. v. Weizsäcker<br />

<strong>in</strong> ihrem <strong>Glaubens</strong>bekenntnis e<strong>in</strong>en „Aktivisten<br />

<strong>in</strong> Sachen Gott“:<br />

„Ich glaube an Jesus –<br />

Als Aktivisten <strong>in</strong> Sachen Gott;<br />

Dessen Worte mir Ansporn,<br />

<strong>des</strong>sen Taten mir Vorbild,<br />

<strong>des</strong>sen Werte mir wichtig s<strong>in</strong>d,<br />

auch wenn Nichtchristen für sie streiten.<br />

Zu dem man beten kann, aber nicht muss.<br />

Denn an e<strong>in</strong>en persönlichen Gott glaube ich nicht.“<br />

Jesu Tod<br />

Der gewaltsame Tod Jesu war die Konsequenz<br />

se<strong>in</strong>es gottgeleiteten und gotterfüllten Lebens. Für<br />

die e<strong>in</strong>en war er e<strong>in</strong> neuer irdischer Herrscher, für<br />

andere der Hoffnungsträger e<strong>in</strong>er Revolution. E<strong>in</strong>er<br />

vorwiegend gottlosen Welt wird der Spiegel vorgehalten.<br />

Menschen, die das tun, leben gefährlich,<br />

weil die Welt, die Menschen, nicht wirklich wissen<br />

wollen, wie sie sich verhalten.<br />

Jesus ist nicht für, sondern an den Menschen gestorben.<br />

Aber für den Glauben war se<strong>in</strong> Tod nicht<br />

das letzte Wort. Die tödliche Kraft <strong>in</strong> den Menschen,<br />

die Jesus umgebracht hat, ist nicht das<br />

Letzte. Der Glaube an Gott eröffnet Größeres als<br />

alles endgültige Tun der Menschen. Jesus scheitert<br />

an der Macht <strong>des</strong> Bösen. Aber Jesu Scheitern wird<br />

– e<strong>in</strong> wahres Wunder! - zum Triumph <strong>des</strong> Lebens<br />

33


über den Tod und das Böse. „Der Tod am Kreuz ist<br />

die Offenbarung realer Menschlichkeit: so s<strong>in</strong>d wir;<br />

so gehen wir mite<strong>in</strong>ander um.“ (Joachim Kunstmann,<br />

Die Rückkehr der Religion, S. 265)<br />

Jesus bleibt bis <strong>in</strong> den Tod h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> dabei, dass Gott<br />

selbst h<strong>in</strong>ter ihm steht und sich <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit<br />

se<strong>in</strong>er Person den Menschen zeigt. Wie sich<br />

schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben die Kraft und die Liebe Gottes<br />

zeigte, so ist im Scheitern und Sterben Jesu<br />

e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigartige Nähe Gottes zum Menschen hergestellt<br />

worden. Im Glauben an Jesus erkennen<br />

viele Menschen Gott, wie er für sie <strong>in</strong> Jesus ihr<br />

eigenes Schicksal miterleidet. Im Sterben Jesus<br />

geschieht die größtmögliche Solidarisierung Gottes<br />

mit Menschen. Weil Jesu Scheitern, se<strong>in</strong> Tod ke<strong>in</strong><br />

Scheitern bleibt, erfährt der Mensch <strong>in</strong> der Auferweckung<br />

Jesu e<strong>in</strong>e nicht fassbare Intensität der<br />

Gottesnähe. Die Menschen haben sie als Heiligen<br />

Geist beschrieben.<br />

Jesu Tod ist ke<strong>in</strong> Opfer für die Menschen, wie sie<br />

<strong>in</strong> antiken Religionen bezeugt s<strong>in</strong>d. Trotzdem ist<br />

Jesu Tod <strong>in</strong> diesem Verständnis e<strong>in</strong> Tod für die<br />

Menschen, ke<strong>in</strong> Opfer, weil den Menschen e<strong>in</strong>e<br />

neue Dimension über den Tod h<strong>in</strong>aus eröffnet wurde.<br />

Damit geschieht e<strong>in</strong>e Neubewertung <strong>des</strong> To<strong>des</strong>,<br />

die e<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung gleichkommt.<br />

Gott vergibt den Menschen, dass Jesus an ihnen<br />

starb. Sie waren nicht <strong>in</strong> der Lage, se<strong>in</strong>e Botschaft<br />

zu verstehen und aufzunehmen. Die Auferweckung<br />

besagt, dass es weitergeht mit Gott und den Menschen,<br />

er versöhnt sich mit ihnen. Das wurde von<br />

den Christen <strong>in</strong> der Kirche als gleichbedeutend mit<br />

Erlösung und Vergebung von Schuld aufgenommen.<br />

Die Auferweckung (Entrückung)<br />

Die Auferweckung Jesus ist nicht als historisches<br />

Ereignis zu verstehen. So auch Hans Küng: „„Auferweckung<br />

ist ke<strong>in</strong> raum-zeitlicher Akt. Auferwekkung<br />

me<strong>in</strong>t nicht e<strong>in</strong> Naturgesetze durchbrechen<strong>des</strong>,<br />

<strong>in</strong>nerweltlich konstatierbares Mirakel, nicht<br />

e<strong>in</strong>en lozierbaren und datierbaren supranaturalistischen<br />

E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> Raum und Zeit. Auferweckung<br />

bezieht sich auf e<strong>in</strong>e völlig neue Dase<strong>in</strong>sweise <strong>in</strong><br />

der ganz anderen Dimension <strong>des</strong> Ewigen, umschrieben<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bilderschrift, die <strong>in</strong>terpretiert<br />

werden muss."<br />

Die Jünger und Jünger<strong>in</strong>nen, se<strong>in</strong>e Anhänger haben<br />

den Tod Jesu schmerzlich erlebt und erfahren,<br />

gleichzeitig aber se<strong>in</strong>e wirkmächtige Gegenwart<br />

gespürt: Er ist tot – doch er lebt! Wie kann mit dieser<br />

Erfahrung umgegangen werden? Man kann<br />

e<strong>in</strong>e der beiden Erfahrungen bestreiten, man kann<br />

versuchen, diesen Widerspruch rational aufzulösen.<br />

Oder die eigene Wirklichkeit und das Wirklichkeitsverständnis<br />

verändern sich. Es wird vere<strong>in</strong>bar,<br />

was unvere<strong>in</strong>bar ersche<strong>in</strong>t, weil der Glaubende<br />

sich als Teil <strong>des</strong> Geschehens, <strong>in</strong> dem Gott wirkt,<br />

versteht.<br />

Im Neuen Testament werden überwältigende Erfahrungen<br />

mit Jesus nach se<strong>in</strong>em Tod geschildert.<br />

In den älteren Texten ist zunächst nur ohne Interpretation<br />

von Ersche<strong>in</strong>ungen Jesu die Rede, die<br />

besagen, dass Jesus, <strong>in</strong> welcher Form auch immer,<br />

weiterlebt. Spätere Ausgestaltungen „berichten“<br />

dann von e<strong>in</strong>em leeren Grab oder e<strong>in</strong>em wiederbelebten<br />

Toten, der isst und tr<strong>in</strong>kt und <strong>des</strong>sen Wunden<br />

noch erkennbar s<strong>in</strong>d. Zur Glaubwürdigkeit dieser<br />

Berichte trägt bei, dass Jesus nicht nur Menschen<br />

begegnet, die schon zu glauben angefangen<br />

hatten, sondern auch solchen, die sich von ihm<br />

abgewandt hatten. Die Auferweckung Jesu ist e<strong>in</strong><br />

alles übergreifen<strong>des</strong> und über sich h<strong>in</strong>ausweisen<strong>des</strong><br />

Ereignis, er ist nicht <strong>in</strong> dieses geschichtliche<br />

Leben, sondern <strong>in</strong> e<strong>in</strong> anderes, größeres Leben<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> auferweckt worden. Dies zeigt sich vor allem<br />

an der Kraft se<strong>in</strong>er zuvor wankelmütigen und<br />

schwachen Anhänger (Petrus), die unerschütterlich,<br />

ja freudig ihren römischen und anderen Verfolgern<br />

standhielten.<br />

Ob Jesus (mit e<strong>in</strong>em Auftrag an Petrus) e<strong>in</strong>e (die!)<br />

Kirche selbst gegründet hat ist fraglich. Jedenfalls<br />

ist e<strong>in</strong>e/s<strong>in</strong>d viele Kirche/n aus der von ihm begonnenen<br />

Bewegung entstanden.<br />

Nach Jesu Lebens-Zeit g<strong>in</strong>g es weiter – bis zur<br />

Gegenwart<br />

Die Interpretation der Jesusersche<strong>in</strong>ungen nach<br />

se<strong>in</strong>em Tod am Kreuz als leibliche Auferstehung<br />

ließ weitere Erzählungen dieser Art wie z. B. „Himmelfahrt“<br />

entstehen, und Jesus wurde mehr und<br />

mehr zu e<strong>in</strong>er göttlichen Person. Diese Entwicklung<br />

hatte bereits im Johannesevangelium begonnnen,<br />

an <strong>des</strong>sen Anfang Jesus als göttlicher Logos<br />

verkündet wird, der vom Urbeg<strong>in</strong>n der Welt an<br />

schon bei Gott gewesen war, von Gott als das erlösende<br />

Licht auf die Erde gesandt, um dann wieder<br />

zu Gott zurückzukehren. Das alles folgt aus dem<br />

<strong>Glaubens</strong>satz, dass Gott <strong>in</strong> Jesus Mensch geworden<br />

ist. Tatsächlich ist heute das Weihnachtsfest<br />

so hochrangig wie das Osterfest. Beide <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halte<br />

br<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>e alles übersteigende Wertschätzung<br />

Jesu zum Ausdruck. Aber das muss<br />

nicht dazu führen, dass Jesus Gott gleich gesetzt<br />

wird (wie das auch <strong>in</strong> der Vorstellung vom dreie<strong>in</strong>igen<br />

Gott so ersche<strong>in</strong>t). Christen mit eigenen <strong>Glaubens</strong>vorstellungen<br />

(wie z.B. Beatrice v. Weizsäcker<br />

<strong>in</strong> „ist da jemand?) lehnen es ab, den Menschen<br />

Jesus als Gott anzusehen und zu ihm zu beten.<br />

Die weitere Entwicklung zeigt – bis heute: Gott ist<br />

im weitererzählten Zeugnis von Jesus präsent. Jesus<br />

ist trotz Leiden und Tod nicht gescheitert, im<br />

Heiligen Geist begleitet er bis heute se<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de.<br />

Der Heilige Geist ist die Kraft Gottes, die die<br />

Weiterexistenz Jesu auf der Erde garantiert. E<strong>in</strong><br />

34


Grund, an die Überw<strong>in</strong>dung <strong>des</strong> To<strong>des</strong> durch Gott<br />

zu glauben.<br />

E<strong>in</strong> Gedicht dazu:<br />

Passion<br />

Dem Leiden und Sterben Jesu hilflos ausgesetzt,<br />

fragten sie nach dem Wozu und Warum.<br />

Wo ist der S<strong>in</strong>n?<br />

So starb er, wie sie me<strong>in</strong>ten: Für unsre Sünden,<br />

Er litt für uns, anstelle von uns,<br />

versöhnte Gott.<br />

War das der Gott Jesu?<br />

Der Gott, den er Abba, Papi nennt?<br />

Dem er vertraute?<br />

Unergründlich: Warum und Wozu.<br />

Viel erklärt und wenig gewusst.<br />

Und doch: er hat durchlitten,<br />

alles, was e<strong>in</strong>em Menschen blühen kann,<br />

bis <strong>in</strong> die f<strong>in</strong>steren Tiefen <strong>des</strong> To<strong>des</strong>.<br />

Wozu und Warum? Unergründlich?<br />

In ihm aber zeigte sich der Grund<br />

Im Grund <strong>des</strong> anderen Gott zu sehen.<br />

(Heiderose Gärtner)<br />

10. „Me<strong>in</strong>e“? Kirche<br />

Auch das Verständnis der Kirche hat sich gewandelt.<br />

Ist das e<strong>in</strong>e Organisation, e<strong>in</strong>e von Jesus gegründete<br />

(Lebens-? <strong>Glaubens</strong>-?)Geme<strong>in</strong>schaft, die<br />

Verwalter<strong>in</strong> göttlicher Gnade oder die Vertreter<strong>in</strong><br />

und Interpret<strong>in</strong> <strong>des</strong> göttlichen Willens hier auf Erden?<br />

Für die eigene Antwort auf solche Fragen<br />

s<strong>in</strong>d nicht nur die Kirchengeschichte, die kirchliche<br />

Lehre und das christliche <strong>Glaubens</strong>bekenntnis zu<br />

berücksichtigen, sondern auch die Kritik an der<br />

Kirche und das zunehmende Auftreten anderer<br />

Religionen. Ist auch die Frage „Was habe ich von<br />

e<strong>in</strong>er Mitgliedschaft <strong>in</strong> der christlichen Kirche?“<br />

berechtigt? Welchen Wert hat die Lebensbegleitung<br />

der Kirche (u.a. mit Taufe, Konfirmation, Eheschließung,<br />

Bestattung)? Wie wirkt sich Kirche auf<br />

den eigenen Glauben aus?<br />

Das Nachdenken darüber kann das eigene Verhältnis<br />

zu dieser Organisation bewusster, ergiebiger<br />

und aktiver werden lassen.<br />

Viele Begriffe und Inhalte <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong><br />

sche<strong>in</strong>en heute nicht mehr zeitgemäß und<br />

nicht mehr der spirituellen Realität und Praxis zu<br />

entsprechen. Die Frage „Me<strong>in</strong>e Kirche?“ lässt sich<br />

nicht mehr zufriedenstellend und angemessen nur<br />

mit Sätzen aus Luthers Katechismus beantworten.<br />

Deshalb muss neu über die Funktion und die Struktur<br />

von Kirche heute nachgedacht werden.<br />

Kirche: Geme<strong>in</strong>schaft im Glauben<br />

Me<strong>in</strong>e Kirche, unsere, evangelische, christliche<br />

Kirche: Am e<strong>in</strong>fachsten lässt sie sich als „Geme<strong>in</strong>schaft<br />

im Glauben“ benennen – dann aber bleiben<br />

viele andere Bezeichnungen von Kirche außen vor:<br />

Kirche Jesu Christi, Kirche von unten, Volkskirche,<br />

Amtskirche, etc. Dazu kommen noch viele Etiketten<br />

ohne das Wort Kirche, <strong>in</strong> denen es aber dr<strong>in</strong>steckt:<br />

Geme<strong>in</strong>de, Gottesvolk, Gottesdienst, Konfession,<br />

Ökumene; oder <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit anderen Namen<br />

steht und mit diesen zusammen den Begriff Kirche<br />

erweitert: Kirchentag, Kirchenjahr, Kirchengeschichte,<br />

Kirchensteuer. Schwer zu sagen also,<br />

was Kirche (für mich!) ist.<br />

Trotzdem, sprechen wir von „Kirche“, ganz e<strong>in</strong>fach<br />

so. Von dem, was wichtig ist zum Verständnis von<br />

Kirche – auch ganz persönlich: von me<strong>in</strong>er Kirche.<br />

Me<strong>in</strong>er? E<strong>in</strong>ige der folgenden Abschnitten stehen –<br />

meist am Anfang nach e<strong>in</strong>er Überschrift – <strong>in</strong> der<br />

Ich-Form. Sie sprechen damit aber doch auch für<br />

andere mit. (Vielleicht wollen Sie mal ausprobieren,<br />

ob und wie sie sich mitsprechen und mitdenken<br />

lassen?)<br />

Von Jesus g<strong>in</strong>g es aus.<br />

„Diese Kirche – ich bewundere sie wie e<strong>in</strong> Wunderwerk.<br />

Nur Religion lässt Derartiges wachsen.<br />

Dabei hat für mich die christliche Religion etwas<br />

Besonderes, ja E<strong>in</strong>zigartiges: ihre Schöpfungsfreude,<br />

ihre Menschennähe und ihre Zukunftshoffnung.<br />

Es war e<strong>in</strong> weiter und langer Weg von Paläst<strong>in</strong>a zu<br />

‚me<strong>in</strong>er Kirche’ gegenüber. “<br />

Jesus, e<strong>in</strong> Wanderprediger <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a, hatte geredet<br />

und gehandelt als e<strong>in</strong>er, der Gott den Menschen<br />

nahebrachte („offenbarte“). Dabei me<strong>in</strong>te die<br />

Bezeichnung „Gott“ den Gott Israels, dem sich e<strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>es Volk im Vorderen Orient anvertraut hatte,<br />

von dem es sich über tausend Jahre geführt glaubte<br />

und <strong>des</strong>sen Willen – ständig aktualisiert – <strong>in</strong> heiligen<br />

Schriften niedergelegt war.<br />

Jesus sammelte „Jünger“, Frauen gehörten auch<br />

dazu. Die Schar wurde die von Jesus überzeugte,<br />

ihm vertrauende Lebensgeme<strong>in</strong>schaft. Jesus wollte<br />

etwas Bestimmtes, nämlich den Willen <strong>des</strong> Gottes<br />

Israels „erfüllen“ und das Gottesreich bauen. Er<br />

wurde von se<strong>in</strong>en Leuten als Inkarnation dieses<br />

Gottes, als „Christus“ gesehen, als der langerwartete<br />

Befreier, Lehrer und Heiler <strong>des</strong> Gottesvolkes.<br />

In se<strong>in</strong>em Geist kam es zu e<strong>in</strong>er neuen Geme<strong>in</strong>-<br />

35


schaftsbildung <strong>in</strong>mitten <strong>des</strong> jüdischen Umfel<strong>des</strong>,<br />

aus dem diese M<strong>in</strong>derheit der Christus-Leute ausgegrenzt<br />

wurde. Für sie wurde im Anschluss an die<br />

Bezeichnung <strong>des</strong> Volkes Israel der Name „Ekklesia“<br />

gebräuchlich – das profan-griechische Wort<br />

der Volksversammlung. Die Herausgerufenen. Dieses<br />

Wort steckt <strong>in</strong> „Kirche“.<br />

Diese Gruppe hatte vom Jesusgeist den universellen<br />

Auftrag übernommen, die ethnische Grenze zu<br />

durchbrechen. So war die Christus-Geme<strong>in</strong>schaft,<br />

die christliche Kirche, von Anfang an <strong>in</strong>ternational<br />

globalisiert. Ihre Gründungsgeschichte von Pf<strong>in</strong>gsten<br />

ist die e<strong>in</strong>er charismatischen Verkündigung,<br />

die von e<strong>in</strong>er die ethnischen und sprachlichen<br />

Grenzen durchbrechenden Verständigung erzählt.<br />

E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Samen wuchs zu e<strong>in</strong>em weitverzweigten<br />

Baum.<br />

Für „Kirche“ – Gottesvolk und Christus-<br />

Geme<strong>in</strong>schaft – f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> der Bibel viele Bildworte<br />

oder Umschreibungen, die Facetten <strong>des</strong> Wesentlichen<br />

aufgreifen:<br />

das geistliche Haus, auf Petrus-Bekenntnis-Fels<br />

gebaut,<br />

der Leib Christi, die Heiligen,<br />

Versammlung im Namen Jesu (synagoge), Später<br />

sagte man auch<br />

Familie Gottes, Liebesgeme<strong>in</strong>schaft, civitas dei –<br />

im Bekenntnis ausgesprochen als die e<strong>in</strong>e, heilige,<br />

katholische (allgeme<strong>in</strong>e / christliche) und apostolische<br />

Kirche.<br />

Für die Reformation formulierte der Artikel 7 <strong>des</strong><br />

Augsburger Bekenntnisses:<br />

„Es müsse allezeit e<strong>in</strong>e christliche Kirche se<strong>in</strong> und<br />

bleiben, „die die Versammlung aller Gläubigen ist,<br />

bei denen das Evangelium re<strong>in</strong> gepredigt und die<br />

heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht<br />

werden. Denn das genügt zur wahren E<strong>in</strong>heit der<br />

christlichen Kirche [...] Und es ist nicht zur wahren<br />

E<strong>in</strong>heit der christlichen Kirche nötig, dass überall<br />

die gleichen, von den Menschen e<strong>in</strong>gesetzten Zeremonien<br />

e<strong>in</strong>gehalten werden [...]“<br />

Wort und Sakrament, verstanden als Gottes Handeln,<br />

begründet und erhält die Kirche.<br />

Manche Texte der Gesangbuchlieder s<strong>in</strong>d für das<br />

Kirchenverständnis der Laien nachhaltiger als die<br />

der universitären Theologie, allerd<strong>in</strong>gs gegenüber<br />

neuzeitlichem <strong>Glaubens</strong>verständnis oft veraltet.<br />

Der unterschiedliche Sprachgebrauch von „Kirche“<br />

ist zu beachten: „Kirche“ kann sowohl den Gesamtkörper<br />

als auch se<strong>in</strong>e Teile, also die E<strong>in</strong>zelgeme<strong>in</strong>de<br />

und Teile der Organisation me<strong>in</strong>en. Man sagt<br />

„Zur Kirche gehen“ und me<strong>in</strong>t damit die Teilnahme<br />

an allem Gottesdienstlichen, das Verhältnis zur<br />

E<strong>in</strong>zelgeme<strong>in</strong>de. Man sagt auch: „Zur Kirche gehören“<br />

und me<strong>in</strong>t das <strong>in</strong> welcher Form auch immer<br />

geäußerte Bekenntnis zur Mitgliedschaft, das Ver-<br />

hältnis zur christlichen Religion. Doch bedenke:<br />

„Kirche“ <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>zahl gibt es heutzutage nur <strong>in</strong> der<br />

<strong>Glaubens</strong>wirklichkeit. Ansonsten reden wir von<br />

Kirche gewöhnlich im S<strong>in</strong>ne von unserer Kirche, die<br />

sich immer nur als e<strong>in</strong>e Teilgruppe verstehen kann<br />

oder ganz allgeme<strong>in</strong> von dieser Geme<strong>in</strong>schaft und<br />

Organisation.<br />

Kirche kommt also von weit her, <strong>in</strong> und mit der<br />

Tradition. Dies prägt sie und wird sie auch <strong>in</strong><br />

Zukunft prägen trotz der berechtigten Aufforderung<br />

zu Aktualität.<br />

Wechselnde Geschichte, Entwicklung zur Organisation<br />

und Institution<br />

„Ich habe gelernt, dass die Kirche e<strong>in</strong>er wechselvollen<br />

Geschichte ausgeliefert war und immer ist.<br />

Sie zeigt diverse Schwächen, sogar Abscheulichkeiten,<br />

beweist aber auch e<strong>in</strong>e erstaunliche Wandlungsfähigkeit<br />

und Erneuerungsstärke.“<br />

Schon <strong>in</strong> den Anfängen ist <strong>in</strong> den Christengeme<strong>in</strong>den<br />

erkennbar, wie festere Strukturen wachsen. In<br />

den folgenden drei Jahrhunderten und im Kampf<br />

um ihre Legitimation gegenüber dem Judentum<br />

und der hellenistischen Umwelt bildete sich aus<br />

Orts- und Regionalkirchen e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Kirche<br />

aus, deren Führung Rom übernahm. Aus unterschiedlichem<br />

Kontext s<strong>in</strong>d uns aus der Anfangszeit<br />

die Paulusbriefe, die vier Jesusgeschichten, die<br />

Apostelgeschichte und andere Briefen und Schriften<br />

überliefert, die E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Entstehung der<br />

erste Geme<strong>in</strong>den geben. Es s<strong>in</strong>d auch Schriften<br />

erhalten, die die Existenz von Gruppen mit spezieller<br />

Überlieferung beweisen, doch <strong>in</strong> der größeren<br />

Kirchengeme<strong>in</strong>schaft ke<strong>in</strong>e Anerkennung fanden.<br />

Die Großkirche e<strong>in</strong>igte sich auf e<strong>in</strong>e Gruppe von<br />

Schriften, den „Kanon“, der das „Neue Testament“<br />

genannt wurde. Das wurde die Grundlage <strong>des</strong><br />

<strong>Glaubens</strong>bekenntnisses. Bibeltexte wurden oft als<br />

„Wort Gottes“ bezeichnet; sogar die Erklärungen<br />

e<strong>in</strong>zelner Stellen <strong>in</strong> Predigten wurden so genannt.<br />

Das Wertbewusstse<strong>in</strong> der eigenen Tradition steigerte<br />

sich bis h<strong>in</strong> zu der Aussage, dass es außerhalb<br />

der Kirche ke<strong>in</strong> Heil gebe. (Cyprian, ca 200 –<br />

258 n.Chr,)<br />

Die Auffassung <strong>des</strong> Neuen Testaments bildete<br />

auch die Auslegungskriterien für das jüdische Alte<br />

Testament, das nach christlichem Verständnis fest<br />

an das „Neue“ gebunden ist. Diese „Bibel“ erlangte<br />

Verb<strong>in</strong>dlichkeit, sie formte die christliche Identität;<br />

sie ermöglichte auch e<strong>in</strong>e differenzierte Vielfalt der<br />

Jesusauslegung.<br />

So entstand die Kirche als ausgeformte Institution,<br />

die aber <strong>in</strong>nerlich charismatisch-spirituell von der<br />

Jesus<strong>in</strong>terpretation bestimmt war. Geme<strong>in</strong>sam war<br />

allen der Glaube an den Jesus, der gekreuzigt und<br />

auferstanden war und se<strong>in</strong>en Gruppen e<strong>in</strong>en universalen<br />

Auftrag zur Mission h<strong>in</strong>terlassen hatte.<br />

36


Historisch s<strong>in</strong>d die Lebensr<strong>in</strong>ge der wachsenden<br />

Kirche zu erkennen: die Urgeme<strong>in</strong>de, die Kirche<br />

vor der konstant<strong>in</strong>ischen Anerkennung, die Staatskirchen<br />

<strong>in</strong> Rom und Byzanz, die Kirchen der Reformationen,<br />

charismatische Geme<strong>in</strong>schaften der<br />

Neuzeit. Nicht zu übersehen ist, wie die Kirchen<br />

durch politische bzw. gesellschaftliche Kräfte geprägt<br />

wurden; schon <strong>in</strong> der Frühzeit passte sich die<br />

Kirche an die Umwelt an. Das heutige Gesicht bekam<br />

die Kirche im Zusammenhang mit der Aufklärung,<br />

der Säkularisierung und der Postmoderne.<br />

„Wie viel Kirche braucht der Staat“ lautete der Titel<br />

e<strong>in</strong>es Vortrags von Kirchenpräsident Christian<br />

Schad (Speyer) Anfang Juli 2012. In unserem Zusammenhang<br />

hier könnte sie lauten: Wie viel Geschichte,<br />

wie viel Jesus braucht die Kirche? Oft<br />

haben Kirchenleute mit Berufung auf die Tradition<br />

und die Quellen der <strong>Glaubens</strong>geme<strong>in</strong>schaft versucht,<br />

(nach ihrem eigenen Verständnis aber, immerh<strong>in</strong>)<br />

durch Er<strong>in</strong>nerung an die Geschichte die<br />

Kirchenmitglieder zusammen und beim Wesentlichen<br />

zu halten. Das geschah leider nicht selten mit<br />

Gewalt und mit wenig Offenheit für neue Entwicklungen.<br />

Wie viel und welche Kirchengeschichte und<br />

Berufung auf die Tradition braucht die Kirche? –<br />

Das muss e<strong>in</strong>e ständig neu zu stellende Frage<br />

bleiben.<br />

Von der E<strong>in</strong>heit der Jesusgeme<strong>in</strong>schaft h<strong>in</strong> zur<br />

konfessionellen Vielfalt<br />

„Mich schmerzt, dass die E<strong>in</strong>heit der Jesusgeme<strong>in</strong>schaft<br />

nicht gehalten hat. Aber ich verstehe<br />

mehr und mehr, dass e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> allen Weltteilen existierende<br />

Geme<strong>in</strong>schaft schwerlich <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er<br />

monarchischen, organisierten Weise zusammengehalten<br />

werden kann. E<strong>in</strong>heit ist auch <strong>in</strong> der Vielfalt<br />

möglich. “<br />

Der kritische Wahrheitsdrang (auch im Blick auf<br />

Fehlentwicklungen <strong>in</strong> der Kirche wie Ablasshandel,<br />

Inquisition, Hexenverfolgung Missionierungseifer,<br />

Kriegsunterstützung, usw.), die Erfahrungen und<br />

die Erfordernisse <strong>in</strong> unterschiedlichen Situationen<br />

äußerten sich <strong>in</strong> konfessioneller Differenzierung<br />

und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vielfalt, <strong>in</strong> der der e<strong>in</strong>e Geist als<br />

schöpferisch tätig gesehen werden kann. Die Entfaltung<br />

<strong>des</strong> Christentums sollte als Stärke anerkannt<br />

werden, so schmerzlich oder ärgerlich sich<br />

Trennungen oder Spaltungen vollzogen.<br />

Die mittelalterliche Spaltung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ost- und e<strong>in</strong>e<br />

Westkirche hatte politische, aber auch theologischspirituelle<br />

Gründe. Aus den Großkirchen heraus<br />

entstanden Freikirchen. Mennoniten, Methodisten,<br />

Baptisten, Adventisten, Pf<strong>in</strong>gstkirchen zeigten, wie<br />

Kirchenkritik und Wahrheitsüberzeugungen Lebensformen<br />

bildeten. Was anfangs sektenähnlich<br />

aussah, konnte zur großen Bewegung werden. Mit<br />

ursächlich für die großen europäischen Auswande-<br />

rungswellen (z.B. <strong>in</strong> die USA) gelangten sie zu<br />

großer politischer und gesellschaftlicher Bedeutung.<br />

Andere, wie „Die Kirche Jesu Christi der Heiligen<br />

der Letzten Tage“ (die Mormonen) vertreten<br />

ernsthaft trennende Sonderme<strong>in</strong>ungen.<br />

Man wird das als Folge <strong>des</strong> Zeitgeistes verstehen<br />

müssen. Das Patchwork-Phänomen ist zwar beschwerlich,<br />

andererseits haftet dem oft und lebhaft<br />

geäußerten E<strong>in</strong>heitsbedürfnis im Grunde etwas<br />

Unrealistisches an. Ist e<strong>in</strong>e Kirche mit mehr E<strong>in</strong>heit<br />

glaubwürdiger als e<strong>in</strong>e Vielzahl sich mehr oder<br />

weniger gegene<strong>in</strong>ander abgrenzender „Konfessionen“?<br />

Das kommt doch hauptsächlich darauf an,<br />

wie man mite<strong>in</strong>ander umgeht! Der Glaube kann<br />

viele Formen haben (Joh. 14,1).<br />

Die E<strong>in</strong>e Kirche ist <strong>in</strong> ihrem Grund verbunden durch<br />

ihren im Wesentlichen gleichen e<strong>in</strong>en Glauben. Der<br />

E<strong>in</strong>heitsbitte Jesu gehorsam zu se<strong>in</strong> und Trennung<br />

zu überw<strong>in</strong>den, hat nicht zuletzt auch e<strong>in</strong> tieferes<br />

Wahrheitsverständnis ermöglicht. Der christlichen<br />

E<strong>in</strong>heit zu entsprechen, hat zur Ökumenischen<br />

Bewegung und <strong>in</strong> unseren Breiten zu e<strong>in</strong>em verheißungsvollen<br />

ökumenischen Bewusstse<strong>in</strong> geführt.<br />

Auf der Ebene der Ortsgeme<strong>in</strong>den geschieht<br />

viel Ermutigen<strong>des</strong>, was „Oben“ noch nicht statthaft<br />

ist.<br />

Was im Großen geschieht, zeigt sich auch im Kle<strong>in</strong>en.<br />

Auch <strong>in</strong>nerhalb der E<strong>in</strong>zelkirchen ist Platz dafür,<br />

l<strong>in</strong>ks oder rechts, orthodox/fundamentalistisch<br />

oder liberal orientiert zu se<strong>in</strong>.<br />

Im Bemühen um mehr ökumenische E<strong>in</strong>heit brauchen<br />

wir den konservativen Kirchen nicht h<strong>in</strong>terher<br />

zu laufen. Eher liberale Kirchen können es aushalten,<br />

von anderen als nicht voll „Kirche“ e<strong>in</strong>gestuft<br />

zu werden. Verbote der Kommunikation werden<br />

schon umgangen (z.B. bei der Zulassung zum katholischen<br />

Abendmahl), Gehorsam und „Fraktionszwang“<br />

stehen nicht mehr hoch im Kurs. Die unsichtbare<br />

(„unsere“! geglaubte) Kirche aller Gläubigen<br />

ist schon und immer noch da und wird erlebt<br />

und erfahren. Allerd<strong>in</strong>gs:<br />

Heutige Probleme der Kirche<br />

„Bei den Problemen, die die Kirchen heute zu tragen<br />

und vor allem zu lösen haben, sehe ich e<strong>in</strong>e<br />

zeittypische Undeutlichkeit <strong>des</strong> Kirchenbil<strong>des</strong>.“<br />

In e<strong>in</strong>er Ecke ist „Kirche“ e<strong>in</strong>e verdächtige E<strong>in</strong>richtung:<br />

staatsabhängig, mit Machtcharakter, verhärtet<br />

dogmatisch denkend. In e<strong>in</strong>er anderen wird beklagt,<br />

dass „Kirche“ an Autoritätsverlust leidet, Mitglieder<br />

verliert, religionsarm ersche<strong>in</strong>t. An dritter<br />

Stelle sieht man „Kirche“ im Modernisierungsbemühen<br />

Fronten zurücknehmend, Wesentliches<br />

opfernd. Anderswo zeigt sich „Kirche“ konservativ,<br />

kämpferisch entschlossen, ke<strong>in</strong>en Fußbreit der<br />

Tradition aufzugeben.<br />

Dazu kommt das Problem der Verbürgerlichung,<br />

was mehr bedeutet als den Verlust <strong>des</strong> Kontakts<br />

37


zur Breite der Bevölkerung. Die heute schwer herzustellende<br />

Verb<strong>in</strong>dung der Jugend mit der Kirche<br />

droht zu e<strong>in</strong>em Traditionsabbruch zu führen. Zu<br />

schwach gegen die Vorherrschaft der Medien über<br />

Lebensstil und Konsum haben es die Kirchen<br />

schwer mit ihren Denkanforderungen und Riten.<br />

Selbst bei den noch funktionierenden Amtshandlungen<br />

gel<strong>in</strong>gt es nicht, vorhandenes religiöses<br />

Bedürfnis <strong>in</strong> <strong>in</strong>tellektuelle Überzeugung zu verwandeln.<br />

Auch wenn Zeitgenossen es oft fordern – Kirche<br />

kann nicht untadelig se<strong>in</strong> und für alles die perfekten<br />

Rezepte vorweisen. Dazu ist sie zu menschlich,<br />

dazu h<strong>in</strong>kt die große Organisation immer h<strong>in</strong>ter den<br />

Veränderungen der Lebenswirklichkeit her.<br />

Vom Auftrag Jesus’ her ist die Kirche als Arbeitsgruppe<br />

zu verstehen, die Gerechtigkeit, Frieden<br />

und Erhaltung der Schöpfung zum Ziel hat. Diese<br />

ethisch-soziale Dimension ist verbunden mit der<br />

vertikalen <strong>des</strong> Gottesglaubens. Beide zeigen sich<br />

im lebendigen Gottesdienst, der weith<strong>in</strong> als das<br />

Kernstück der Kirche angesehen wird. In spirituellen<br />

Ausdrucksformen wie Lob Gottes, Dank und<br />

Bitte im Gebet, Wort und Sakrament, hält sich Kirche<br />

offen für Wirkungen <strong>des</strong> Gottesgeistes. Veranstaltungen<br />

verschiedener Art lassen die Ziele der<br />

Kirche und die Methoden, sie erreichen zu wollen,<br />

erkennen.<br />

Damit präsentiert Kirche ihren Gott als belebende<br />

Macht <strong>in</strong> der Öffentlichkeit. Im demokratischen<br />

Gefüge Westeuropas verfügt sie dank<br />

Mitgliederstärke und dem ethischem Potenzial<br />

(Zehn Gebote und Bergpredigt) über e<strong>in</strong>en<br />

erheblichen politischen E<strong>in</strong>fluss. Als Institution oder<br />

mit der Stimme e<strong>in</strong>zelner Christen mischt sie sich<br />

e<strong>in</strong>. Ihre politische Verantwortung kann sie <strong>in</strong><br />

Parteien, aber auch gegen die herrschende political<br />

correctness wahrnehmen. Persönliche Erbauung,<br />

S<strong>in</strong>nf<strong>in</strong>dung und S<strong>in</strong>npflege ist ihre Sache, die<br />

ebenso dem <strong>in</strong>neren Halt der Gesellschaft wie<br />

auch den oft Vere<strong>in</strong>zelten dient. Die <strong>in</strong> der Gesellschaft<br />

stark verankerten sogen. Amtshandlungen<br />

bieten Lebensbegleitung (deren Verständnis und<br />

Form erneuerungsbedürftig s<strong>in</strong>d). Die Kirche ist,<br />

stabilisierend oder kritisch, e<strong>in</strong>e dienstleistende<br />

E<strong>in</strong>richtung für <strong>in</strong>dividuelle und kollektive<br />

Bewusstse<strong>in</strong>sorganisation – nicht nur für Mitglieder<br />

(die <strong>in</strong> der Sprache <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> „Glieder“<br />

genannt – also als lebendiger Organismus gesehen<br />

werden). Die diakonische Arbeit ist weitgefächert<br />

und immer noch bzw. immer wieder auch im Blick<br />

auf die elementarsten Nöte <strong>in</strong> den Krisengebieten<br />

aller Welt e<strong>in</strong>er der wichtigsten Dienste, die Kirche<br />

<strong>in</strong> unserer Gesellschaft leistet.<br />

Religiöser Pluralismus – gut für die Kirche. Und<br />

ihre Mitglieder.<br />

„Neu herausgefordert werden die Christen und die<br />

christlichen Kirchen durch die anderen Weltreligionen,<br />

<strong>in</strong> unserem Land nicht nur durch das Judentum<br />

und den Islam.“<br />

Der Buddhismus gew<strong>in</strong>nt Freunde, der H<strong>in</strong>duismus<br />

auch. Der Konfuzianismus wird kommen. Ist der<br />

Missionsauftrag dialogisch möglich? Das Wahrheitswissen<br />

hat sich gewandelt, und die Bibelforschung<br />

erklärt die Behauptung von der Exklusivität<br />

<strong>des</strong> Christusanspruchs als e<strong>in</strong>en Versuch (unter<br />

vielen), von Gott zu reden. In ihrer Sprache und<br />

ihrem Anspruch wird die Kirche sich <strong>des</strong>wegen<br />

bescheidener und vorsichtiger verhalten.<br />

Mit Hoffnung und Interesse ist zu beobachten, dass<br />

sich <strong>in</strong> der Kirche selbst neue Formen von <strong>Glaubens</strong>erfahrung<br />

und –ausdruck entwickeln. Es geht<br />

auch ohne mythologische und sehr menschlich<br />

gedachte Gottesvorstellungen; neue religiöse Lieder<br />

s<strong>in</strong>d entstanden, es gibt Gottesdienste für Motorradfahrer,<br />

Bergsteiger und Senner hoch <strong>in</strong> den<br />

Alpen usw. . Kirche ist <strong>in</strong> Facebook, Twitter und<br />

Internet präsent und Konfirmanden lernen, was<br />

Kirche ist, nicht mehr über auswendig hergesagte<br />

Katechismusstücke, sondern (auch) <strong>in</strong> Praktika z.B.<br />

<strong>in</strong> diakonischen E<strong>in</strong>richtungen kennen. Das ersche<strong>in</strong>t<br />

vielen ungewohnt, ist aber e<strong>in</strong>e Bereicherung,<br />

Anregung und E<strong>in</strong>übung, Pluralität auch außerhalb<br />

der Kirche wahrzunehmen und wertzuschätzen.<br />

Beziehungen zu Kirche<br />

„Ich halte die Frage „Was habe ich von der Kirche?“<br />

für durchaus berechtigt. Sie kann zu e<strong>in</strong>em<br />

weiterführenden Verständnis ihres Wesens führen<br />

und e<strong>in</strong>e Verbesserung der Qualität kirchlicher Arbeit<br />

bewirken.“<br />

Das Verhältnis von Individuen und Gruppen zu<br />

Kirche ist schwer zu bestimmen. Es ist zunächst<br />

danach zu fragen, ob Kirche (theologisch) als geistiges<br />

Großsystem oder als E<strong>in</strong>zelorganisation<br />

(Denom<strong>in</strong>ation) verstanden wird. Zur Klärung der<br />

eigenen (mehr oder weniger formalen) Beziehung<br />

zur Kirche ist dann zu unterscheiden zwischen<br />

Formen der Zugehörigkeit und den damit verbundenen<br />

Rechten und Pflichten bzw. Nutzen und Abhängigkeiten.<br />

Beziehungen zu Kirche kommen auf<br />

unterschiedliche Art zustande (Tradition, Taufe,<br />

Erziehung, Theologie, Information, Bildung, E<strong>in</strong>tritt,<br />

u.a.) und bestehen aktuell <strong>in</strong> Teilnahme an kirchlichen<br />

Aktivitäten, Bekenntnis, Kritik, materieller Unterstützung,<br />

u.a. . Die Frage „Was habe ich von der<br />

Kirche?“ ist durchaus berechtigt und führt zu e<strong>in</strong>em<br />

weiterführenden Verständnis ihres Wesens (zu<br />

dem auch die religiöse Dimension gehört, die sich<br />

nicht <strong>in</strong> Kategorien wie Nutzen und Nachteil erfassen<br />

lässt). Wenn sie <strong>in</strong> der kirchlichen Praxis aus-<br />

38


führlicher vorkommen würde, könnte das auch e<strong>in</strong>e<br />

Verbesserung der Qualität kirchlicher Arbeit bewirken<br />

und e<strong>in</strong>e gute Werbung für aktive Beteiligung<br />

se<strong>in</strong>.<br />

An neue und verschiedene Formen der Beziehung<br />

zur Kirche ist zu denken wie z.B. Teilmitgliedschaften,<br />

zeitliche und/oder <strong>in</strong>haltliche Begrenzung, Kooperation<br />

mit anderen Gruppen oder Angehörigen<br />

anderer Religionen.<br />

In der geistigen Beziehung zur geglaubten Kirche<br />

s<strong>in</strong>d mehr <strong>in</strong>dividuelle Verständnisweisen möglich<br />

als früher. Bei entsprechender Offenheit, Toleranz<br />

und Verständigung würden sie kreativ wirken.<br />

„Kirche begegnet den Menschen als Raum. Als<br />

weiter, offener Raum der größeren Wirklichkeit.“<br />

Für das Verständnis von Kirche war <strong>in</strong> den Großkirchen<br />

immer der Geme<strong>in</strong>deraum wichtig. In der<br />

Öffentlichkeit steht der Kirchenbau als städtebauliches<br />

Zeichen. Architektonisch geprägt von der<br />

Praxis <strong>des</strong> Gottesdienstes, der Liturgie, bildet der<br />

Versammlungsort „Kirche“ nicht nur <strong>in</strong> den Groß-<br />

Städten e<strong>in</strong>en öffentlich zugänglichen Ort, der<br />

zwanglos e<strong>in</strong>e Gegenwelt der Stille und <strong>in</strong>neren<br />

Konzentration anbietet. Er<strong>in</strong>nernd und bergend ist<br />

er Schutzraum, <strong>des</strong>sen künstlerische Innengestaltung<br />

den Worten der Kirche e<strong>in</strong>e Sprache eigener<br />

Art verleiht. Die Kosten dafür wurden und werden<br />

aufgebracht, auch wenn die Kirchenorganisationen<br />

heute viele neue Räume und praxisorientierte<br />

Raumformen dazu bekommen haben (nicht nur<br />

sog. Geme<strong>in</strong>dehäuser).<br />

Vielversprechend, manchmal auch problematisch<br />

ist der vor allem <strong>in</strong> den neuen Bun<strong>des</strong>ländern unternommene<br />

Versuch, herkömmliche Kirchen geme<strong>in</strong>sam<br />

mit der Ortsgeme<strong>in</strong>de (z.B. als Rathaus)<br />

und Verbänden bzw. Vere<strong>in</strong>en zu nutzen und dafür<br />

umzubauen.<br />

Im übertragenen S<strong>in</strong>n eröffnet die Kirche nicht nur<br />

ihren Mitgliedern „Raum“ <strong>in</strong> Betätigungsfeldern, <strong>in</strong><br />

denen (<strong>in</strong>sbesondere ehrenamtlich) viel Hilfreiches<br />

geleistet werden kann.<br />

Aber auch Ämter gibt es <strong>in</strong> der Kirche als Organisation<br />

und großer Arbeitgeber<strong>in</strong> („danke, für me<strong>in</strong>e<br />

Arbeitsstelle“ heißt es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vielgesungenen<br />

Lied). Manchmal werden sie, dem Verständnis der<br />

Kirche entsprechend, Dienste genannt, auch wenn<br />

es sich um Leitungsaufgaben handelt. Bei deren<br />

Ausübung wird nicht immer (ausreichend) daran<br />

gedacht, dass auch Priester und Oberkirchenräte<br />

me<strong>in</strong>e Brüder s<strong>in</strong>d und die Bischöf<strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Schwester<br />

ist. Das Amtsverständnis der katholischen Kirche<br />

ist ziemlich exklusiv (nur der Priester kann die<br />

Eucharistie gültig darbr<strong>in</strong>gen), aber glücklicherweise<br />

nicht überall.<br />

„Die Außensicht auf Kirche ist zu beachten!“<br />

„Ich sehe Kirche auch selbst oft von außen: Historisch,<br />

soziologisch, rechtlich, organisatorisch, politisch,<br />

... Aus der Distanz. Kritisch. (Das mag und<br />

kann nicht jede/r). Auch aus dieser Sicht zeigt sich<br />

mir Wesentliches und Liebenswürdiges, Menschlich-Allzumenschliches.<br />

Ich nehme mit <strong>in</strong> die Kirche<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, was ich von außen sehe.“<br />

Soziologisch ist Kirche e<strong>in</strong>e stark strukturierte Organisation<br />

mit Personal von beamteten und freien<br />

Mitgliedern, Pastoren und Laien, mit e<strong>in</strong>er Hierarchie,<br />

mit Machtgefälle, Kirchensteuer, Kirchenzucht,<br />

unterschiedlichen Betätigungsfeldern, Mitgliederbewegung.<br />

Politisch-gesellschaftlich wird sie kritisch als Machtrelikt<br />

verdammt oder als Wertegeber<strong>in</strong> anerkannt<br />

und gerne für Eigen<strong>in</strong>teressen <strong>in</strong>strumentalisiert<br />

(„Thron und Altar“).<br />

Über „Kirche“ wird je nach Kontext und Interesse<br />

geredet. E<strong>in</strong> Liebhaber redet anders von ihr als e<strong>in</strong><br />

Fe<strong>in</strong>d oder e<strong>in</strong>er, der sie kühl analytisch untersucht.<br />

Das Reden von „der“ Kirche bedarf also jeweils<br />

genauer Beobachtung. Die Ortskirche ist abhängig<br />

von dem Bild, das die Gesamtkirche abgibt (das ist<br />

nicht anders als <strong>in</strong> der Politik). Mancher tritt aus<br />

„der“ evangelischen Kirche aus, weil ihm der Papst<br />

missfällt. Austritte s<strong>in</strong>d auch e<strong>in</strong> Indiz für ger<strong>in</strong>ge<br />

Kommunikation <strong>in</strong> der Ortsgeme<strong>in</strong>de.<br />

Mitglied e<strong>in</strong>er Kirche ist, bleibt oder wird man nicht<br />

nur oder hauptsächlich wegen der Zustimmung zu<br />

ihrem <strong>Glaubens</strong>bekenntnis, sondern zur Fortsetzug<br />

der Tradition, um der Kasualien willen (Bestattung!)<br />

und der K<strong>in</strong>der wegen. Die Wertschätzung ihrer<br />

Dienstleistung (Seelsorge, Stärkung der Spiritualität,<br />

ethisches Engagement, Diakonie) ist nicht nur<br />

bei den aktiven Mitgliedern hoch.<br />

Kritik an der Kirche<br />

wird zunehmend Ernst genommen, führt aber kaum<br />

zu entsprechenden Veränderungen.<br />

Hauptargumente der gegenwärtigen Kritik an der<br />

Kirche s<strong>in</strong>d u.a.:<br />

Lehre und Predigt der Kirche seien veraltet und<br />

weltfremd.<br />

Die Dienstleistungen der Kirche werden von<br />

vielen Menschen nicht mehr <strong>in</strong> Anspruch genommen,<br />

weil sie durch Wissenschaft und<br />

Technik überholt und z. T. von anderen<br />

Organisationen übernommen worden s<strong>in</strong>d.<br />

Die Kirchen haben Kriege nicht verh<strong>in</strong>dert und<br />

statt <strong>des</strong>sen Waffen gesegnet.<br />

Die Kirchen mischen sich zuviel <strong>in</strong> Politik e<strong>in</strong>.<br />

In manchen Gruppen: In den Großkirchen ist<br />

die „re<strong>in</strong>e Lehre“ nicht mehr <strong>in</strong> Geltung<br />

39


„Gründe für und gegen e<strong>in</strong>en Austritt aus der Kirche zeigen viel vom Verständnis der Kirche als e<strong>in</strong>er religiösen<br />

und weltlichen Organisation.“ (Nachfolgend auch e<strong>in</strong>ige, die seltener genannt werden):<br />

40


Kirche zwischen Tradition und Vision<br />

„Kirche, die Geme<strong>in</strong>schaft der Glaubenden, ist im<br />

Blick auf die Vergangenheit wichtig als Hüter<strong>in</strong> ihrer<br />

beachtlichen Tradition, im Blick auf die Gegenwart<br />

als Reservoir von Lebensnotwendigem und Lebensdienlichem,<br />

im Blick auf die Zukunft als Schlüssel für<br />

Hoffnung und Glück.“<br />

In ihrem Ritus feiert die Kirche Gott und die Geme<strong>in</strong>schaft<br />

mit ihm. Hier ist das Band der Geme<strong>in</strong>samkeit<br />

zu pflegen, <strong>in</strong> „Wort und Sakrament“, <strong>in</strong><br />

Grundtexten, Liedern und dem Raum, der Gott- und<br />

Selbstf<strong>in</strong>dung bietet. Dabei wird heute der Spitzensatz<br />

„Wort und Sakrament“ nicht mehr exklusiv christologisch<br />

verstanden. Entdeckt wird und Gehör<br />

f<strong>in</strong>det die Sprache <strong>des</strong> Schöpfers auch <strong>in</strong> der Natur.<br />

Die Kunst, besonders die Musik und das Bild, hatten<br />

immer e<strong>in</strong>e unmittelbare Beziehung zur Gottesnähe.<br />

Der moderne Mensch mit se<strong>in</strong>er Sehnsucht lebt aus<br />

verschiedenen Zugängen zum Religiösen. Indem die<br />

Kirche diese zum Teil diffusen E<strong>in</strong>drücke aufnimmt<br />

und bearbeitet, erweitert sie ihren Deutungsbereich<br />

erheblich.<br />

Die Tradition darf die Offenheit für Erneuerung nicht<br />

e<strong>in</strong>schränken. Visionen s<strong>in</strong>d überlebensnotwendig<br />

für die Kirche als Organisation und Geme<strong>in</strong>schaft<br />

von Glaubenden.<br />

Neues <strong>in</strong> der Kirche gibt es – <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft<br />

<strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />

„Kirche ist e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft, <strong>in</strong> der es vor allem<br />

anderen um den Glauben und die ihm entsprechende<br />

Lebensgestaltung geht. Im Glauben erfahre ich<br />

sowohl die Nähe Gottes als auch se<strong>in</strong>e Fremdheit.<br />

Glaube geht oft gegen me<strong>in</strong> eigenes Wünschen und<br />

Me<strong>in</strong>en.“<br />

„Ich glaube an Gott“ heißt: Ich glaube e<strong>in</strong> Paradox.<br />

Denn Kreuz und Auferstehung haben im Kern etwas,<br />

das uns gegenüber quer steht. Glaube zielt auf das<br />

kommende „Reich“, doch das schließt den Wüstenmarsch<br />

e<strong>in</strong>. Wir tun vielleicht nichts Gutes, wenn wir<br />

dem von Glaube und Kirche distanzierten modernen<br />

Menschen das Christliche leichter machen wollen.<br />

Die traditionellen Antworten auf die Gottesfrage mögen<br />

abgegriffen sche<strong>in</strong>en, doch neue s<strong>in</strong>d schwer zu<br />

geben, wenn sie denn die Fremdheit Gottes nicht<br />

verlieren wollen. Die Folgen von entgegenkommender<br />

Vere<strong>in</strong>fachung s<strong>in</strong>d nicht abzusehen. Die Kirche<br />

nur als Humanitätspfleger<strong>in</strong> <strong>des</strong> 21. Jahrhunderts zu<br />

sehen, greift zu kurz.<br />

Welcher Zukunft die Kirche – <strong>in</strong> welcher Form immer<br />

– entgegengeht, ist ungewiss. Religion wird es immer<br />

geben, das Offense<strong>in</strong> für e<strong>in</strong>e Transzendenz ist<br />

e<strong>in</strong> Existential, ihre Existenz <strong>in</strong> der Gestalt heutiger<br />

Kirchen jedoch nicht. Aber „christliche Religion ohne<br />

Kirche“ ersche<strong>in</strong>t religionspsychologisch als unwahr-<br />

sche<strong>in</strong>lich. In der Jesus-Botschaft steckt soviel Salz<br />

und Licht, dass an dem Bestand nicht gezweifelt<br />

werden muss. Nur: Der Ausprägung von Kirche als<br />

öffentlich anerkannter Gruppierung stehen viele<br />

Kräfte entgegen, und verheißen ist den Christen<br />

diese Lebensform nicht.<br />

Letzten En<strong>des</strong> wird sich die Weiterexistenz der Kirche<br />

daran entscheiden, ob sie dem, was Jesus Christus<br />

<strong>in</strong> Rede und Tat lebte, treu bleibt und Jesu Gottesglauben<br />

verständlich und glaubhaft ihrem Umfeld<br />

mitteilen kann. Das ist e<strong>in</strong> Sprach-, aber vor allem<br />

e<strong>in</strong> Haltungsproblem.<br />

„Ist Träumen erlaubt? Von Christen verschiedener<br />

Berufe und jeden Alters, die gegen die Vere<strong>in</strong>zelung<br />

der Moderne angehen, sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Stadtviertel<br />

konzentrieren und locker e<strong>in</strong>e Wohngeme<strong>in</strong>schaft<br />

praktizieren. Es ist der Versuch, das Christentum im<br />

21. Jahrhundert deutlicher zu leben. Der Mut zu e<strong>in</strong>er<br />

gewissen Entweltlichung gehört dazu. Aus sozialistischen<br />

oder Ordens-Modellen nahmen sie Realisierbares,<br />

vielleicht ist der Kibbuz e<strong>in</strong> brauchbares<br />

Beispiel, aus dem Beamtensystem der Großkirche<br />

haben sie sich freundlich ausgekl<strong>in</strong>kt. Ihr Lebensstil<br />

ist weltoffen und partizipativ, ke<strong>in</strong>esfalls ghettoartig,<br />

doch s<strong>in</strong>d sie erkennbar. Sie haben e<strong>in</strong>e Insel gegründet,<br />

nicht mehr, die aber über Brücken zugänglich<br />

ist.“<br />

Nur e<strong>in</strong> gelebtes Christentum ist überzeugend, weshalb<br />

auch von christlichen Märtyrern oder gar „Heiligen“<br />

zu erzählen ist. Die simple Frage: „Was habe<br />

ich von (der Mitgliedschaft <strong>in</strong>) e<strong>in</strong>er Kirche“ braucht<br />

e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Antwort, die die Kirchengeme<strong>in</strong>schaft,<br />

aber mehr noch die e<strong>in</strong>zelnen Christen zu geben <strong>in</strong><br />

der Lage se<strong>in</strong> sollten, auch auf die Zweifel und die<br />

Kritik, und das nicht zuletzt beim Thema „Kirche“.<br />

Dafür brauchen wir wieder Versuche, die den eigenen<br />

Glauben zeitgemäß formulieren. (Die Texte dieser<br />

„<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ wollen dazu beitragen).<br />

Die Schärfe der Gebote und das Befreiende<br />

der Jesusbotschaft brauchen nachsprechbare Formulierungen.<br />

E<strong>in</strong>s sollte dabei deutlich gemacht<br />

werden: Jeden Kirchenaustritt respektiert die Kirche.<br />

Aber sie sieht ihn nicht als unwiderruflich an.<br />

Die Kirche lebt von Jesus<strong>in</strong>terpretationen, seien sie<br />

kanonisch oder nicht. So ist das christliche Wahrheitsangebot<br />

zu verstehen. Grundsätzlich ergibt das<br />

nur Vorläufiges. Das jedoch als Schwäche oder Unsicherheit<br />

e<strong>in</strong>zuschätzen, wäre falsch. Die Vorläufigkeit<br />

hat e<strong>in</strong>e eigentümliche Stärke: sie ist offen für<br />

den Dialog und ermöglicht Lernfähigkeit. Die Unmöglichkeit,<br />

das Jesusbild scharf zu stellen, macht<br />

es kommunikativ. Unsere hergebrachte Dogmatik<br />

mit den fixierten Bekenntnisformeln hat uns das geme<strong>in</strong>same<br />

Glauben schwer gemacht. Wir brauchen<br />

41


Toleranz, müssen Unterschiede aushalten, Grenzen<br />

verhandeln.<br />

E<strong>in</strong>e neue Art von Kirchengeme<strong>in</strong>schaft muss sich<br />

durchsetzen, die e<strong>in</strong>e breite Vielfalt erlaubt, weil sie<br />

Individuation respektiert. So global sie zu denken<br />

versteht, so persönlichkeitsbezogen ist sie lokal. Ihre<br />

„Geme<strong>in</strong>den“ s<strong>in</strong>d offene Geme<strong>in</strong>schaften. Das<br />

Missverständnis, nur e<strong>in</strong>e private religiöse Sekte zu<br />

se<strong>in</strong>, wird dann nicht aufkommen.<br />

Ihre Verantwortung ist bei allem, Brückenbau zu<br />

betreiben, nach <strong>in</strong>nen und nach außen. Dies ist <strong>in</strong><br />

ihrer Verkündigung, ihrer Seelsorge, ihrer Diakonie<br />

und ihrer ökumenischen E<strong>in</strong>stellung auszuarbeiten<br />

und e<strong>in</strong>zuüben. Ihr Wesen aber hält <strong>in</strong> ihr e<strong>in</strong>e positive<br />

Grundhaltung aufrecht, die fröhliche Überzeugung<br />

ihres <strong>Glaubens</strong>. Das heißt also, wie schon immer,<br />

ihre Orientierung an Jesus, dem Weg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

neue Zukunft auch für die Kirche.<br />

Schuld / Sünde / Vergebung<br />

Für den Stand und die Entwicklung der gesellschaftlichen<br />

Schuldkultur ist das Verständnis der Begriffe<br />

Schuld, Sünde und Vergebung grundlegend. Sowohl<br />

e<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition wie auch das Verhältnis der Begriffe<br />

zue<strong>in</strong>ander ist schwierig. Es stellen sich u.a. folgende<br />

Fragen:<br />

Wie gehen wir verantwortungsvoll mit unserem täglichen<br />

Schuldigwerden um?<br />

Was br<strong>in</strong>gt die Ausweitung <strong>des</strong> Schuldbegriffs auf<br />

das religiöse Sündenverständnis?<br />

Welchen Wert hat und was bewirkt Vergebung?<br />

Wie br<strong>in</strong>gen wir die Bereitschaft auf, Schuld anderer<br />

zu verzeihen?<br />

Kann der persönliche Glaube dabei helfen?<br />

Welche Bedeutung hat Jesus für Christen bei dieser<br />

Frage ?<br />

E<strong>in</strong>e Vertiefung beim Verständnis von Schuld und<br />

Sünde kann zu mehr Gerechtigkeit führen und neue<br />

Chancen auch bei schwerer Schuld eröffnen.<br />

Schuld zugeben? Um Gottes willen!<br />

Brauchen wir e<strong>in</strong>e neue Schuldkultur?<br />

Alle Menschen wurden, s<strong>in</strong>d oder werden <strong>in</strong> ihrem<br />

Leben schuldig.<br />

(Dagegen wird oft gesagt: „Ich b<strong>in</strong> mir ke<strong>in</strong>er Schuld<br />

bewusst.“)<br />

Größe und Art von Schuld s<strong>in</strong>d oft schwer zu bestimmen.<br />

42<br />

Sie wird meist nicht, nur teilweise und ungern zugegeben,<br />

weil das Nachteile und Strafe br<strong>in</strong>gt.<br />

Von Christen wird Schuld auch als Sünde gegen<br />

Gottes Liebe und Gebote verstanden.<br />

Schuld und Sünde kann vergeben werden.<br />

Schuld – was ist das?<br />

Subjektiv ist Schuld das Gefühl und die E<strong>in</strong>sicht,<br />

etwas Falsches, Unerlaubtes, Schädliches (Schändliches)<br />

getan oder Pflichten versäumt zu haben.<br />

Objektiv ist Schuld die feststellbare Vorwerfbarkeit<br />

von und die Verantwortung für moralisch oder gesetzlich<br />

Verbotenes. In Politik und Wirtschaft werden<br />

oft Fehler den Verursachern als Schuld zugerechnet.<br />

Das Wort wird auch für f<strong>in</strong>anzielle und juristische<br />

Leistungsverpflichtungen verschiedener Art gebraucht<br />

(„Anderen etwas schuldig bleiben“).<br />

Für menschliche Geme<strong>in</strong>schaft ist es lebensnotwendig,<br />

Schuld möglichst zu vermeiden und zu regulieren,<br />

wenn sie e<strong>in</strong>getreten ist oder besteht.<br />

Gründe für die Feststellung oder das Empf<strong>in</strong>den von<br />

Schuld ergeben sich aus der Vernunft (z.B. im Blick<br />

auf die Folgen e<strong>in</strong>es Verhaltens), aus den <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Gesellschaft geltenden Regeln und aus dem Glauben<br />

an Gott. Die Bewertung von Schuld und der<br />

Umgang damit ist weitgehend klar geregelt, aber<br />

doch im e<strong>in</strong>zelnen oft sehr schwierig. Es ist häufig<br />

strittig, was als Schuld angesehen wird und wie<br />

schwer sie wiegt („Ich b<strong>in</strong> mir ke<strong>in</strong>er Schuld bewusst.“)<br />

So problematisch die Feststellung und damit Abgrenzung<br />

von Schuld auch ist, so hat sie doch den<br />

Vorteil, dass zwischen dem Menschen und se<strong>in</strong>er<br />

Schuld unterschieden werden kann. Ke<strong>in</strong> Mensch ist<br />

ganz schlecht.<br />

Schuldgefühle können Menschen erheblich belasten<br />

und werden <strong>des</strong>halb oft <strong>in</strong> das Unbewusste verdrängt.<br />

Schuldzuweisung soll die Verantwortlichkeit<br />

für verbotenes oder auch nur unerwünschtes Verhalten<br />

feststellen, um durch entsprechende Strafen<br />

e<strong>in</strong>e Wiederholung zu verh<strong>in</strong>dern oder, wenn möglich,<br />

e<strong>in</strong>e Wiedergutmachung herbei zu führen.<br />

Schuldfeststellung wird aber nicht nur rückwärts<br />

wirksam, sondern sie zeigt e<strong>in</strong>e Richtung für die<br />

beabsichtigte oder geforderte weitere Entwicklung<br />

auf („Bewährung“). Als schuldhaft bewertetes Handeln<br />

soll <strong>in</strong> Zukunft vermieden werden. Diesen S<strong>in</strong>n<br />

hat auch die oft gebrauchte Formel "Entschuldigung"<br />

.<br />

Sünde ist Schuld aus der Sicht <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />

Das Wort Sünde stammt aus religiösem Sprachgebrauch<br />

und wird heute neben dem Bezug auf Gott<br />

auch benutzt, um e<strong>in</strong>en Frevel gegenüber der Natur


oder der Menschlichkeit zu benennen Es bezeichnet<br />

e<strong>in</strong>en Verstoß gegen Gebote bzw. Verbote Gottes,<br />

die über menschliches Recht und Gesetz h<strong>in</strong>ausgehen.<br />

Das Verständnis e<strong>in</strong>er Handlung oder e<strong>in</strong>es<br />

Unterlassens als Sünde macht e<strong>in</strong>e größere Dimension<br />

bewusst als durch Moral oder Rechtsprechung<br />

erfasst wird. Darüber h<strong>in</strong>aus sehen und fühlen sich<br />

viele Christen (wie vor fast 500 Jahren Mart<strong>in</strong> Luther)<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dauernden und totalen Zustand <strong>des</strong><br />

Sündig- oder Sünder-Se<strong>in</strong>s gegenüber Gott.<br />

Umgangssprachlich wird oft als „Sünde“ bezeichnet,<br />

was zwar verboten, aber doch verlockend ist.<br />

Sünde ist im religiösen S<strong>in</strong>n aber e<strong>in</strong> ziemlich umfassen<strong>des</strong><br />

Wort. Es bezeichnet <strong>in</strong> der christlichen<br />

Religion nicht nur die e<strong>in</strong>zelne Übertretung e<strong>in</strong>es<br />

(göttlichen) Gebotes, sondern die Aufhebung der<br />

Geme<strong>in</strong>schaft mit Gott. Der Mensch will se<strong>in</strong> Leben<br />

ganz alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Hand nehmen. Der Mensch wird<br />

schuldig, weil er selbst "se<strong>in</strong> will wie Gott", er weist<br />

Gottes Liebe zurück und missachtet se<strong>in</strong>e Gebote.<br />

Diese können religiös-ethischer oder kultischritueller<br />

Art se<strong>in</strong>. In anderen Religionen (ohne Glauben<br />

an e<strong>in</strong>en persönlichen Gott) entsteht religiöse<br />

Schuld auch durch Verletzung von Tabu-Gesetzen<br />

oder durch die Störung e<strong>in</strong>er Ordnung. Sünde bedeutet,<br />

dass Menschen ohne Verb<strong>in</strong>dung und Übere<strong>in</strong>stimmung<br />

mit der größeren Wirklichkeit s<strong>in</strong>d, der<br />

sie ihr Leben verdanken: ohne ihren Schöpfer, entfremdet<br />

der Natur und im Kampf aller gegen alle.<br />

In der Bibel und <strong>in</strong> der Theologie wird unter Sünde<br />

im umfassenden S<strong>in</strong>n die Trennung von Gott verstanden,<br />

die Abwendung <strong>des</strong> Geschöpfes von se<strong>in</strong>em<br />

Schöpfer und die Absage <strong>des</strong> Menschen an<br />

den ihn liebenden Gott.<br />

Das Verständnis von Sünde und Schuld als Tat und<br />

Übertretung bzw. Unterlassung f<strong>in</strong>det meist <strong>in</strong> der<br />

personalen Form und Dimension der Beziehung zu<br />

Gott se<strong>in</strong>en Ausdruck. Das grundlegende menschliche<br />

Verhältnis oder Nicht-Verhältnis zu Gott als dem<br />

Leben und der Liebe, der Wahrheit und Gerechtigkeit<br />

lässt sich aber auch mit nicht-personalen Begriffen<br />

ansprechen, obwohl das noch sehr ungewohnt<br />

ist (s.unten und Kommunikation mit Gott).<br />

Auch wenn heute bei Fehlverhalten nicht mehr oder<br />

nicht hauptsächlich an Sünde gegenüber Gott gedacht<br />

wird, haben die meisten heutigen Gesellschaften<br />

doch e<strong>in</strong>e hochentwickelte Schuldkultur. Weit<br />

über die Rechtsprechung h<strong>in</strong>aus gibt es zahlreiche<br />

Bereiche, <strong>in</strong> denen man sich nach Regeln richten<br />

und mit Sanktionen rechnen muss, wenn man dagegen<br />

verstößt. Rechtsprechung, Moral, die Medien<br />

und die Modetrends richten darüber, wie akzeptiert<br />

jemand ist bzw. se<strong>in</strong>e Handlungen s<strong>in</strong>d.<br />

43<br />

Heute ist vieles, was früher als Sünde galt, liberalisiert<br />

(z.B. Homosexualität), und wahrsche<strong>in</strong>lich war<br />

das <strong>in</strong> christlich geprägten Gesellschaften nur möglich,<br />

weil und seitdem dafür ke<strong>in</strong> direkter Bezug<br />

mehr auf Gott angenommen wurde. Das Bewusstse<strong>in</strong>,<br />

dass unser Verhalten und Sose<strong>in</strong> weitere Auswirkungen<br />

und Folgen hat als wir erkennen und<br />

überblicken, ist aber nach wie vor relevant und offen.<br />

Und sei es nur die Ahnung davon, dass e<strong>in</strong> Gerichtsurteil<br />

oder die Beurteilung e<strong>in</strong>er moralischen<br />

Schuld nicht die letzte Bewertung gebracht hat. Die<br />

„Goldene Regel“, anderen gegenüber alles zu vermeiden,<br />

was man selbst nicht will, ist als Ideal anerkannt.<br />

Aber schwer zu verwirklichen.<br />

Vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>es evolutionären Gottesbilds<br />

kann Sünde nicht mehr als persönlicher Ungehorsam<br />

oder als Verletzung göttlichen Willens verstanden<br />

werden, da die Vorstellung Gottes als e<strong>in</strong>er<br />

mythologischen Person im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es göttlichen<br />

Gesetzgebers und Richters nicht mehr haltbar ist.<br />

(Stadelmann)<br />

Trotzdem kann der christliche Glaube durch die Beziehung<br />

der Schuld auf Gott dazu helfen, e<strong>in</strong>en größeren<br />

Zusammenhang <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> zu br<strong>in</strong>gen.<br />

(Sp<strong>in</strong>oza hat e<strong>in</strong>mal das Böse als "Auflösung <strong>des</strong><br />

Zusammenhangs" bezeichnet). Wird Gott z.B. als<br />

der Richter bezeichnet, so wird damit gerechnet,<br />

dass e<strong>in</strong> Schuldiger ganz anders, - d.h. aus e<strong>in</strong>er<br />

umfassenderen Perspektive - beurteilt werden<br />

kann, als e<strong>in</strong> Mensch oder e<strong>in</strong> Gericht das tut.<br />

Macht die christliche Lehre von der Sünde den Menschen<br />

schlecht?<br />

Der Mensch ersche<strong>in</strong>t im Licht der früheren kirchlichen<br />

Sündenlehre überwiegend als e<strong>in</strong> schuld- und<br />

sündenbeladene („elen<strong>des</strong>“, im Heidelberger Katechismus)<br />

Wesen – obwohl er andererseits bei se<strong>in</strong>er<br />

Erschaffung als das Ebenbild Gottes bezeichnet<br />

wird.<br />

Wir haben es beim christlichen Sündenverständnis<br />

mit der Unterscheidung von zwei Ebenen zu tun, mit<br />

dem weltlichen, juristisch-moralischen Schuldverständnis<br />

und se<strong>in</strong>er Begrenzung auf „Fehler“, die<br />

Menschen machen, und der größeren Dimension,<br />

wenn Sünde auf Gott bezogen wird.<br />

Dazu gehört dann auch, was wir anderen Menschen<br />

schuldig bleiben, z.B. den unterentwickelten Völkern<br />

oder Katastrophenopfern – und den kommenden<br />

Generationen! Durch Sünden kommen andere Mitmenschen<br />

immer direkt oder <strong>in</strong>direkt zu Schaden.<br />

Aber auch der „Sünder“ wird <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Persönlichkeit<br />

beschädigt und bee<strong>in</strong>trächtigt. Se<strong>in</strong>e Beziehung zu<br />

anderen Menschen und damit auch zu der größeren<br />

Wirklichkeit ersche<strong>in</strong>t gestört.


Die Metapher „Jüngstes Gericht“ ist e<strong>in</strong> Symbol für<br />

die weitreichenden Wirkungen von Fehlverhalten,<br />

z.B. Umweltzerstörung, Verschwendung.<br />

Auch das Denken und Wollen wird der Prüfung auf<br />

Sünde unterzogen und das nicht nur <strong>des</strong>halb, weil<br />

dar<strong>in</strong> Motive zu schuldhaftem Tun entstehen. Vielmehr<br />

geht es dabei um die gesamte Qualität e<strong>in</strong>es<br />

Individuums oder e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft. Dabei kam es<br />

<strong>in</strong> früherer Zeit besonders bei der Sexualität zu negativen<br />

Bewertungen, während z.B. nationalistisches<br />

Denken und Fremdenhass erst neuerd<strong>in</strong>gs als Sünde<br />

gelten.<br />

Die Aussage „Gott sieht alles“ (wie im „Wort zum<br />

Sonntag“ am 15.1.2012 betont) wurde früher <strong>in</strong>sbesondere<br />

bei der Erziehung von K<strong>in</strong>dern als Angst<br />

machende Drohung dazu benutzt, unerwünschtes<br />

Verhalten zu verh<strong>in</strong>dern. Nach neuerem Gottesverständnis<br />

wird Gott nicht (mehr) als allgegenwärtiger<br />

Aufpasser gebraucht, der jeden e<strong>in</strong>zelnen Gedanken<br />

e<strong>in</strong>es Menschen bewertet. Beim Blick auf Völkermorde,<br />

unfassbare Holocaust-Gräueltaten und mehr<br />

als 55 Millionen Tote im 2. Weltkrieg kann man auf<br />

das Böse schließen, das im Menschen steckt, auch<br />

wenn er Jahrzehntelang ganz friedlich und bürgerlich<br />

lebt; je mehr Böses ihm zugetraut wird, <strong>des</strong>to<br />

realistischer sollten alle Möglichkeiten der Vermeidung<br />

von Sünde und Schuld bedacht werden – gerade<br />

auch mit der Offenheit für die größere Dimension<br />

Gottes. Zu der dann aber auch das Staunen über<br />

die Schönheit und den Reichtum <strong>des</strong> Lebens gehört.<br />

Altertümliche Vorstellungen von Sünde als Symbole<br />

<strong>in</strong>terpretieren<br />

E<strong>in</strong>ige biblische und altertümliche Vorstellungen von<br />

Sünde – wie Sündenfall, Erbsünde und Sünde als<br />

Ursache <strong>des</strong> To<strong>des</strong> – s<strong>in</strong>d heute von ihrem (damaligen)<br />

Symbolgehalt her zu verstehen.<br />

Wer sich für die Annahme <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong><br />

und damit für Offenheit sowohl der eigenen Schuld<br />

gegenüber wie für den größeren Zusammenhang<br />

der Gerechtigkeit Gottes entschieden hat, muss<br />

auch mit dem Problem fertig werden, dass heute<br />

viele Kriterien der Schuldfeststellung <strong>in</strong>adäquat werden<br />

oder sich im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> bestimmter H<strong>in</strong>sicht<br />

als falsch oder als überflüssig herausstellen.<br />

Als Beispiele <strong>in</strong> rechtlicher H<strong>in</strong>sicht s<strong>in</strong>d hier die Reform<br />

<strong>des</strong> Ehescheidungs- und Familienrechtes sowie<br />

die Paragraphen über die Homosexualität oder<br />

die Abtreibung zu nennen, aber auch e<strong>in</strong> verändertes<br />

nationales Selbstbewusstse<strong>in</strong>, E<strong>in</strong>stellung zu<br />

M<strong>in</strong>oritäten und das Wirtschafts- und Arbeitsrecht.<br />

Neue Kriterien werden für den Umweltschutz und für<br />

Kriegsverbrechen und Völkermord entwickelt.<br />

44<br />

Der „Sündenfall“<br />

Nimmt man die Schöpfungserzählung der Bibel wörtlich,<br />

so verstieß das erste Menschenpaar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Urzustand gegen das Gebot Gottes, nicht von den<br />

Früchten <strong>des</strong> Baumes der Erkenntnis von Gut und<br />

Böse zu essen. Es wurde <strong>des</strong>halb aus dem als „Paradies“<br />

verstandenen „Garten Eden“ ausgestoßen.<br />

Die Geschichte soll erklären, wie das Böse <strong>in</strong> die<br />

Welt kam. Es ist lebensbedrohlich. Deshalb ist die<br />

Unterscheidung zwischen Gut und Böse für die Entwicklung<br />

<strong>des</strong> Lebens und das Überleben grundlegend<br />

und lebenswichtig. Etwas ausführlicher soll an<br />

diesem Beispiel e<strong>in</strong>e Fehlentwicklung <strong>des</strong> christlichen<br />

<strong>Glaubens</strong> dargestellt werden:<br />

Es ist e<strong>in</strong> bedauerliches, <strong>in</strong> der frühen Kirchengeschichte<br />

entstandenes Missverständnis, dass die<br />

Geschichte von der Versuchung zum Abfall von<br />

Gott, also zur Sünde, irgendetwas mit sexuellen Bedürfnissen<br />

zu tun habe. Gilt doch <strong>in</strong> der jüdischen<br />

Tradition Sexualität als hohes Gut, als gute Gabe<br />

<strong>des</strong> Schöpfers. E<strong>in</strong> zölibatär lebender Rabbi ist für<br />

das Judentum e<strong>in</strong>e unmögliche Vorstellung. Sexualität<br />

zu leben, gehört sogar mit zur Feier <strong>des</strong> Sabbats.<br />

Selbstverständlich kann Sexualität missbraucht werden.<br />

Je kostbarer das Geschenk, <strong>des</strong>to schmerzlicher<br />

se<strong>in</strong> Missbrauch. Aber das alle<strong>in</strong> kann nicht der<br />

Grund se<strong>in</strong> für die katastrophale Fehl<strong>in</strong>terpretation<br />

von Genesis 3 <strong>in</strong> der christlichen Tradition. In 1. Mose<br />

3,5 sagt die Schlange verführerisch: „Gott weiß:<br />

An dem Tag, da ihr davon esset … werdet ihr se<strong>in</strong>,<br />

wie Gott.“<br />

Das ist Sünde: Mehr se<strong>in</strong> zu wollen, als endlicher<br />

und darum gefährdeter Mensch, der gerade se<strong>in</strong>es<br />

Gefährdetse<strong>in</strong>s wegen – was bekanntlich Angst<br />

macht - den Traum von Omnipotenz und ewigem<br />

Leben träumt. Diese Hybris also: das ist Sünde!<br />

Diese Deutung <strong>des</strong> Sündenfall-Mythos wird bestätigt<br />

durch den Mythos vom Bau <strong>des</strong> Turms zu Babel.<br />

Dort, <strong>in</strong> Gen. 11,4, heißt es: “Wohlauf, lasst uns e<strong>in</strong>e<br />

Stadt und e<strong>in</strong>en Turm bauen (Sicherheitsbedürfnis!),<br />

<strong>des</strong>sen Spitze bis an den Himmel reicht (Se<strong>in</strong> wollen<br />

wie Gott!), „denn wir werden sonst zerstreut <strong>in</strong> alle<br />

Länder.“ Also wieder die Angst um die eigene Existenz<br />

im Gegensatz zum Vertrauen auf die uns tragende<br />

Kraft Gottes. Mit anderen Worten: Glaube<br />

oder Unglaube.<br />

Damit ist der Begriff „Sünde“ e<strong>in</strong>deutig def<strong>in</strong>iert: Aus<br />

der Angst um sich selber erwächst die Versuchung,<br />

sich zu sichern aus eigener Kraft und damit die Hybris,<br />

se<strong>in</strong> zu wollen wie Gott.<br />

Dieser Glaube, nur durch Leistung, Kraft und Stärke<br />

der eigenen Existenz Geltung, Anerkennung und<br />

damit Sicherheit geben zu können – mit anderen<br />

Worten, se<strong>in</strong>em Leben durch eigene Kraft S<strong>in</strong>n geben<br />

zu müssen, – hat unzählige Katastrophen über<br />

die Menschheit gebracht:


Aus Angst um sich selber, der Angst nämlich, vor<br />

Gott zu kurz zu kommen (<strong>in</strong> der Symbolgeschichte<br />

1.Buch Mose 4 Abels gegenüber se<strong>in</strong>em Bruder<br />

Ka<strong>in</strong>) , ermorden Menschen ihre Mitmenschen.<br />

Aus Angst vore<strong>in</strong>ander haben der Osten gegen den<br />

Westen und der Westen gegen den Osten die Welt<br />

bis an den Abgrund <strong>des</strong> geme<strong>in</strong>samen Untergangs<br />

atomar aufgerüstet.<br />

Aus Angst um die eigene Größe („Volk ohne Raum“)<br />

hat das nationalsozialistische Deutschland gesungen:<br />

“Heute gehört uns Deutschland, morgen die<br />

ganze Welt!“ - und mit Kriegen unermessliches Leid<br />

über die Welt gebracht.<br />

Erbsünde<br />

Sündig se<strong>in</strong> und sündigen wird im früheren Gottesverständnis<br />

zur totalen Disposition <strong>des</strong> Menschen:<br />

.... „me<strong>in</strong> Sünd mich quälte Tag und Nacht, dar<strong>in</strong> ich<br />

war geboren. Ich fiel auch immer tiefer dre<strong>in</strong>, es war<br />

ke<strong>in</strong> Guts am Leben me<strong>in</strong>, die Sünd hat mich besessen.“<br />

(Luther im Lied EG 341).<br />

Diese (aus religiöser Sicht) bei allen Menschen wirksame<br />

Grunde<strong>in</strong>stellung wurde als von Eltern „vererbt“<br />

auf K<strong>in</strong>der und K<strong>in</strong><strong>des</strong>k<strong>in</strong>der verstanden. Niemand<br />

kann sich dem Verhängnis entziehen, schuldig<br />

zu werden und niemand kann sich <strong>in</strong> eigener Kraft<br />

aus Schuld befreien. Dadurch ergab sich e<strong>in</strong>e Bedürftigkeit<br />

für Gnade und Erlösung <strong>des</strong> Menschen.<br />

Das vollzieht sich aber nicht durch natürliche Vererbung.<br />

Sünde als Ursache <strong>des</strong> To<strong>des</strong>?<br />

In der Schöpfungsgeschichte (1.Buch Mose Kap. 3)<br />

und bei Paulus (Der Tod ist der Sünde Sold. Röm<br />

6,23) wird die Sünde urgeschichtlich als Ursache<br />

<strong>des</strong> To<strong>des</strong> aufgefasst; sie hat nach diesem Verständnis<br />

pr<strong>in</strong>zipiell lebensfe<strong>in</strong>dliche Konsequenzen.<br />

Neuere theologische (!) Kritik an der christlichen<br />

Sündenlehre lehnt die damit meist verbundene<br />

Überbetonung der Verdorbenheit und Schlechtigkeit<br />

<strong>des</strong> Menschen ab. Immerh<strong>in</strong> haben Menschen durch<br />

die „Vertreibung aus dem Paradies“ durch die Evolution<br />

auch die Erkenntnismöglichkeit <strong>des</strong> Guten und<br />

nicht nur <strong>des</strong> Bösen mitbekommen. Die vor allem<br />

durch das Gedankengut der Aufklärung <strong>in</strong> vielen<br />

Verfassungen, <strong>in</strong>sbes. auch im deutschen Grundgesetz,<br />

verankerte Betonung der Würde <strong>des</strong> Menschen<br />

hat e<strong>in</strong>e positivere Sicht <strong>des</strong> Menschen hervorgebracht,<br />

die auch die christliche Auffassung vom Charakter<br />

<strong>des</strong> Menschen nicht unverändert gelassen<br />

hat. Insbesondere <strong>in</strong> der Erziehung hat sich die Auffassung<br />

durchgesetzt, dass es darum geht, alle guten<br />

und positiven Anlagen <strong>des</strong> K<strong>in</strong><strong>des</strong> zur Entfaltung<br />

zu br<strong>in</strong>gen und damit negativen E<strong>in</strong>flüssen und Entwicklungen<br />

von vornhere<strong>in</strong> den Boden zu entziehen,<br />

ohne aber gegenüber möglichen Fehlentwicklungen<br />

bl<strong>in</strong>d zu se<strong>in</strong>.<br />

45<br />

Vergebung gegen Schuld und Sünde<br />

Die Abgrenzung, Feststellung und Annahme <strong>in</strong>dividueller<br />

oder geme<strong>in</strong>samer Schuld geschieht bei<br />

Christen <strong>in</strong> der Hoffnung bzw. Gewissheit, dass es <strong>in</strong><br />

der größeren Wirklichkeit Gottes neuen Anfang und<br />

weiterführende Bewertungen gibt. In dem wohl bedeutsamsten<br />

Gebet Jesu heißt es: „Und vergib uns<br />

unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren<br />

Schuldigern.“ Er hat selbst noch am Kreuz denen<br />

vergeben, die ihn getötet haben.<br />

Vergebung ist als Verzicht auf Rache und Vergeltung<br />

(nicht nur von Machthabern!) e<strong>in</strong> Zivilisationsfortschritt.<br />

Es gibt sie auch <strong>in</strong> anderen Religionen.<br />

Sie wurde schon <strong>in</strong> der antiken Philosophie<br />

hoch bewertet.<br />

Es soll und kann nicht behauptet werden, dass die<br />

Möglichkeiten und Zielsetzungen der Vergebung nur<br />

aus dem christlichen Glauben kommen können.<br />

Aber sie können und sollten aus dieser Grunde<strong>in</strong>stellung<br />

konsequenterweise folgen und auch praktiziert<br />

werden.<br />

Für manche Christen ist Vergebung ke<strong>in</strong> Vorgang,<br />

der sich im Himmel abspielt, wo Gott – auf die Bitten<br />

von Menschen h<strong>in</strong> – Vergebung gewährt. Beatrice v.<br />

Weizsäcker dazu: „Gott muss uns nicht vergeben. Er<br />

braucht unser Flehen nicht. Wir s<strong>in</strong>d es, die es brauchen.<br />

Unsere Bitte an Gott, uns zu vergeben, ist letztlich<br />

nichts anderes als die Bitte, uns dabei zu helfen,<br />

unser schlechtes Gewissen loszuwerden und uns<br />

selbst zu verzeihen, unser „re<strong>in</strong>es Herz“ wiederzuf<strong>in</strong>den.<br />

E<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Herz bekommen wir nur, wenn wir<br />

ehrlich zu uns s<strong>in</strong>d, unsere Fehler bei uns suchen<br />

und zu ihnen stehen. E<strong>in</strong> Fehler wird nicht dadurch<br />

zum »Nichtfehler«, dass wir beten. E<strong>in</strong> Fehler wird<br />

zum »Nichtfehler«, wenn wir ihn erkennen und abstellen.<br />

Dann ist unser Herz wieder „re<strong>in</strong>“ - wenn<br />

natürlich auch nicht gefeit vor neuen Fehlern. E<strong>in</strong><br />

Gebet dient zwar immer der Suche nach Gott und<br />

der Bitte um Hilfe. Es dient aber auch der Selbstvergewisserung,<br />

der Selbstläuterung, wenn man so will.<br />

Es dient nicht Gott, sondern uns.<br />

Wenn es stimmt, dass Gott uns nimmt, wie wir s<strong>in</strong>d,<br />

müssen wir ihn auch nicht um Vergebung bitten. Da<br />

s<strong>in</strong>d wir selbst gefragt. Denn wir s<strong>in</strong>d es, die andere<br />

verdammen, andere kränken, die <strong>in</strong> »Versuchung«<br />

geraten, die »Böses« tun. Die »schuldig« werden<br />

und »Vergebung« brauchen, um <strong>in</strong> der Sprache <strong>des</strong><br />

Vaterunsers zu bleiben. So wenig wir das Böse <strong>in</strong><br />

der Welt und <strong>in</strong> uns auf Gott abwälzen können, so<br />

wenig können wir ihm die Vergebung aufbürden. E<strong>in</strong><br />

Gott, der weiß, was wir benötigen, noch ehe wir ihn<br />

darum bitten, der weiß auch, dass wir Vergebung<br />

brauchen.“<br />

Vergebung kann auch aus der Perspektive der<br />

Rechtfertigung von schuldigen bzw. sündigen Men-


schen betrachtet und erlebt werden. „Wie kriege ich<br />

e<strong>in</strong>en gnädigen Gott?“ war e<strong>in</strong>e existenzielle <strong>Glaubens</strong>frage<br />

Mart<strong>in</strong> Luthers, die er mit „Aus Gnade,<br />

nicht für Leistung und Werke“ beantwortete. Da geht<br />

es dann nicht mehr um Schuld und Sünde im E<strong>in</strong>zelfall,<br />

sondern um das gesamte Verhältnis von Menschen<br />

zu Gott. In diesem Zusammenhang wird die<br />

Gewährung von Vergebung mit Gnade begründet.<br />

Das widerspricht aber nicht der Beachtung von Formen<br />

der Erfahrung von Vergebung, wie sie <strong>in</strong> den<br />

folgenden Voraussetzungen für den Empfang von<br />

Vergebung dargestellt werden. (Die dafür von der<br />

Kirche entwickelte detaillierte Praxis der Gnadenverwaltung<br />

brachte allerd<strong>in</strong>gs viele Menschen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e mit dem christlichen Glauben unvere<strong>in</strong>bare Abhängigkeit.<br />

Mart<strong>in</strong> Walser hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em 2010<br />

erschienenen Buch „Rechtfertigung“ gezeigt, dass<br />

die Rechtfertigung auch ohne e<strong>in</strong>en Glauben an Gott<br />

im traditionellen S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong> elementares humanes Problem<br />

ist). -> Hoffnung über den Tod h<strong>in</strong>aus, Neuzeitliche<br />

Verstehensansätze.<br />

Voraussetzungen für den Empfang der Vergebung.<br />

Erkenntnis der Schuld bzw. der Sünde<br />

Schuld und Sünde werden im christlichen Glauben<br />

erkennbar durch die Beachtung der Gebote (Gottes),<br />

der „Goldenen Regel“ oder durch den E<strong>in</strong>fluss anderer<br />

vorbildlicher Personen, <strong>in</strong>sbesondere <strong>des</strong> Jesus<br />

von Nazaret, oder durch Begegnung mit Gott (wie es<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bekenntnis der Baptisten enthalten ist: „In<br />

der Begegnung mit Jesus Christus erfahren wir das<br />

Böse <strong>in</strong> uns und <strong>in</strong> gesellschaftlichen Strukturen als<br />

Sünde gegen Gott.“ (zit. nach Wikipedia).<br />

Beatrice v. Weizsäcker me<strong>in</strong>t (<strong>in</strong> „Ist da jemand?“),<br />

Vergebung von Gott sei unnötig, weil Gott niemand<br />

verdammt. Statt über Sünde gegenüber Gott nachzudenken<br />

sei es besser, die eigenen Fehler zu erkennen<br />

und abzustellen.<br />

Dazu kann auf die von Mitmenschen geübte Kritik<br />

verhelfen, auch wenn es meist schwer fällt, die anzunehmen.<br />

Schuld lässt sich häufig auch als Ursache für schädliche<br />

Wirkungen erkennen.<br />

Ohne Reue ke<strong>in</strong>e Vergebung<br />

Reue ist das Gefühl und/oder die Erkenntnis, falsch<br />

gehandelt zu haben, Unzufriedenheit, Abscheu,<br />

Schmerz und Bedauern über das eigene fehlerhafte<br />

Tun und Lassen, verbunden mit dem Bewusstse<strong>in</strong><br />

von <strong>des</strong>sen Unwert und Unrecht sowie mit dem Willensvorsatz<br />

zur (wenn möglich) Wiedergutmachung<br />

und Besserung.<br />

An vielen Bibelstellen ist aber von Reue als Voraussetzung<br />

zur Vergebung nicht ausdrücklich die Rede.<br />

Sie wird <strong>in</strong> frühchristlicher Zeit <strong>in</strong> der Annahme der<br />

Taufe ihren Ausdruck erhalten haben. (Petrus<br />

antwortete ihnen: Kehrt um und jeder von euch lasse<br />

46<br />

sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung<br />

se<strong>in</strong>er Sünden; dann werdet ihr die Gabe <strong>des</strong><br />

Heiligen Geistes empfangen.“ Apostelgeschichte<br />

2,38)<br />

Durch die Reue wird die Schulderkenntnis <strong>in</strong> den<br />

größeren Zusammenhang <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> gestellt.<br />

Psychologisch gesehen kann langes und stark empfundenes<br />

Bedauern e<strong>in</strong>er als schuldhaft bewerteten<br />

Tat oder Unterlassung zu erheblichen Persönlichkeitsstörungen<br />

führen.<br />

Im rechtlichen Bereich kann gezeigte (<strong>in</strong>sbesondere<br />

„tätige“) Reue das Strafmaß verr<strong>in</strong>gern.<br />

Reue wird e<strong>in</strong>geschränkt oder verh<strong>in</strong>dert durch die<br />

Neigung schuldig gewordener Menschen, sich zu<br />

ihrer Entlastung zu „entschuldigen“, <strong>in</strong>dem sie das<br />

Vergehen als nicht so schlimm, teilweise berechtigt<br />

oder gar nicht als Schuld anerkennen. Sehr oft wird<br />

auch auf e<strong>in</strong>e Mitschuld <strong>des</strong> Opfers bzw. e<strong>in</strong>es<br />

schuldhaft Geschädigten, z.B. bei sexuellem Missbrauch,<br />

h<strong>in</strong>gewiesen bzw. e<strong>in</strong>e solche behauptet<br />

(was oft zu großen seelischen Problemen bei den<br />

Opfern führt). Der Glaube wird dafür ke<strong>in</strong>e Begründung<br />

zulassen, die nur der eigenen Entschuldigung<br />

dienen soll.<br />

Im Bewusstse<strong>in</strong> größerer Wirklichkeit gibt es die<br />

Bitte um Vergebung für Schuld und Sünden, die<br />

auch Gläubigen nicht bewusst s<strong>in</strong>d oder nicht erkannt<br />

werden („Jeder ist an allem schuld“ lautet e<strong>in</strong><br />

Ausspruch <strong>des</strong> Dichters Dostojewski).<br />

Vergebung empfängt nur wer selbst anderen vergibt.<br />

„..und vergib uns unsere Schuld, ... wie auch wir<br />

vergeben unseren Schuldigern“ heißt es im Vaterunser-Gebet<br />

Jesu.<br />

Voraussetzung für den Empfang von Vergebung von<br />

Gott ist, dass e<strong>in</strong> Mensch selbst auch anderen vergibt,<br />

die an ihm/an ihr oder anderen oder an der<br />

Umwelt schuldig geworden s<strong>in</strong>d.<br />

Formen <strong>des</strong> Zuspruchs und Empfangs von Vergebung<br />

Nach evangelischem Verständnis wird <strong>in</strong> der Feier<br />

<strong>des</strong> Abendmahls Vergebung zugesprochen und<br />

empfangen. Das zeigen die sog. E<strong>in</strong>setzungs-Worte:<br />

„...für euch gegeben und vergossen zur Vergebung<br />

der Sünden.“ Dazu Luther <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Katechismus:<br />

„Und wer diesen Worten glaubt, der hat, was sie<br />

sagen und wie sie lauten, nämlich: Vergebung der<br />

Sünden.“<br />

Es ist also für den christlichen Glauben ke<strong>in</strong> (notwendigerweise<br />

öfters erfolgender) Akt Gottes nötig,<br />

der nach e<strong>in</strong>er Prüfung, ob die Reue ausreichend ist<br />

oder nicht, über die Gabe der Vergebung im E<strong>in</strong>zelfall<br />

entscheidet.


Diese kann vielmehr auch <strong>in</strong> der Zusage bzw. im<br />

Verhalten e<strong>in</strong>es anderen (nicht nur:!) Christen oder<br />

e<strong>in</strong>es Amtsträgers (z.B. bei e<strong>in</strong>er Beichte oder<br />

Abendmahlsfeier, im Gespräch) oder durch unmittelbare<br />

Erfahrung von Gottes Zuwendung <strong>in</strong> Gebet<br />

und Kontemplation empfangen werden.<br />

Auch durch das Lesen entsprechender Stellen <strong>in</strong> der<br />

Bibel kann die Gewissheit entstehen, Vergebung<br />

von Sünden zu empfangen; oder wenigstens deren<br />

Möglichkeit zu erkennen.<br />

Gläubige können Vergebung für alle Sünden, für alle<br />

Schuld und alle Menschen für möglich halten, obwohl<br />

es für menschliche Erkenntnis viel „Unentschuldbares“<br />

gibt. Sie sehen eigene und fremde<br />

Sünde und Schuld im größeren Zusammenhang der<br />

Wirklichkeit Gottes „aufgehoben“, auch wenn ihnen<br />

das im E<strong>in</strong>zelfall (und besonders bei großen Verbrechen)<br />

nur <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Ansätzen und Schritten möglich<br />

ist.<br />

Die Frage, wie Schuld und Sünde zu beurteilen (und<br />

damit zu leben!) ist, wenn sie vergeben und bestraft<br />

worden s<strong>in</strong>d, wird heute mehr <strong>in</strong> Talkshows behandelt<br />

als <strong>in</strong> der Kirche und Theologie. Das ist anzuerkennen,<br />

weil dadurch Möglichkeiten der Reflexion<br />

und Verarbeitung von Schuld bekannt werden und<br />

dabei meistens sowohl die Schuldigen wie auch die<br />

„Opfer“ zu Wort kommen. Zuschauer können sich im<br />

Abstand als Unbeteiligte eigene Gedanken zu diesem<br />

schwierigen Thema machen und Anregungen<br />

zu e<strong>in</strong>em verantwortungsbewussten Umgang mit<br />

eigener Schuld mitnehmen.<br />

Von vergangenheitsorientierten E<strong>in</strong>stellung zu neuen<br />

Wegen<br />

Vergebung bedeutet die Zurückstellung e<strong>in</strong>er ichbezogenen,<br />

vergangenheits- und normorientierten E<strong>in</strong>stellung,<br />

auch dort, wo sie im Augenblick berechtigt<br />

ersche<strong>in</strong>t. Vielmehr wird e<strong>in</strong>e offene, zukunftsbezogene<br />

und zusammenhangorientierte Sachlichkeit<br />

angestrebt, die sich geme<strong>in</strong>sam mit dem/den anderen<br />

um die Lösung der anstehenden Probleme bemüht,<br />

<strong>in</strong>dem neue Wege gesucht und soviel H<strong>in</strong>dernisse<br />

wie möglich ausgeschaltet werden. Christen<br />

lassen es nicht nur bei Verurteilung, Bestrafung und<br />

Wiedergutmachung bewenden. Das ist allerd<strong>in</strong>gs<br />

e<strong>in</strong>e sehr anspruchsvolle E<strong>in</strong>stellung, die viel Gedankenarbeit<br />

erfordert und sicher auch oft enttäuscht<br />

wird und erfolglos bleibt.<br />

Der sündige Mensch ist nach diesem Verständnis<br />

nicht als ganzer schlecht, d.h. nicht mit se<strong>in</strong>er<br />

Schuld identisch. Das kommt auch <strong>in</strong> zahlreichen<br />

Worten der Bibel für Vergebung von Schuld zum<br />

Ausdruck, z.B. waschen, re<strong>in</strong>igen, abwaschen, bedecken,<br />

wegnehmen, wegschaffen). Der allgeme<strong>in</strong>e<br />

Begriff der Schuld erlaubt <strong>in</strong> der Anwendung auf den<br />

E<strong>in</strong>zelfall vielfache Differenzierungen.<br />

In der Offenheit <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> für MEHR und größere<br />

Wirklichkeit wächst die Fähigkeit und die Bereit-<br />

47<br />

schaft, Fehler zuzugeben und zu korrigieren, weil<br />

und wenn es nicht nur um die eigene Person geht.<br />

Den größeren Zusammenhang sehen – das ist<br />

schon e<strong>in</strong> Schritt im gelebten Glauben an Gott. Ob<br />

man es so nennt oder nicht.<br />

Auf gegenseitiges Aufrechnen von Schuld verzichten<br />

Der christliche Glaube geht davon aus, dass wir vielen<br />

anderen im Vergleich zu unseren Gaben und<br />

Möglichkeiten etwas schuldig bleiben und sie uns.<br />

Der Glaube als Offenheit br<strong>in</strong>gt aber auch die Möglichkeit,<br />

das gegenseitige Aufrechnen der größeren<br />

oder kle<strong>in</strong>eren Schuld aufzugeben, weil er die<br />

Konflikte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em größeren Zusammenhang sieht.<br />

E<strong>in</strong>e Verständigung braucht nicht mehr daran zu<br />

scheitern, dass die Schuld <strong>des</strong> oder der anderen als<br />

etwas größer als me<strong>in</strong>e eigene angesehen wird.<br />

Vergebung ist e<strong>in</strong>e konstruktive soziale Methode<br />

Vergebung ist die Erfahrung <strong>in</strong> der Offenheit <strong>des</strong><br />

<strong>Glaubens</strong>, dass es e<strong>in</strong>en Ausweg aus dem ke<strong>in</strong>e<br />

kreative und weiterführende Lösung erlaubenden<br />

Zwang der Normen und Gesetze gibt. Durch Aussprache,<br />

Bereuen und Vergeben <strong>in</strong> versöhnlicher,<br />

friedlicher Weise wird zur Konfliktlösung beigetragen,<br />

bis h<strong>in</strong> zur praktizierten Fe<strong>in</strong><strong>des</strong>liebe. In vielen<br />

Gleichnissen Jesu (z.B. Mt. 18,21 ff, Lk. 15,11) ist<br />

die Möglichkeit dieses Verhaltens <strong>in</strong> Bildern und<br />

Modellen beschrieben. Jesus hat die Möglichkeit der<br />

"Vergebung" vertreten bis zu der Konsequenz, dass<br />

er nicht verstanden und getötet wurde. Mit Jesus ist<br />

e<strong>in</strong> Anfang gemacht, der vielen Menschen dieses<br />

Verhalten der Solidarität und Vermittlung ermöglicht.<br />

Es ist ke<strong>in</strong>e herablassende Überlegenheit damit verbunden<br />

("Ich vergebe dir..."), vielmehr entspricht der<br />

Vergebung die sachlich und menschlich begründete<br />

Wahl e<strong>in</strong>er weiterführenden, konstruktiven, sozialen<br />

Methode, zu der auch andere e<strong>in</strong>geladen werden (<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Lexikon-Artikel wird sie als "Strategie" bezeichnet.<br />

Diese kann u.a. unterstützt werden durch<br />

die Methode der Mediation).<br />

Schuld zugeben – nur wenn es gar nicht anders<br />

geht?<br />

Der christliche Glaube befähigt zum Zugeben von<br />

Schuld<br />

Die Zusage der Vergebung Gottes erleichtert gläubigen<br />

Christen das Zugeben von Schuld – oder sollte<br />

das umso mehr dann tun, wenn die anderen Beteiligten<br />

auch Christen s<strong>in</strong>d. (Statt<strong>des</strong>sen wurden aber<br />

lange Zeit unter Christen Schuldvorhaltungen im<br />

Übermaß produziert.)<br />

Durch den exemplarischen Vollzug allgeme<strong>in</strong>er<br />

Schuldfeststellung im entspannten Feld der Geme<strong>in</strong>de<br />

bzw. <strong>des</strong> Gottesdienstes kann das Zugeben<br />

von Schuld im E<strong>in</strong>zelfall und sogar gegenüber dem<br />

Gegner vorbereitet und erleichtert werden.


Für die wissenschaftliche Arbeit ist das E<strong>in</strong>geständnis<br />

von Fehlern und das "Umdenken" hochbewertete<br />

Voraussetzung, <strong>in</strong> der Praxis <strong>des</strong> Alltags (und bei<br />

kirchlichen Ause<strong>in</strong>andersetzungen!) ist es allerd<strong>in</strong>gs<br />

immer noch selten. Deshalb ist es Aufgabe der Kirche,<br />

den Funktionswert <strong>des</strong> Zugebens von Schuld<br />

allgeme<strong>in</strong> und im E<strong>in</strong>zelfall aufzuzeigen, nicht zuletzt<br />

auch durch das eigene Beispiel. Das Zugeben von<br />

Schuld kann e<strong>in</strong>e Aggressionshemmung beim Gegner,<br />

Freund und „Bruder" bewirken. Das br<strong>in</strong>gt meist<br />

auch e<strong>in</strong>e Versachlichung <strong>des</strong> Problems, welches<br />

durch das Zugeben der eigenen Schuld besser <strong>in</strong><br />

den Blick kommt. Bei anderen kann sich auch e<strong>in</strong><br />

Interesse für die Grundhaltung entwickeln, aus der<br />

heraus Schuld zugegeben wird (und werden kann!).<br />

Wer das Zugeben von Schuld geübt hat und das<br />

<strong>des</strong>halb auch bei anderen nicht als Blöße ausnutzt,<br />

wird nicht aggressiv oder angstvoll, sondern mit Interesse<br />

und offen reagieren, wenn er auf eigene<br />

Schuld angesprochen wird. Er oder sie wird gar nicht<br />

mit sich selbst alle<strong>in</strong> abmachen wollen, was eigene<br />

Schuld ist und wie sie verarbeitet oder getilgt<br />

werden kann, weil durch die Offenheit <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />

größere Zusammenhänge erkennbar werden.<br />

Schwere Schuld ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> harter Prüfste<strong>in</strong> für<br />

die Solidarität, Geme<strong>in</strong>schaft und Kommunikation<br />

mit anderen, auch wenn Vergebung ausgesprochen<br />

wird. So wird z.B. der Verlust e<strong>in</strong>es Menschen durch<br />

Mord u.U. durch nichts zu ersetzen oder zu kompensieren<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Die Frage nach der ethischen Disposition <strong>des</strong> Menschen<br />

für gutes und böses Handeln wird aber zunehmend<br />

ohne Bezug auf die „theologische Dimension<br />

Gott“ gestellt. Dies steht im Zusammenhang mit<br />

dem Vorwurf, gerade das Christentum habe e<strong>in</strong>e<br />

Schuldkultur entwickelt, die nicht zuletzt der Kirche<br />

durch Erzeugung von übermäßigem Schuldbewusstse<strong>in</strong><br />

zu e<strong>in</strong>er ihr nicht zukommenden Macht<br />

über die Menschen verholfen habe.<br />

Vergebung ist nicht abhängig von Gegenleistung<br />

Es ist e<strong>in</strong>e wesentliche Besonderheit der christlichen<br />

Vergebung, dass der Glaube an diese Möglichkeit<br />

und die Wahl <strong>des</strong> entsprechenden eigenen Verhaltens<br />

nicht von der Bereitschaft der Konfliktpartner,<br />

e<strong>in</strong> Gleiches zu tun, abhängig gemacht wird. Vielmehr<br />

rechnet der Christ damit, dass e<strong>in</strong>e erhebliche<br />

Vorgabe eigenen E<strong>in</strong>satzes <strong>in</strong> dieser Richtung notwendig<br />

ist, um bei der meist tiefgehenden normativen<br />

Fixierung menschlichen Handelns auch bei anderen<br />

e<strong>in</strong>e Veränderung <strong>des</strong> Verhaltens zu ermöglichen.<br />

Dieses Verhalten entspricht der Zusage, dass<br />

die Vergebung Gottes ohne Bed<strong>in</strong>gungen oder Gegenleistung<br />

gewährt wird.<br />

Auf dem Weg zu e<strong>in</strong>er neuen Schuldkultur<br />

48<br />

Schuld zugeben – wer tut das schon gerne, wenn<br />

Nachteile damit verbunden s<strong>in</strong>d?<br />

Schuldigwerden und Sündhaftigkeit gegenüber Gott<br />

war früher e<strong>in</strong> Hauptthema <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>. Heute<br />

wird es fast immer auf Mitmenschen, auf andere, auf<br />

den Nächsten, auf die Gesellschaft bezogen, neuerd<strong>in</strong>gs<br />

aber auch auf die Natur, auf unsere Erde.<br />

Viele stellen sich aus der Sicht ihres <strong>Glaubens</strong> u.a.<br />

folgenden Fragen:<br />

Wie gehen wir verantwortungsvoll mit unserem<br />

täglichen Schuldigwerden um?<br />

Welchen Wert hat und was bewirkt Vergebung?<br />

Wie br<strong>in</strong>gen wir die Bereitschaft auf, erlebte<br />

Schuld anderer zu verzeihen?<br />

Kann der persönliche Glaube dabei helfen?<br />

Kann man Vergebung anderer mit dem H<strong>in</strong>weis<br />

auf deren hohe Bewertung im christlichen Glauben<br />

erbitten?<br />

Welche Bedeutung hat Jesus für Christen bei<br />

dieser Frage ?<br />

Der Begriff „Sünde“ br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en größeren Zusammenhang<br />

<strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> als der Begriff „Schuld“.<br />

Mit Schuld bezeichnet man <strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong> konkretes<br />

Fehlverhalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Situation, mit<br />

Sünde e<strong>in</strong>en Zustand der Gottferne, der Isolation<br />

vom größeren Zusammenhang.<br />

Der christliche Glaube trägt durch die Beziehung der<br />

Schuld auf Gott dazu bei, e<strong>in</strong>en größeren Zusammenhang<br />

<strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> zu br<strong>in</strong>gen. Wenn Gott<br />

als der Richter bezeichnet und geglaubt wird, so<br />

muss damit gerechnet werden, dass e<strong>in</strong> Schuldiger<br />

ganz anders beurteilt werden kann, als ich das tue<br />

oder e<strong>in</strong> Gericht. Wenn zum Beispiel durch falsches<br />

Überholen auf der Autobahn e<strong>in</strong> schwerer Unfall<br />

passiert und die Autobahn für Stunden blockiert ist,<br />

so wird der/die Schuldige strafrechtlich und zivilrechtlich<br />

zur Verantwortung gezogen. Der Verlust<br />

der fast tausend Wartenden an Zeit, verabredeten<br />

Begegnungen, Geschäften oder Erfahrungen wird<br />

dadurch nicht erfasst und meist nicht e<strong>in</strong>mal bedacht.<br />

Schuldig auch ohne Sünde<br />

Auch wenn heute bei Fehlverhalten häufig nicht<br />

mehr an Sünde gegenüber Gott gedacht wird, spielen<br />

<strong>in</strong> den meisten modernen Gesellschaften<br />

Schuldzuweisungen doch e<strong>in</strong>e große Rolle. Vor allem<br />

die Medien s<strong>in</strong>d die Rechercheure und Ankläger,<br />

die Stammtische und Talkshows s<strong>in</strong>d die gnadenlosen<br />

Richter. Schuldbekenntnisse und Rücktritt<br />

lassen das Strafmass erkennen. Meist gibt es ke<strong>in</strong>e<br />

mildernden Umstände. Viele <strong>in</strong> Ungnade Gefallene<br />

s<strong>in</strong>d aber nach kurzer Zeit wieder da und obenauf.<br />

Man hat ja se<strong>in</strong>en Spaß daran. Wem s<strong>in</strong>d schon<br />

größere Zusammenhänge zugänglich? Christen<br />

werden jedenfalls danach fragen und daran denken


dass es sie gibt, auch wenn sie nur im Ansatz zugänglich<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Emotionale Abwertung der Gegenseite und Vergeltung<br />

vermeiden<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich s<strong>in</strong>d es nicht so sehr die objektiven<br />

Schwierigkeiten der durch Konflikte oder Schuld<br />

entstehenden Probleme, sondern die Fixierung auf<br />

Schuldprojektionen, die e<strong>in</strong>e für alle Beteiligten<br />

günstige geme<strong>in</strong>same Lösung verh<strong>in</strong>dern.<br />

Emotionale Abwertung von (tatsächlich oder vermutlich)<br />

"Schuldigen" bewirkt meist auch e<strong>in</strong>e Ablenkung<br />

von der Erkenntnis neuer Möglichkeiten und<br />

Wege. Auch die Vergeltung kann nicht als konstruktive<br />

Problemlösung angesehen werden. (Das zu<br />

glauben und zu realisieren fällt besonders angesichts<br />

großer und schrecklicher Verbrechen immer<br />

wieder schwer, <strong>in</strong>sbesondere gegenüber dem Terrorismus<br />

<strong>in</strong> den letzten Wochen. Was wäre nach dem<br />

2.Weltkrieg aus Deutschland geworden, wenn von<br />

den Siegermächten nur Vergeltung geübt worden<br />

wäre?)<br />

12. Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht,<br />

Ewiges Leben<br />

Können wir aus dem <strong>Glaubens</strong>bekenntnis Passagen<br />

auslassen, nur „weil es uns heute schwer fällt, an<br />

Auferstehung und Ewiges Leben zu glauben?“ Ist<br />

e<strong>in</strong> christlicher Glaube auch ohne Auferstehung der<br />

Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben und Jenseits<br />

möglich? Es wird zwar heute weitgehend auf bildhafte<br />

Vorstellungen zu diesen <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halten verzichtet<br />

(wie z.B. <strong>in</strong> „Hoffen über den Tod h<strong>in</strong>aus?“),<br />

aber positive Aussagen und Interpretationen dazu<br />

s<strong>in</strong>d selten. Die folgende zum Thema „Jüngstes Gericht“<br />

versucht e<strong>in</strong>e Erklärung ohne „Jenseits“.<br />

Viele neue Formulierungen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>bekenntnisses<br />

lassen die Auferstehung der Toten und das<br />

Ewige Leben bewusst aus.<br />

Können wir aus dem <strong>Glaubens</strong>bekenntnis Passagen<br />

auslassen, nur „weil es uns heute schwer fällt, an<br />

Auferstehung und Ewiges Leben zu glauben?“<br />

Viele, die den Glauben an Auferstehung und ewiges<br />

Leben unverändert beibehalten wollen, sehen <strong>in</strong> der<br />

Frage, ob „heute noch“ an dies oder jenes geglaubt<br />

werden kann oder nicht, ke<strong>in</strong>e für den Glauben relevante<br />

Kategorie.<br />

Denn für sie ist „es sehr wohl möglich, und kommt<br />

vor, dass die Vergangenheit sich e<strong>in</strong>er Wahrheit<br />

bewusst war, die von der Gegenwart vergessen<br />

wurde – und die trotzdem wahr bleibt. Ganz abgesehen<br />

von dem, was <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kollektiven Unterbe-<br />

49<br />

wussten wirksam aufbewahrt se<strong>in</strong> mag.“ Es wird zu<br />

bedenken gegeben:<br />

„Wenn die Sünde oder das Böse heute unpopuläre<br />

und fast unverständlich gewordene Begriffe s<strong>in</strong>d,<br />

beschreiben sie gleichwohl wesentliche Realitäten,<br />

die e<strong>in</strong>er anderen Beschreibung nicht e<strong>in</strong>fach zugänglich<br />

s<strong>in</strong>d. Wenn das Heute nichts mehr mit ihnen<br />

anfangen kann, umso schlimmer für das Heute.“<br />

Man wird es sich also nicht leicht machen können<br />

mit eigenen, neuen <strong>Glaubens</strong>weisen (wie dies z.B.<br />

Beatrice v. Weizsäcker <strong>in</strong> ihrem Buch „Ist da jemand?“<br />

tut: „Wir brauchen Gott nicht um Vergebung<br />

zu bitten, weil er niemanden verdammt.“).<br />

Versuche mit e<strong>in</strong>er neueren Interpretation der <strong>Glaubens</strong>sätze<br />

zu „Auferstehung der Toten“ und „Ewigem<br />

Leben“ s<strong>in</strong>d auch dadurch erschwert, dass dar<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Infragestellung der leiblichen Auferstehung<br />

Jesu gesehen wird. Das fällt dann unter das Verdikt<br />

<strong>des</strong> Apostels Paulus: „Wenn aber Christus nicht<br />

auferweckt worden ist, dann ist unsere Verkündigung<br />

leer und euer Glaube s<strong>in</strong>nlos.“<br />

Auferstehung, Ewiges Leben und auch das „Jüngste<br />

Gericht“ können aber durchaus so <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em übertragenen<br />

S<strong>in</strong>n so <strong>in</strong>terpretiert werden, dass das Wesentliche<br />

<strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> erhalten bleibt und aktualisiert<br />

wird.<br />

In der Frage nach dem ewigen Leben waren Antike<br />

und Judentum weith<strong>in</strong> illusionslos von der Vergänglichkeit<br />

und der Sterblichkeit alles Irdischen überzeugt<br />

(nicht aber das alte Ägypten, das ausgeprägte<br />

Jenseitsvorstellungen hatte und von dem sicher E<strong>in</strong>flüsse<br />

auf das Christentum ausg<strong>in</strong>gen) und setzten<br />

ke<strong>in</strong>e Hoffnung auf die allenfalls schattenhafte Existenz<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Unterwelt. Trotzdem suchen viele<br />

auch heute nach e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Lebens, der durch<br />

die Sterblichkeit nicht zunichte gemacht wird. E<strong>in</strong><br />

solcher ist wohl nur zu f<strong>in</strong>den, wenn e<strong>in</strong> Bezug zum<br />

„Ewigen“ als e<strong>in</strong>em wichtigen Prädikat Gottes bzw.<br />

e<strong>in</strong>er größeren Wirklichkeit gesehen wird.<br />

An e<strong>in</strong>e (mehr oder weniger „leibliche“) Auferstehung<br />

der Toten und Ewiges Leben zu glauben ist für<br />

e<strong>in</strong> gutes Leben <strong>in</strong> der Welt <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> und <strong>des</strong><br />

Vertrauens nicht nötig, aber auch nicht h<strong>in</strong>derlich.<br />

Wer To<strong>des</strong>ängste durch den Glauben an Auferstehung<br />

und ewiges Leben besänftigen kann, hat damit<br />

e<strong>in</strong> wirkungsvolles Instrument gegen derartige Erfahrungen.<br />

Es bietet viele Chancen und Möglichkeiten<br />

zur (Selbst-)Reflexion und Abwehr e<strong>in</strong>er Abwertung<br />

und Bee<strong>in</strong>trächtigung <strong>des</strong> Lebens.<br />

Bilder für das Ewige?<br />

Der protestantische Theologe und Religionsphilosoph<br />

Paul Tillich (1886-1965) def<strong>in</strong>iert Spiritualität<br />

möglichst weit und umgreifend als das, »was auf das<br />

höchste Anliegen e<strong>in</strong>es Menschen verweist und das,<br />

was uns unbed<strong>in</strong>gt angeht«. Das Wesen der Religi-


on besteht nach Tillich dar<strong>in</strong>, dass sie sich mit dem<br />

Ewigen befasst .<br />

Das Wort (oder der Wortteil) „Ewig“ ist dabei nicht<br />

nur unreflektiert als Zeitdauer und Zeit- und Raumüberschreiten<strong>des</strong><br />

zu verstehen und zu gebrauchen,<br />

sondern als Bezeichnung e<strong>in</strong>er anderen Dimension<br />

<strong>des</strong> Lebens, Denkens und Fühlens. Für den christlichen<br />

Glauben ist Gott „ewig“, durch ihn gibt es die<br />

über unser Zeitempf<strong>in</strong>den h<strong>in</strong>aus gehende „Ewigkeit“.<br />

Weil Zeit- und Raumloses nicht vor- und darstellbar<br />

ist, s<strong>in</strong>d Bilder für das damit Geme<strong>in</strong>te entstanden,<br />

wie Jenseits, Auferstehung der Toten,<br />

Jüngstes Gericht, Himmel, Hölle und ewiges Leben<br />

(<strong>in</strong> vielen Kirchen anschaulich und bildhaft dargestellt).<br />

Sie werden (aber heute außer z.T. im <strong>Glaubens</strong>bekenntnis<br />

und im Vaterunser, <strong>in</strong> Gottesdiensten<br />

und bei Bestattungen), kaum oder gar nicht<br />

mehre gebraucht, lassen sich aber, zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t <strong>in</strong><br />

ihrer früheren Funktion, erklären. Das Jenseits und<br />

die Bewertung der Lebensführung wurde von vielen<br />

Menschen sowohl als Hoffnung wie auch als Bedrohung<br />

empfunden, sehr häufig auch als ganz reales<br />

Geschehen, bzw. zu Erwarten<strong>des</strong>. Sie glaubten,<br />

dass es über, h<strong>in</strong>ter den Räumen <strong>des</strong> alltäglichen<br />

Lebens (im „Jenseits“) noch e<strong>in</strong>e andere, höhere<br />

Dimension von Zeit und Raum gibt, die zwar für<br />

Menschen unzugänglich und nicht verstehbar ist,<br />

aber die doch schon Verb<strong>in</strong>dung mit dem jetzigen<br />

Leben hat.<br />

In dieser Sammlung von „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“<br />

wird versucht, an zwei Beispielen zu zeigen, wie die<br />

im <strong>Glaubens</strong>bekenntnis stehende Aussage „... wird<br />

er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten“<br />

heute verstanden werden kann, ohne sie mit bildhaften<br />

Vorstellungen wörtlich zu nehmen.<br />

Das Jüngste Gericht – die größere Wirklichkeit<br />

Bei e<strong>in</strong>er Reise der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong><br />

durch Südburgund waren mehrfach an den<br />

E<strong>in</strong>gängen romanischer und gotischer Kirchen Darstellungen<br />

<strong>des</strong> Jüngsten Gerichts zu sehen: Jesus,<br />

dem Gott nach der Bibel das am Jüngsten Tag stattf<strong>in</strong>dende<br />

Gericht über alle Lebenden und Toten<br />

übertragen hat, sitzt oder steht erhöht. Unter ihm zur<br />

Rechten diejenigen, die zur ewigen Seligkeit bestimmt<br />

s<strong>in</strong>d, zur L<strong>in</strong>ken, schon <strong>in</strong> den Fängen<br />

schrecklicher Ungeheuer, die Verdammten. Alle waren<br />

bee<strong>in</strong>druckt und dachten daran, dass Jesus zu<br />

den Ungerechten sagt: „Geht weg von mir, ihr Verfluchten,<br />

<strong>in</strong> das ewige Feuer“. Dagegen dürfen die<br />

Gerechten <strong>in</strong> das ewige Leben e<strong>in</strong>gehen (nach Matthäus<br />

25).<br />

Man freute sich über die Erklärung, dass im Tympanon<br />

der Kirche <strong>in</strong> Autun unten auf der rechten Seite<br />

mehr Platz für Gerechte war als auf der höllischen<br />

L<strong>in</strong>ken, und schmunzelte bei der Er<strong>in</strong>nerung daran,<br />

50<br />

unter den Verdammten auch schon mal e<strong>in</strong>en Mann<br />

mit Bischofsmütze gesehen zu haben.<br />

Aber kaum jemand unter den Reiseteilnehmern wird<br />

heute noch e<strong>in</strong> Weltende dieser Art erwartet haben.<br />

Welche Bedeutung hat die Vorstellung vom Jüngsten<br />

Gericht noch für Gläubige unserer Zeit? Ist der<br />

Jüngste Tag der Übergang <strong>in</strong> die Ewigkeit?<br />

Wir rechnen nicht mehr oder kaum noch (wie viele<br />

Menschen im Altertum und z.T. im Mittelalter) mit<br />

e<strong>in</strong>em bald bevorstehenden Weltuntergang, verbunden<br />

mit dem Ereignis e<strong>in</strong>er Wiederkunft Christi zum<br />

Gericht.<br />

Zwar wird niemand ausschließen wollen, dass etwa<br />

nach voraussichtlich langer Zeit durch e<strong>in</strong>e Explosion<br />

der Sonne der Planet Erde zerstört und damit<br />

alles Leben unmöglich wird. Aber e<strong>in</strong> damit verbundenes<br />

reales Ende der Zeit für alles Dase<strong>in</strong> (am<br />

„Jüngsten Tag“) mit dem Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er „Ewigkeit“ ist<br />

schon begrifflich unvorstellbar (wenn mit den Bezeichnungen<br />

e<strong>in</strong> verstehbarer S<strong>in</strong>n verbunden werden<br />

soll). Welche Bedeutung könnten also Vorstellungen<br />

wie das „Jüngste Gericht“ und „Ewigkeit“ für<br />

uns haben? (Es gibt Mythen vom Weltende mit mehr<br />

oder weniger apokalyptischer Ausgestaltung auch <strong>in</strong><br />

anderen Religionen, wie z.B. im Koran).<br />

Lange Zeit hatte der Glaube an das Jüngste Gericht<br />

die Wirkung, dass die dadurch erzeugte Angst Menschen<br />

mehr oder weniger dazu zwang, sich nach<br />

den Geboten und Werten ihrer Religion zu richten.<br />

Die offensichtliche (und z.B. <strong>in</strong> den Psalmen beklagte)<br />

Tatsache, dass Bösewichte oft ke<strong>in</strong>e Strafe oder<br />

negative Folgen ihrer Übeltaten erfahren, auch dass<br />

gute Menschen oft (oder meistens?) <strong>in</strong> ihrer Lebenszeit<br />

ke<strong>in</strong>e Belohnung für ihre Rechtschaffenheit<br />

erhalten, wird durch e<strong>in</strong>en Ausgleich im Jenseits<br />

oder am Ende aller Tage erträglicher und hilft zum<br />

Bewahren <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> an Gott (den Christen zum<br />

Festhalten an der Lehre Jesu).<br />

Für den Glauben haben Gott und Jesus das letzte<br />

Wort. Sie urteilen über jeden e<strong>in</strong>zelnen Menschen<br />

aufgrund ihrer umfassenden Kenntnis aller se<strong>in</strong>er<br />

Gedanken und Taten. Weil es schwer fiel zu glauben,<br />

dass der liebende und gnädige Gott Menschen<br />

wegen sogenannter Tod-Sünden zu e<strong>in</strong>er ewigen<br />

Verdammnis verurteilt, gab es durch die Vorstellung<br />

e<strong>in</strong>es Fegefeuers Abmilderungen (deren Käuflichkeit<br />

mit e<strong>in</strong> Anlass zu Luthers Reformation war). Als problematisch<br />

wurde auch die zeitweise vertretene religiöse<br />

Lehre empfunden, dass manche Menschen<br />

von vornhere<strong>in</strong> zur ewigen Verdammnis prä<strong>des</strong>t<strong>in</strong>iert<br />

se<strong>in</strong> könnten. Kritiker <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong> bzw.<br />

der kirchlichen Lehre (das letzte Gericht über „die<br />

Lebenden und die Toten“ und die Ewigkeit – das<br />

ewige Leben – stehen immerh<strong>in</strong> im allgeme<strong>in</strong>verb<strong>in</strong>dlichen<br />

apostolischen <strong>Glaubens</strong>bekenntnis) sehen<br />

<strong>in</strong> solchen <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halten hauptsächlich e<strong>in</strong><br />

Instrument kirchlicher und religiöser Macht.


Neuere Auffassungen von Gott führen zu vertretbaren<br />

und lebensdienlichen Interpretationen auch solcher<br />

<strong>Glaubens</strong>formen und -lehren. Dar<strong>in</strong> werden<br />

Bilder und Metaphern mit ihren (zwar unangemessenen,<br />

aber kaum vermeidbaren) jenseitigen Zeit-<br />

und Raumvorstellungen auf ihren wesentlichen Gehalt<br />

h<strong>in</strong> <strong>in</strong>terpretiert.<br />

Gott als Richter – das bedeutet dann; alles kann<br />

auch anders beurteilt werden, selbst wenn ich das<br />

Urteil nicht kenne (sozusagen die Möglichkeit e<strong>in</strong>er<br />

religiösen Revision).<br />

Alle<strong>in</strong> schon dieses Denken an die Möglichkeit e<strong>in</strong>er<br />

anderen Beurteilung nach anderen Kriterien kann<br />

das eigene (Vor-!)Urteil relativieren und offen halten.<br />

Auch bei moralischen, religiösen oder Gerichtsurteilen,<br />

natürlich auch bei ästhetischem und politischem<br />

Ermessen. Manches Urteil würde dann nicht nur<br />

anders ausfallen, sondern auch der Umgang mite<strong>in</strong>ander<br />

wäre wahrsche<strong>in</strong>lich menschenfreundlicher.<br />

Das kommt <strong>in</strong> den Blick, wenn mit e<strong>in</strong>em „MEHR“<br />

gerechnet wird, von dem schon im Textteil „Was ist<br />

Glauben“ (Kap.1) die Rede war: wenn der Glaube<br />

sich für den mit Gott vorgegebenen größeren Zusammenhang<br />

und se<strong>in</strong>e größere Wirklichkeit öffnet.<br />

Das Symbol <strong>des</strong> Jüngsten Gerichts kann bewusst<br />

machen, dass unser Verhalten, Tun und Denken<br />

sowohl zeitlich wie qualitativ-geistig (weitaus!) größere<br />

und längere Auswirkungen hat als wir erkennen<br />

können. Glauben wäre dann e<strong>in</strong>e erhöhte Offenheit<br />

dafür, wohl wissend, dass ich und wir nur e<strong>in</strong>en sehr<br />

kle<strong>in</strong>en Teil davon realisieren können.<br />

Durch die Beziehung der Schuld auf Gott hilft der<br />

christliche Glaube dazu, e<strong>in</strong>en größeren Zusammenhang<br />

<strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> zu br<strong>in</strong>gen.<br />

Wenn zum Beispiel durch falsches Fahren auf der<br />

Autobahn e<strong>in</strong> schwerer Unfall passiert und die Autobahn<br />

für Stunden blockiert ist, so wird der/die Schuldige<br />

strafrechtlich und zivilrechtlich zur Verantwortung<br />

gezogen. Der Verlust der tausend Wartenden<br />

an Zeit, verabredeten Begegnungen, Geschäften<br />

oder Erfahrungen wird dadurch nicht erfasst und<br />

meist nicht e<strong>in</strong>mal bedacht. Das religiöse Schuldwissen<br />

reicht schon hier (ansatzweise) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e weitere<br />

Dimension, auch zeitlich. Sie wird u.a. auch durch<br />

die Metapher „Gott ist der Richter“ und das Bild <strong>des</strong><br />

Jüngsten Gerichts <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> gebracht.<br />

In diesem S<strong>in</strong>n bemühen sich die Gerichte, bei Straftaten<br />

möglichst viel vom H<strong>in</strong>tergrund und Entstehungszusammenhang<br />

e<strong>in</strong>er Straftat zu erheben,<br />

was oft schon bei der Rechtspflege zu „mildernden<br />

Umständen“ führt.<br />

Bei e<strong>in</strong>em tragischen Unfall während der Loveparade<br />

<strong>in</strong> Duisburg 2010 würden aus dieser Sicht nicht<br />

nur die Stadtverwaltung, der Veranstalter und die<br />

51<br />

Polizei als möglicherweise Schuldige <strong>in</strong> Betracht<br />

gezogen, sondern auch die Gesellschaft, die Liebe<br />

und Lebensfreude (auch <strong>in</strong> den Medien) so feiert,<br />

dass Massen dabei <strong>in</strong> Ekstase und Panik geraten.<br />

Andererseits kann die große Zahl von Menschen,<br />

die Liebe, Lebenskraft und Lebenslust zusammen<br />

feiern wollen, auch dankbar gegenüber dem tieferen<br />

Grund dafür stimmen.<br />

Auch bei der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko<br />

(2010) wird bei Offenheit für den größeren Zusammenhang<br />

nicht nur (berechtigt) an die Schuld der<br />

Ölfirma oder der amerikanischen Verwaltung gedacht,<br />

die die Bohrung mit zu ger<strong>in</strong>gen Sicherheitsauflagen<br />

genehmigt hat, sondern auch an den<br />

Druck, der von e<strong>in</strong>er verschwenderisch mit Treibstoff<br />

umgehenden Gesellschaft ausgeht. Auch hier<br />

kommt Staunen und Dankbarkeit für den großen<br />

Reichtum an „Lebensmitteln“ <strong>in</strong> den Blick, den wir <strong>in</strong><br />

unserer Welt vorf<strong>in</strong>den. Für uns entstanden? E<strong>in</strong><br />

sparsamer Gebrauch wäre der angemessene und<br />

geforderte Umgang damit, der nicht erst am jüngsten<br />

Tag belohnt wird.<br />

Aus diesem Verständnis folgt ja auch, dass nichts<br />

Gutes vergeblich geschieht, selbst wenn es unerkannt<br />

im Verborgenen und erfolglos bleibt. Das gilt<br />

leider auch für das Böse „bis <strong>in</strong> das dritte und vierte<br />

Glied“ (1.Mose 20) und wohl noch weiter. Es gibt<br />

e<strong>in</strong>e höhere und größere Wirklichkeit, <strong>in</strong> der das<br />

alles weit über unsere Erkenntnis h<strong>in</strong>aus aufgehoben<br />

und wirksam ist und bleibt. Christen und manche<br />

Religionen nennen sie Gott. Sie glauben an e<strong>in</strong>en<br />

Gesamtzusammenhang, <strong>in</strong> dem und aus dem<br />

heraus das Leben erhalten bleibt und gegen alle<br />

Schuld immer wieder neu beg<strong>in</strong>nen kann. Hierzu<br />

gehört auch die Ahnung von e<strong>in</strong>er anderen Zeitdimension<br />

als die Endlichkeit der Uhrenmessung und<br />

der Natur, die von Gläubigen Ewigkeit genannt wird.<br />

Natürlich müssen und dürfen wir urteilen und<br />

dementsprechend handeln. Und es kann auch<br />

h<strong>in</strong>derlich se<strong>in</strong> und skrupulös verunsichern, ständig<br />

mit der Möglichkeit der Aufhebung <strong>des</strong> eigenen<br />

Urteils zu rechnen. Aber die Offenheit für größere<br />

Zusammenhänge hat bei wesentlichen<br />

Lebensfragen doch lebensdienliche Wirkungen. Vor<br />

allem dann, wenn die Maßstäbe für das Urteilen<br />

berücksichtigt werden, die Jesus gepredigt und<br />

gelebt hat, im Bild gesprochen: Wenn Jesus im<br />

Gericht sitzt.<br />

Die Frage ist allerd<strong>in</strong>gs, ob solche „Übersetzung“<br />

von Metaphern wie „Jüngstes Gericht“ und „Ewigkeit“<br />

nicht zu umständlich ist, um die genannten Wirkungen<br />

zu erzielen, weil diese zu stark mit bildhaften<br />

Assoziationen verbunden s<strong>in</strong>d – wie mit den schönen<br />

Skulpturen an den romanischen und gotischen


Kirchen <strong>in</strong> Burgund. Manche verzichten <strong>des</strong>halb<br />

lieber auf religiöse Vorstellungen zum Verständnis<br />

von Schuld und Vergebung und vom Leben überhaupt.<br />

Können wir auf die Entstehung neuer Symbole, Begriffe,<br />

Bilder und Vorstellungen für das Bewusstse<strong>in</strong><br />

größerer Wirklichkeit und weiteren Zusammenhang<br />

beim Urteilen über sich selbst und andere hoffen,<br />

wenn die bisher und lange gebrauchten unserem<br />

Wirklichkeitsverständnis nicht mehr entsprechen?<br />

Bisherige Versuche machen Mut zu eigenen Gedanken<br />

und Aussagen <strong>in</strong> dieser Richtung, (auch wenn<br />

es bis jetzt nur e<strong>in</strong>ige wenige (brauchbar ersche<strong>in</strong>ende)<br />

s<strong>in</strong>d. Vielleicht kommen wir auch <strong>in</strong> Zukunft<br />

mit weniger (ganz wenig?) Begriffen aus, um Diesseits<br />

und Jenseits zusammengefasst zu benennen<br />

(so wie auch die Physiker auf der Suche nach der<br />

Weltformel s<strong>in</strong>d – als TOE = theory of everyth<strong>in</strong>g).<br />

Im nachfolgenden Beitrag „Hoffen über den Tod h<strong>in</strong>aus?“<br />

wird <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n das Wort „Liebe“ verwendet,<br />

das <strong>in</strong> der Bibel sogar als Bezeichnung für Gott<br />

gebraucht wird. (1.Johannesbrief 4,16). Liebe kommt<br />

auch im Tod nicht an ihre Grenze.<br />

13. Hoffen über den Tod h<strong>in</strong>aus?<br />

Für e<strong>in</strong>e Hoffnung über den Tod h<strong>in</strong>aus gibt es viel<br />

Ermutigung und Zeugnis. Erstaunlich, wie viel früher<br />

Kirche, Gläubige und Künstler über das Leben nach<br />

dem Tod wussten. Wird das heute noch akzeptiert?<br />

Als Begründung hierfür wird die Berufung auf Jesus<br />

und se<strong>in</strong>e Auferstehung herangezogen; aber doch<br />

auch gefragt, ob solche antiken Formulierungen <strong>des</strong><br />

Bekenntnisses noch die Hoffnung <strong>in</strong> Moderne und<br />

Postmoderne leiten kann. Und wer will schon zu<br />

e<strong>in</strong>em Endgericht auferstehen (und jetzt schon<br />

Angst davor haben), <strong>in</strong> dem das eigene Bestehen<br />

höchst ungewiss ist?<br />

Trotzdem hat die christliche Botschaft den Mut und<br />

die Zuversicht zu e<strong>in</strong>er größeren Hoffnung, <strong>in</strong>dem<br />

sie an das Gebot der Liebe anknüpft: Lieben heißt<br />

e<strong>in</strong>em Menschen sagen: du wirst immer da se<strong>in</strong>. Für<br />

mich wirst Du immer da se<strong>in</strong>! Die Hoffnung über die<br />

To<strong>des</strong>grenze h<strong>in</strong>aus wurzelt <strong>in</strong> der Zusage: „Gott ist<br />

Liebe“. (1Joh 4,16)<br />

Überlieferte H<strong>in</strong>weise<br />

„Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ In<br />

diese doppelte positive Hoffnungsaussage mündet<br />

das apostolische <strong>Glaubens</strong>bekenntnis <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

dritten Artikel. Gegen alle Ängste ist e<strong>in</strong> großes<br />

Hoffnungsziel aufgerichtet.<br />

Aber was ist damit geme<strong>in</strong>t? Missverständnisse<br />

drängen sich auf. Die „Auferstehung der Toten“: besagt<br />

sie etwas anderes als e<strong>in</strong>e körperliche Fortsetzung<br />

der hiesigen Existenz im Jenseits? Und das<br />

„ewige Leben“: heißt das e<strong>in</strong>e endlos gedehnte irdische<br />

Zeit, eher öde als wirklich wünschbar?<br />

52<br />

Das Bekenntnis verlangt danach, im Ganzen gedeutet<br />

zu werden; im Gespräch mit den biblischen Aussagen,<br />

die zu ihrem S<strong>in</strong>nhorizont gehören. Dann<br />

zeigt sich bald: e<strong>in</strong> wörtlich-äußerliches Verständnis<br />

der Hoffnung wird hier schon im Grunde aufgebrochen.<br />

Das ewige Leben:<br />

Die Hoffnung der Christen beruft sich auf den lebendigen<br />

Gott <strong>des</strong> ersten Artikels. Er selber heißt biblisch<br />

der Ewige.(1 Mose 21,33) Das me<strong>in</strong>t mehr als<br />

e<strong>in</strong>e unendliche Zeitdauer. Der ewige Gott ist für den<br />

Glauben der Lebendige, der Schöpfer <strong>des</strong> Himmels<br />

und der Erde, der Abraham beruft und se<strong>in</strong> Volk<br />

durch Mose aus der Knechtschaft führt, mit ihm e<strong>in</strong>en<br />

Bund schließt und ihm se<strong>in</strong>e Gebote anvertraut.<br />

Dieser ewige Gott <strong>des</strong> Lebens gibt Zukunft. Er bricht<br />

se<strong>in</strong>e Beziehung nicht ab im Tod. Nicht die Beziehung<br />

zu se<strong>in</strong>em Volk. Se<strong>in</strong>e Treue bewahrt er, wie <strong>in</strong><br />

den Psalmen immer gewisser bekannt wird, auch<br />

gegenüber dem E<strong>in</strong>zelnen. „Wenn mir gleich Leib<br />

und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott,<br />

allezeit me<strong>in</strong>es Herzens Trost und me<strong>in</strong> Teil“.<br />

(Psalm 73,26) Ewiges Leben: das me<strong>in</strong>t schon im<br />

apostolischen Bekenntnis die Geme<strong>in</strong>schaft mit dem<br />

ewigen Gott. Diese Geme<strong>in</strong>schaft ist durchaus diesseitig,<br />

an e<strong>in</strong> jenseitiges ewiges Leben zu glauben,<br />

be<strong>in</strong>haltete dies nicht – wenngleich solche Überzeugungen<br />

tröstend se<strong>in</strong> können. „Ewigkeit Gottes“ war<br />

also die Bezeichnung und die Vorstellung von erfahrener<br />

Verlässlichkeit und Dauer der Beziehung zu<br />

Gott „Jahwe“.<br />

Die Auferstehung der Toten:<br />

Das Neue Testament nimmt die Hoffnungs-L<strong>in</strong>ien<br />

Israels auf und verknüpft sie mit Jesus Christus. Der<br />

Weg <strong>des</strong> „Gottessohnes“ prägt den zweiten Artikel<br />

<strong>des</strong> apostolischen Bekenntnisses. Jesus verkündet<br />

den Anbruch und die Nähe von Gottes Herrschaft.<br />

Er spricht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Heilungen, se<strong>in</strong>en Seligpreisungen<br />

dieses Reich gerade den Bedrängten und Verstörten<br />

zu. Er weicht den Konflikten nicht aus und<br />

geht e<strong>in</strong>en Passionsweg, der mit dem Tod am Kreuz<br />

endet. Dieser getötete Jesus kehrt nicht <strong>in</strong>s irdische<br />

Leben zurück. Er ist von den Toten auferstanden;<br />

das me<strong>in</strong>t anderes als die Rückkehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong> zeitliches<br />

Dase<strong>in</strong>. Der Auferstandene erweist sich als gegenwärtig<br />

und wirklich aus Gottes Leben. „Der Gekreuzigte<br />

lebt für immer bei Gott – als Verpflichtung und<br />

Hoffnung für uns! (H. Küng, Ewiges Leben? 140) So<br />

wird Ostern zur Quelle christlicher Hoffnungsbotschaft.<br />

„Christi Auferstehung ist für mich das Zentrum<br />

nicht nur der Ostergeschichte, vielmehr konzentrieren<br />

sich <strong>in</strong> ihr alle biblischen Texte zur Frohen<br />

Botschaft.“ (Gabriele Wohmann, E<strong>in</strong>e gewisse Zuversicht,<br />

2012,157) An Christi Auferstehung orientiert<br />

sich alles, was mit ‚Auferstehung der Toten’ für


die Geme<strong>in</strong>de Christi geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong> kann. Schon das<br />

<strong>Glaubens</strong>bekenntnis als verdichteter Glaube öffnet<br />

die E<strong>in</strong>zelaussagen zu neuen S<strong>in</strong>ne<strong>in</strong>heiten.<br />

Neue Verstehensansätze<br />

Dennoch muss radikaler gefragt werden: Lässt sich<br />

e<strong>in</strong>e solche Tod-Übersteigende Hoffnung heute mit<br />

vollziehen? Können die antiken Formulierungen <strong>des</strong><br />

Bekenntnisses noch die Hoffnung <strong>in</strong> Moderne und<br />

Postmoderne leiten? Gewiss, schon <strong>in</strong> der Welt Homers<br />

und der epikureischen Richtung war das volle<br />

Leben auf das Diesseits zwischen Geburt und Tod<br />

beschränkt. Die Überzeugung e<strong>in</strong>er Unsterblichkeit<br />

der Seele, wie sie die platonische Philosophie entwickelte,<br />

teilten vielleicht eher M<strong>in</strong>derheiten. Schon<br />

die frühchristliche Verkündigung traf auf Widerstand<br />

und Missverständnis. Und doch <strong>in</strong>spirierte der Christusglaube<br />

mit se<strong>in</strong>er Hoffnungsdynamik viele Generationen.<br />

Ke<strong>in</strong> Verlangen nach ewigem Leben<br />

Inzwischen hat e<strong>in</strong>e andere Epoche begonnen. Die<br />

Beschränkung auf das hiesige Leben zwischen Geburt<br />

und Tod hat sich <strong>in</strong> Europa, spätestens seit der<br />

Renaissance und der Aufklärung, <strong>in</strong> immer neuen<br />

Wellen ausgeprägt. Heute ist sie noch viel selbstverständlicher<br />

präsent <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em verbreiteten (nach-)<br />

religiösen Lebensgefühl. Die neuzeitliche H<strong>in</strong>wendung<br />

zu den Schönheiten und Aufgaben dieser Erde,<br />

der Kampf gegen soziales und psychisches<br />

Elend drängt, im Bewusstse<strong>in</strong> vieler, alle Jenseits-<br />

Orientierungen zurück. Die Überlebenden der Tsunami-<br />

Katastrophen und Erdbeben brauchen zunächst<br />

nichts als diesseitige Hoffnung. So gilt auch<br />

von der Hoffnung, was Bonhoeffer im Mai 1944 von<br />

allen großen christlichen Worten niedergeschrieben<br />

hat: „... wir selbst s<strong>in</strong>d wieder ganz auf die Anfänge<br />

<strong>des</strong> Verstehens zurückgeworfen.“(Widerstand und<br />

Ergebung, 1977, 327).<br />

Im Europa von heute fällt zusätzlich die enorm gestiegene<br />

zeitliche Lebenserwartung <strong>in</strong>s Gewicht: hier<br />

gilt das Verlangen nach ewigem Leben als unnötig,<br />

vielleicht als undankbar. Ist es nicht Glück genug,<br />

die geschenkten Jahre mit s<strong>in</strong>nvollen Aufgaben und<br />

menschlichen Beziehungen zu erfüllen? Dann beruhigt<br />

es am Ende, zu wissen, dass man ‚alt und lebenssatt’<br />

von diesem Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong>mal abtreten darf.<br />

Was quälen kann, ist eher das <strong>in</strong>sbesondere durch<br />

die moderne Mediz<strong>in</strong> verlängerte, unabsehbare<br />

Sterben, aber nicht der Tod und e<strong>in</strong> Danach. Die<br />

Hoffnung richtet sich eher auf e<strong>in</strong>en gnädigen Abschied<br />

von dieser Erde, ohne körperliches, geistiges<br />

Siechtum, ohne andere durch eigene Gebrechlichkeit<br />

zu überfordern. Und niemand will zu e<strong>in</strong>em<br />

Endgericht auferstehen (und jetzt schon Angst davor<br />

53<br />

haben), <strong>in</strong> dem das eigene Bestehen höchst ungewiss<br />

ist.<br />

Neu nach christlicher Hoffnung fragen<br />

So ist neu zu fragen: wie kann die urchristliche Hoffnungs-Weite<br />

heute noch nachvollziehbar werden<br />

und für das Leben <strong>in</strong> der Gegenwart fruchtbar gemacht<br />

werden? An welche Interessen und Erwartungen<br />

kann sie anknüpfen, ohne dass Christen sich<br />

e<strong>in</strong>em Wunsch-Egoismus überlassen?<br />

Was die Hoffnung herausfordert, s<strong>in</strong>d die schmerzhaften<br />

Abschiede und Verluste, die uns ereilen. Marie<br />

Luise Kaschnitz schrieb ihre Hoffnungs-<br />

Meditationen nach dem Tod ihres Mannes. Eltern,<br />

die e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d durch Krankheit oder e<strong>in</strong>en Unfall verlieren,<br />

alle Opfer von Gewalt reißen die Frage auf: was<br />

können wir für sie hoffen?<br />

Für die Liebe wirst du immer da se<strong>in</strong><br />

Die christliche Botschaft von der größeren Hoffnung<br />

knüpft an das Gebot der Liebe an. Lieben heißt e<strong>in</strong>em<br />

Menschen sagen: du wirst immer da se<strong>in</strong>. Du<br />

wirst immer wichtig bleiben. Nicht nur die Lust, wie<br />

Nietzsche schrieb, auch die Liebe will Ewigkeit. Aber<br />

wir, selbst gebrechliche Menschen, können solche<br />

Ewigkeit der Liebe nicht verbürgen. Die Gewissheit,<br />

dass die Liebe soweit reicht, kann nur aus dem<br />

Glauben an den Gott kommen, der selber Liebe ist<br />

und <strong>in</strong> Christus daran teilhaben lässt. Die Hoffnung<br />

über die To<strong>des</strong>grenze h<strong>in</strong> aus wurzelt <strong>in</strong> der Zusage,<br />

die im 1.Johannesbrief so zusammengefasst wird:<br />

„Gott ist Liebe“.(1Joh 4,16).<br />

Die Hoffnung hat, mit der Liebe, immer auch e<strong>in</strong>en<br />

Antrieb <strong>in</strong> der Sehnsucht nach Solidarität, nach Gerechtigkeit.<br />

“Selig s<strong>in</strong>d, die hungern und dürsten<br />

nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“<br />

(Matthäus 5,6) Christliche Hoffnung nimmt das Verlangen<br />

nach Gerechtigkeit auf, h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e größere<br />

Wirklichkeit. Gerechtigkeit gerade für alle, denen<br />

<strong>in</strong> diesem Leben Missachtung, Plage, Demütigung<br />

zuteil wird. Sollte das e<strong>in</strong> ewiges Schicksal bleiben?<br />

Gerechtigkeit für die Lebenden, Gerechtigkeit für die<br />

Toten, denen Recht auf dieser Erde nicht widerfahren<br />

ist. So verweist auch das Verlangen nach Gerechtigkeit<br />

auf den Gott, der <strong>in</strong> Jesus Christus zusagt,<br />

den Hunger nach Gerechtigkeit zu erfüllen.<br />

Wohl wird diese Leben schaffende Gerechtigkeit <strong>in</strong><br />

Christus schon offenbart.(Römer 1,17) Als soziale<br />

Wesen, die weder vollkommene Gerechtigkeit noch<br />

unverbrüchliche Liebe sichern können, bleiben wir<br />

auf die größere Hoffnung angewiesen, die über den<br />

Tod h<strong>in</strong>ausreicht.<br />

Aber auch wir selber, als E<strong>in</strong>zelne, mit unserer e<strong>in</strong>zigartigen<br />

Geschichte von Gel<strong>in</strong>gen und Missl<strong>in</strong>gen,<br />

von großen Träumen und begrenzten Erfüllungen,


können die Verheißungen der Bibel auf uns beziehen.<br />

Was bewirkt es, wenn wir (mit Paulus) unser<br />

hiesiges Leben und unser Wissen als ‚Stückwerk’<br />

ansehen? (1 Kor 13,8). Alles „Stückwerk“ verweist<br />

die Glaubenden auf e<strong>in</strong> künftiges Ganzes. ‚Wenn<br />

aber kommen wird das Vollkommene, wird das<br />

Stückwerk aufhören.’ (1 Kor 13,9) Darauf lässt sich<br />

hoffen.<br />

Aber es geht nicht nur um ‚Stückwerk’, es geht um<br />

reales Scheitern: Zurückbleiben h<strong>in</strong>ter Erwartungen,<br />

eigenen und anderen, die Schuldgeschichte, die<br />

je<strong>des</strong> Leben durchzieht und bedroht. Hier entspr<strong>in</strong>gt<br />

die Suche nach e<strong>in</strong>er Anerkennung, die allen eigenen<br />

Widersprüchen zum Trotz, e<strong>in</strong> wahrhaftiges und<br />

gnädiges Ja sagt zur eigenen Existenz. Gefragt ist<br />

umfassende Vergebung, letzte Rechtfertigung von<br />

Schuldigen und Sündern, die sich nicht auf eigenen<br />

Leistungen berufen können. Der Glaube ist offen für<br />

die Aussicht auf bed<strong>in</strong>gungslose Annahme – <strong>in</strong> der<br />

Bibel als Gottes Gnade bezeichnet.<br />

Wird aber so die Hoffnung und der Glaube nicht dem<br />

Verdacht e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>fantilen, e<strong>in</strong>er illusionären Wunscherfüllung<br />

ausgeliefert? Die E<strong>in</strong>wände von Philosophen<br />

(z.B. Ludwig Feuerbach) und Psychologen<br />

(z.B. Sigmund Freud) haben misstrauisch gemacht<br />

gegen die Anknüpfung an anthropologische Interessen.<br />

E<strong>in</strong>e kritische Überprüfung, e<strong>in</strong>e Läuterung allzu<br />

ichbezogener Wünsche und Träume ist immer<br />

neu aufgetragen. Genau das geschieht <strong>in</strong> den biblischen<br />

Hoffnungsschriften: sie erweitern und h<strong>in</strong>terfragen,<br />

sie entgrenzen und verwandeln die mitgebrachten<br />

Erwartungen. Jesus selber nimmt die umlaufenden<br />

Jenseitserwartungen so auf, dass er sie<br />

korrigiert und zugleich übersteigt. Denen, die e<strong>in</strong>e<br />

knifflige Frage nach der Heirat <strong>in</strong> der anderen Welt<br />

vorbr<strong>in</strong>gen, gibt er zur Antwort: „Ihr irrt, weil ihr weder<br />

die Schrift kennt noch die Kraft Gottes“.(Markus<br />

12,24) Die allzu irdischen Bilder gehen <strong>in</strong>s Leere.<br />

Aber wie könnte der Gott, der sich den Verlorenen<br />

zuwendet, sie wieder <strong>in</strong>s Abseits <strong>des</strong> To<strong>des</strong> fallen<br />

lassen? So entsteht mit dem Reich Gottes, mit der<br />

Lebensmacht <strong>des</strong> Auferstandenen e<strong>in</strong>e neue große<br />

Erwartung: Es kommt noch MEHR und anderes. (s. -<br />

Auferstehung im Text Jesus)<br />

Dabei treffen wir auf e<strong>in</strong>e Polarität, die sich bis zum<br />

Kontrast steigern kann.<br />

Denn das ewige Leben, das Leben jenseits <strong>des</strong> To<strong>des</strong><br />

beg<strong>in</strong>nt ke<strong>in</strong>eswegs erst nach dem eigenen körperlichen<br />

Sterben. Die „Ewigkeit“ <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> an<br />

Gott kommt nicht erst nach der Zeit, sie wirkt <strong>in</strong> der<br />

Zeit, <strong>in</strong> die Zeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Das Reich Gottes ist schon<br />

mitten unter uns. (Lukas 17,20) Mit Tod und Auferstehung<br />

Jesu hat e<strong>in</strong>e neue Zeit begonnen. In Christus<br />

ist die Zeit der end-gültigen Gnade angebrochen.<br />

(Römer 5). Mit dem Heiligen Geist wird schon<br />

e<strong>in</strong> Stück der erhofften Vollkommenheit Wirklichkeit:<br />

54<br />

Es ergibt sich daraus Liebe, Friede, Freude, tatsächlicher<br />

Trost (wenn auch oft nur sehr unzureichend).<br />

Gerade die johanneischen Schriften legen e<strong>in</strong> großes<br />

Gewicht auf die Gegenwart ewigen Lebens. Sie<br />

verkündigen das Leben, das ewig ist, das beim Vater<br />

war und uns erschienen ist – also weitreichende<br />

Wurzeln hat und aus tiefen Quellen schöpfen kann.<br />

(1 Jäh 1,3) Das ist im Grunde schon neuzeitliches<br />

mehrdimensionales Denken. Auch die Metapher der<br />

„Wiedergeburt“ zeigt auf tiefere Dimensionen und<br />

Chancen, auf wertvolle Vorgaben und unbewusste<br />

Anlagen, <strong>in</strong> biblischer Sprache: Gott hat uns bereits<br />

„wiedergeboren zu e<strong>in</strong>er lebendigen Hoffnung durch<br />

die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.“ (1<br />

Petrus 1,3) Das bedeutet aber auch: christliche<br />

Hoffnung hat sich zu bewähren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Arbeit für<br />

das Diesseits, für das Jetzt und für das Morgen.<br />

„Und wenn morgen die Welt unterg<strong>in</strong>ge, so würde<br />

ich doch heute e<strong>in</strong> Apfelbäumchen pflanzen.“ Diese<br />

Luther zugeschriebene Sentenz br<strong>in</strong>gt treffend die<br />

Verpflichtung zu den irdischen Aufgaben zum Ausdruck.<br />

Dietrich Bonhoeffer konnte gerade angesichts<br />

<strong>des</strong> drohenden To<strong>des</strong> <strong>in</strong> der Haft 1944 „die tiefe<br />

Diesseitigkeit“ <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong> entdecken.<br />

„Gibt es überhaupt e<strong>in</strong>e Grenze zwischen Diesseits<br />

und Jenseits? Vielleicht ist der Tod nur e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>schnitt<br />

für uns Menschen, aber ke<strong>in</strong> E<strong>in</strong>schnitt <strong>in</strong> unserem<br />

Leben, ke<strong>in</strong>e Unterbrechung <strong>des</strong> Lebens. Es ist<br />

schwer, daran zu glauben. Weil wir uns nur vorstellen<br />

können, dass das Ende, das wir sehen, auch das<br />

Ende ist. E<strong>in</strong> Ende, nach dem nichts mehr kommt,<br />

weil es nicht nur unsere Vorstellungskraft übersteigt,<br />

sondern auch unsere Kräfte.<br />

Denn es stimmt doch: E<strong>in</strong>en Toten, der beerdigt ist,<br />

kann man nicht sehen. Man kann nicht mit ihm reden.<br />

Man kann ihn nicht berühren. Er ist weg. Er<br />

kann e<strong>in</strong>em so sehr fehlen, dass es wehtut. Manchmal<br />

s<strong>in</strong>d die Sterne so verdammt weit weg! Manchmal<br />

reicht es, dass e<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerungsstück umfällt, um<br />

wieder sicher zu se<strong>in</strong>: Man schafft es nie.<br />

Noch heute glauben viele, dass Jenseits und Diesseits<br />

verschiedene Welten seien, ohne Bezug zue<strong>in</strong>ander.<br />

Als sei die Grenze zwischen Diesseits und<br />

Jenseits unüberw<strong>in</strong>dbar. Viele glauben weder an e<strong>in</strong><br />

Diesseits und Jenseits im Leben noch an e<strong>in</strong> Diesseits<br />

und Jenseits <strong>des</strong> Lebens.“ (B. v.Weizsäcker)<br />

Die christliche Hoffnung ist aber ke<strong>in</strong>e „Vertröstung<br />

aufs Diesseits“.(Paul Zulehner) Der Apostel Paulus<br />

besteht darauf, dass das ewige Leben erst <strong>in</strong> der<br />

Gestalt der Hoffnung geschenkt ist. „Wir s<strong>in</strong>d zwar<br />

gerettet, doch auf Hoffnung (Römer 8,26). Das<br />

‚Schon’ e<strong>in</strong>er Gegenwart <strong>des</strong> wahren Lebens („Heil“)<br />

lässt sich nicht trennen von e<strong>in</strong>em realen ‚Noch<br />

nicht’. Das gegenwärtige ‚Jenseits’ bedarf der Erfüllung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kommenden ‚Jenseits’. So hält Luther,<br />

aller Bejahung <strong>des</strong> irdischen Lebens zum Trotz, die<br />

Hoffnung auf „den lieben Jüngsten Tag“ ungeschmä-


lert fest. In se<strong>in</strong>em „Sermon von der Bereitung zum<br />

Sterben“ vergleicht er das Sterben mit e<strong>in</strong>er neuen<br />

Geburt. “...es gehet hie zu, gleichwie e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d aus<br />

der kle<strong>in</strong>en Wohnung se<strong>in</strong>er Mutter Leib mit Gefahren<br />

und Ängsten geboren wird <strong>in</strong> diesen weiten<br />

Himmel und Erden, das ist auf diese Welt. Also im<br />

Sterben auch muss man sich der Angst erwehren<br />

und wissen, dass darnach e<strong>in</strong> großer Raum und<br />

Freud se<strong>in</strong> wird.“ (Münchner Ausgabe, 1, 356 f.).<br />

Diese Geburtsschmerzen können auch allen Glaubenden<br />

im Sterben noch bevorstehen. Wer Sterbende<br />

begleitet, wird dieser Erfahrung immer neu begegnen.<br />

Die große Hoffnung widersteht e<strong>in</strong>er Verdrängung<br />

<strong>des</strong> To<strong>des</strong>.<br />

Bilder <strong>des</strong> Kommenden<br />

„Auferstehung der Toten und das ewige Leben“. Wie<br />

dieses Jenseits <strong>des</strong> To<strong>des</strong> vorzustellen ist, darüber<br />

s<strong>in</strong>d undurchdr<strong>in</strong>gliche Schleier gebreitet. „Glauben<br />

Sie fragte man mich/ An e<strong>in</strong> Leben nach dem Tode/<br />

Und ich antwortete :ja/ Aber dann wusste ich/ Ke<strong>in</strong>e<br />

Auskunft zu geben/ Wie das aussehen sollte/ Wie<br />

ich selber/ Aussehe/ Dort...“ (Marie Luise Kaschnitz,<br />

E<strong>in</strong> Leben nach dem Tode) Auch die vielen Hoffnungsbilder<br />

<strong>des</strong> Neuen Testaments können diese<br />

Undeutlichkeit nicht zur e<strong>in</strong>deutigen Klarheit br<strong>in</strong>gen.“<br />

Wir sehen jetzt durch e<strong>in</strong>en Spiegel e<strong>in</strong> dunkles<br />

Bild“. (1 Kor 13,12) Auch die Erfahrung mit Sterbenden<br />

enthält ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong> gültige Wahrheit.<br />

Anderseits: „Anders als <strong>in</strong> Bildern lassen sich die<br />

Inhalte der Hoffnung gar nicht <strong>in</strong> Worte fassen, denn<br />

es wird unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>des</strong> Anschaulichen<br />

<strong>in</strong> Raum und Zeit von dem gesprochen, was diese<br />

Anschaulichkeit bei weitem übersteigt.“(Marie Luise<br />

Kaschnitz, Unsere Hoffnung auf das ewige Leben,<br />

2006, 108) (Im Grunde ist das ähnlich wie bei der<br />

Rede von Gott).<br />

Diese Undeutlichkeit kann zu e<strong>in</strong>er freudlosen Resignation<br />

führen. Dagegen kann die Frage <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />

helfen: Warum sollte uns die Liebe Gottes, die<br />

uns <strong>in</strong> Christus begegnet, am Ende ärmlicher und<br />

ger<strong>in</strong>ger se<strong>in</strong> als jetzt? Er will uns ja mit ihm alles<br />

schenken.(Römer 8, 32) Wohl verzichtet das Neue<br />

Testament auf breite Jenseits-Gemälde. Aber es<br />

lässt Gläubige auch nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ‚Nacht der Bildlosigkeit’<br />

vers<strong>in</strong>ken. Ähnlich wie Jesus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vielzahl<br />

von Gleichnissen vom unvorstellbaren Gottesreich<br />

redet, so können wir auch e<strong>in</strong>e Vielzahl von<br />

Jenseits-Gleichnissen entdecken. Das Gleiche gilt<br />

für die religiöse Kunst, <strong>in</strong>sbesondere im Barock. Die<br />

Wahrheit der erfüllten Hoffnung begegnet uns <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er poetischen und künstlerischen Sprache. Sie ist<br />

darum nicht weniger wesentlich wie die reflektierte<br />

Sprache.<br />

55<br />

E<strong>in</strong>erseits treffen wir auf Schöpfungs-Bilder, auf Bilder<br />

der „neuen Erde“, e<strong>in</strong>es neuen, anderen Lebens.<br />

Wir erfahren von der großen Lebens-Ernte.(Markus<br />

4,29)<br />

‚Heute noch wirst du mit mir im Paradiese<br />

se<strong>in</strong>.“(Lukas 23,43)<br />

E<strong>in</strong> Strom lebendigen Wassers wird die Lebens-<br />

Bäume tränken.(Offenbarung 22,1-2)<br />

Es fehlt aber auch nicht an sozialen Bildern, die die<br />

Erfüllung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen Geme<strong>in</strong>wesen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

erlösten Kommunikation mit anderen anvisieren.<br />

Dar<strong>in</strong> führt das ewige Leben <strong>in</strong> das himmlische Geme<strong>in</strong>wesen<br />

und ist bergende Heimat. (Philipper<br />

3,21) Am Ziel kommen wir <strong>in</strong> die Ruhe <strong>des</strong> „Sabbat“<br />

und <strong>in</strong> das Mite<strong>in</strong>ander geme<strong>in</strong>samen Lobes. Vom<br />

neuen Jerusalem ist die Rede, von der himmlischen<br />

Gottesstadt. (Hebräer 12,22) Dem entspricht die<br />

Schau e<strong>in</strong>es Fest- und Freudenmahls (Lukas 14),<br />

bei dem alle Fülle, Freude und Genüge f<strong>in</strong>den werden.<br />

Diese Bilder haben <strong>in</strong> der langen Geschichte<br />

der Kirche viele Gläubige erfreut und erfüllt. Ihre<br />

Vielfalt lässt durchaus Freiheit auch für e<strong>in</strong>e persönliche<br />

Sprache, vielleicht auch für neue eigene<br />

Sprachbilder. Angesichts der Tatsache, dass viele<br />

der früheren Metaphern und Bilder <strong>in</strong> der heutigen<br />

Vorstellungswelt kaum noch vorkommen, ersche<strong>in</strong>t<br />

die (Er-)F<strong>in</strong>dung neuer grenzüberschreitender Vergleiche<br />

und Analogien sogar als notwendig.<br />

Die Identitäts-Bilder persönlicher Vollendung s<strong>in</strong>d<br />

charakteristisch für die Sprache der Hoffnung. E<strong>in</strong>en<br />

neuen Himmel und e<strong>in</strong>e neue Erde erwarten, vernichtet<br />

ke<strong>in</strong>eswegs die Hoffnung für das eigene Leben.<br />

Auch die <strong>in</strong>dividuellen Bilder sperren sich gegen<br />

e<strong>in</strong> gegenständlich-buchstäbliches Verständnis.<br />

Wohl wird es <strong>in</strong> der Erfüllung um e<strong>in</strong>e „Identität“ der<br />

Personen gehen, aber doch über e<strong>in</strong>e radikale<br />

„Wandlung“ h<strong>in</strong>durch, die Paulus <strong>in</strong> 1.Kor<strong>in</strong>ther 15<br />

umkreist, wenn er von e<strong>in</strong>em „geistlichen Leib“<br />

spricht und betont: „wir werden aber alle verwandelt<br />

werden“. (1.Kor,44.51)<br />

Bedeutsam ersche<strong>in</strong>t: die Gleichnisse aus der Natur<br />

und aus dem sozialen Mite<strong>in</strong>ander s<strong>in</strong>d eng verbunden<br />

mit der Erfüllung <strong>in</strong> Gottes Leben selber. Die<br />

Sehnsucht <strong>des</strong> Gebets „Wann werde ich dah<strong>in</strong><br />

kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?“<br />

(Psalm 42, 3) wird gestillt werden. Die Seligpreisung<br />

der Herzens-Re<strong>in</strong>en weist darauf h<strong>in</strong>: „Selig s<strong>in</strong>d, die<br />

re<strong>in</strong>en Herzens s<strong>in</strong>d; denn sie werden Gott schauen“<br />

(Matthäus 5,8) Den schauen, an den wir irdisch nur<br />

glauben können; se<strong>in</strong>er Fülle begegnen, die wir<br />

(wenn überhaupt, dann nur) im Glauben erfahren.<br />

„Gott alle<strong>in</strong> genügt“ (Dios basta): so Teresa von Avila.<br />

Diese Konzentration auf Gott selber als Erfüllungsziel<br />

aller Hoffnung begegnet zugleich als Aussage <strong>in</strong>


Bezug auf Christus. Paulus fasst diese Hoffnung im<br />

ersten Brief nach Thessalonike e<strong>in</strong>fach (bildhaft<br />

räumlich) so zusammen: “und so werden wir bei<br />

dem Herrn (dem Herrn und Kyrios Jesus)<br />

se<strong>in</strong>.“(1.Thessalonicher 4,17) Noch im späten Philipperbrief<br />

bleibt se<strong>in</strong> Hoffnungsziel „bei Christus zu<br />

se<strong>in</strong>“.(Philipper 1,23) Diese elementare Hoffnung,<br />

die alle Sehnsucht <strong>in</strong> die Gottes- und Christusgeme<strong>in</strong>schaft<br />

münden lässt, bewahrt vor allzu irdischen<br />

und s<strong>in</strong>nlichen Hoffnungs<strong>in</strong>halten. Die sozialen<br />

und naturhaften Bilder halten <strong>in</strong><strong>des</strong>sen fest, dass<br />

auch Christen nicht „allzu übers<strong>in</strong>nlich“ hoffen brauchen,<br />

und der neue Himmel zusammengehört mit<br />

e<strong>in</strong>er neuen Erde, so unvorstellbar uns diese Zukunft<br />

bleiben mag. (Küng, Ewiges Leben, 1981, 277)<br />

‚Ich lasse mich überraschen’. Mit dieser Kurzformel<br />

hat mancher Christ se<strong>in</strong>e Hoffnung zusammengefasst.<br />

Und auf e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum zurückgenommen.<br />

Christlicher Glaube ist auch denen möglich, die ke<strong>in</strong>e<br />

Hoffnungen auf e<strong>in</strong> wie immer geartetes Jenseits<br />

haben – aber aus ihrem Glauben Offenheit für größere<br />

Wirklichkeit und Transzendenz im realen Leben<br />

erhalten (etwa beim sozialen Engagement oder beim<br />

Kampf gegen Hunger und Krankheit – und im Alter).<br />

Die e<strong>in</strong>zelnen Hoffnungs<strong>in</strong>halte s<strong>in</strong>d im Wesentlichen<br />

analog verwandt und brauchen nicht gegene<strong>in</strong>ander<br />

ausgespielt zu werden, sondern können<br />

sich vielmehr ergänzen und befruchten. Ke<strong>in</strong>e Kirche<br />

kann ihren Mitgliedern vorschreiben, was am<br />

Ende <strong>des</strong> Lebens zu hoffen ist und was nicht.<br />

Christlich hoffen heißt jedenfalls auch darauf vertrauen,<br />

dass uns am Ende ke<strong>in</strong>e böse Überraschung<br />

erwartet. Auch nicht e<strong>in</strong>fach – NICHTS. Viele Christen<br />

rechnen mit e<strong>in</strong>er freudigen Überraschung, die<br />

alle kühnsten Erwartungen übertrifft. Der Theologe<br />

Jörg Z<strong>in</strong>k glaubt: „Was wir Tod nennen, ist die Rückseite<br />

e<strong>in</strong>er ganz anderen Art von Leben, und wir<br />

werden beim Überschritt dort h<strong>in</strong>über mit e<strong>in</strong>er uns<br />

hier nicht vorstellbaren Klarheit uns selbst und die<br />

größere Welt zu Gesicht bekommen...h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

von Gottes Geist erfülltes Dase<strong>in</strong> ohne Raum und<br />

Zeit. Was uns tragen wird, wird der W<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>, den<br />

wir den Geist Gottes nennen.“ (Ufergedanken, 2007,<br />

145)<br />

14. Der andere Gott – damals und heute<br />

In der Bibel und <strong>in</strong> menschlichen Erfahrungen zeigt<br />

sich Gott auch anders als im alltäglichen <strong>Glaubens</strong>leben:<br />

Als gewalttätig, rätselhaft, verborgen, strafend,<br />

fe<strong>in</strong>dlich. Was ist das für e<strong>in</strong> „guter Gott“, der<br />

von e<strong>in</strong>em Vater das Opfer se<strong>in</strong>es Sohnes verlangt<br />

(Abraham und Isaak im Alten Testament) und dem<br />

rechtschaffenen Hiob ohne Grund alles wegnimmt?<br />

Steht das im Widerspruch zu dem Gottesbild Jesu,<br />

der oft von Gott als dem guten Vater spricht und ihn<br />

56<br />

so auch im „Vaterunser“ anspricht? Christliche Verkündigung<br />

kann von e<strong>in</strong>em evolutionär verstandenen<br />

Gottesbild aus auf das Gottesverständnis Jesu<br />

h<strong>in</strong>führen und nach heutigen Formen der Rede von<br />

Gott fragen. (vgl. auch die Entwicklung der Gottesvorstellungen<br />

<strong>in</strong> „Gott 9.0“)<br />

(In der Bibel und <strong>in</strong> menschlichen Erfahrungen zeigt<br />

sich Gott auch anders als im alltäglichen <strong>Glaubens</strong>leben:<br />

Als gewalttätig, rätselhaft, verborgen, strafend,<br />

fe<strong>in</strong>dlich. Leid und Tod versuchen die Menschen<br />

zu ertragen, aber der „andere“ Gott zeigt sich<br />

als über alles Maß zerstörerisch, widersprüchlich<br />

und unglaubhaft. Ke<strong>in</strong> „guter Gott“, der von e<strong>in</strong>em<br />

Vater das Opfer se<strong>in</strong>es Sohnes verlangt (Abraham<br />

und Isaak im Alten Testament) und dem rechtschaffenen<br />

Hiob ohne Grund alles wegnimmt.<br />

Die Bezeugungen und Berichte von diesem bedrohlichen<br />

Wesen s<strong>in</strong>d überwiegend <strong>in</strong> den Frühzeiten<br />

<strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> entstanden, <strong>in</strong> denen Gott wie e<strong>in</strong>e<br />

Naturgewalt oder willkürlich wie andere Götter damals<br />

erlebt wurde. In den Zeiten der Ausbreitung<br />

<strong>des</strong> Monotheismus treten die widersprüchlichen Züge<br />

im Gottesbild zurück; aber der Tod Jesu am<br />

Kreuz wurde <strong>in</strong> der ersten Zeit <strong>des</strong> Christentums<br />

auch als grausames Opfer verstanden, das zur Erlösung<br />

der Menschheit notwendig war.<br />

Jesus selbst hatte e<strong>in</strong> anderes <strong>Glaubens</strong>bild von<br />

Gott: Auch als er sich am Ende von Gott verlassen<br />

fühlte, konnte er immer noch beten „Me<strong>in</strong> Gott, ....“.<br />

Se<strong>in</strong> Gott war und blieb „Vater“, von allem und allen,<br />

ohne die allzu menschliche Begrenzung dieses Begriffs.<br />

Umfassend nahe allen, die ihn brauchen. Wirkend<br />

(auch und vor allem) <strong>in</strong> denen, die ausgegrenzt<br />

s<strong>in</strong>d und denen mit Opfern nicht zu helfen ist. Dieser<br />

Gott eröffnet größere Zusammenhänge als frühere<br />

Geschichten von ihm. Er lässt auch <strong>in</strong> dem, was<br />

verloren ist, Neues f<strong>in</strong>den. Er ist noch im Kommen.<br />

Auch Christen s<strong>in</strong>d frei, Gott anders und neu zu f<strong>in</strong>den<br />

– auch wenn das herkömmliche Gottesbilder<br />

unzureichend werden lässt.<br />

Wer an Gott als allmächtiges Wesen glaubt, wird es<br />

auch für möglich halten (müssen), dass er Menschen<br />

so auf die Probe stellt wie Abraham mit e<strong>in</strong>er<br />

Tötung se<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen Sohnes Isaak, oder wie Hiob.<br />

Das steht zwar im Widerspruch zu anderen Wesenszügen<br />

Gottes wie der Liebe zu se<strong>in</strong>en Geschöpfen,<br />

Erhaltung <strong>des</strong> Lebens durch se<strong>in</strong>e Gebote<br />

und Vergebung von Schuld, aber <strong>in</strong>sbesondere der<br />

Gott <strong>des</strong> Alten Testaments ist niemandem Rechenschaft<br />

schuldig. Auch nicht <strong>in</strong> extremen Fällen wie <strong>in</strong><br />

der aus der Frühzeit <strong>des</strong> Gottesglaubens stammenden<br />

Geschichte von der von Jahwe persönlich befohlenen<br />

Opferung Isaaks durch Abraham. Juden,<br />

Christen und Muslime, die sich dieser Tradition <strong>des</strong><br />

Gottesglaubens verbunden fühlen, haben nach Erklärungen<br />

gesucht. Diese s<strong>in</strong>d z.T. auch <strong>in</strong> der Religionsgeschichte<br />

zu f<strong>in</strong>den, nach der sich der Gottesglaube<br />

erheblich verändert und entwickelt hat.


Nicht e<strong>in</strong>mal Tieropfer s<strong>in</strong>d heute noch üblich, und<br />

(„verdienstvolle“) Opfer gibt es nur noch im<br />

übertragenen S<strong>in</strong>n. Lässt sich am Beispiel der aus<br />

grauer Vorzeit stammenden Abraham-Geschichte<br />

heute noch unbed<strong>in</strong>gter Gehorsam gegenüber Gott<br />

als Vorbild predigen?<br />

Es geht dar<strong>in</strong> ja auch um die Zukunft und das Wachstum<br />

<strong>des</strong> nach jüdischem Glauben von Gott<br />

auserwählten Volkes Israel, die Gott zwar versprochen<br />

hatte, die aber doch oft (von ihm zugelassen?)<br />

elementar gefährdet waren. Der Zugang zum Verständnis<br />

dieser symbolischen Formen, sich an solche<br />

Gefährdungen und Bewahrungen <strong>in</strong> der geme<strong>in</strong>samen<br />

und <strong>in</strong>dividuellen Geschichte zu er<strong>in</strong>nern<br />

und (sicher nur von ferne) nachzuempf<strong>in</strong>den,<br />

ist für heutige Menschen wohl verstellt. Um Erfahrungen<br />

und Bewährungsmöglichkeiten <strong>in</strong> Problem-<br />

und Krisensituationen zu reflektieren und aufzuarbeiten<br />

gibt es andere Methoden.<br />

Christliche Predigt wird sicherlich von e<strong>in</strong>em evolutionär<br />

verstandenen Gottesbild aus auf das Gottesverständnis<br />

Jesu h<strong>in</strong>führen und nach heutigen Formen<br />

der Rede von Gott fragen – wenn denn solche<br />

Texte überhaupt noch für Sonntagsgottesdienste<br />

vorgegeben werden.<br />

Der damalige Gott war e<strong>in</strong> personal verstandener<br />

Gott, der wie andere Götter die Menschen belohnen<br />

und bestrafen konnte, sich also um sie kümmerte,<br />

viel von ihnen forderte und (im Alten Testament)<br />

e<strong>in</strong>en gnadenlosen Alle<strong>in</strong>vertretungsanspruch<br />

durchzusetzen befahl.<br />

Christlicher Glaube wird heute, wenn überhaupt, von<br />

Prüfungen, Strafen und Zerstörungen Gottes nur im<br />

übertragenen S<strong>in</strong>n reden, wenn es darum geht, lebens-<br />

und naturgefährdende Ereignisse und Entwicklungen<br />

(z.B. auch <strong>in</strong> der Evolution) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

größeren Zusammenhang zu verstehen und zu erklären.<br />

In deren Interpretation kann dann sowohl die<br />

persönliche wie auch e<strong>in</strong>e über<strong>in</strong>dividuelle Sicht<br />

ihren Ausdruck f<strong>in</strong>den oder wenigstens versucht<br />

werden („Ich b<strong>in</strong> seit über 40 Jahren Nichtraucher<br />

und habe jetzt Lungenkrebs..“). Viel hängt davon<br />

ab, welches Sündenverständnis zugrunde liegt.<br />

Heute gibt es von Gott zahlreiche unterschiedliche<br />

Vorstellungen. Sie zeigen, dass sich das Gottesbild<br />

<strong>in</strong> den Religionen und auch im Christentum geändert<br />

und entwickelt hat. Das ist Chance und Anregung für<br />

Glaubende, das eigene Gottesbild zu überprüfen.<br />

Insbesondere die Frage, warum Gott so viel Böses<br />

bei und durch e<strong>in</strong>zelne Menschen und Völker zulässt,<br />

führt oft zu e<strong>in</strong>seitiger Profilierung <strong>des</strong> Gottesbil<strong>des</strong>.<br />

Der Theologe Matthias Kroeger weist darauf<br />

h<strong>in</strong>, dass auch Mart<strong>in</strong> Luthers Gottesbild dunkle Seiten<br />

hat, er aber Gott weder für ungerecht noch für<br />

willkürlich handelnd hielt. „ Erst <strong>in</strong> Schaffen und Vernichten,<br />

<strong>in</strong> Gnade und Schicksal ist die ganze helle<br />

und dunkle, gnädige und schwere Wahrheit <strong>des</strong><br />

Göttlichen begriffen, die wir nicht nur lieben, son-<br />

57<br />

dern „fürchten und lieben’ sollen.“ (vgl. auch den<br />

folgenden Text „Gott entschuldigen?“ Das Problem<br />

der Theodizee.)<br />

15. Theodizee – Gott entschuldigen?<br />

Menschen fragen bei Verbrechen, großen Übeln,<br />

Katastrophen und schwerem Leid: Warum trifft es<br />

gerade mich? Me<strong>in</strong>e Angehörigen? Warum gibt es<br />

Leid und Böses <strong>in</strong> der Welt, warum so viel? Ist es<br />

e<strong>in</strong>e Strafe (Gottes)?<br />

Philosophie und Theologie haben sich ausführlich<br />

und seit langem mit diesen Fragen beschäftigt, die<br />

starke Zweifel am Glauben an Gott auslösen können.<br />

Ergebnis: Die Antworten s<strong>in</strong>d unbefriedigend (s.<br />

auch „Der andere Gott“). Muss man sich dann eben<br />

damit abf<strong>in</strong>den, dass es e<strong>in</strong>e dunkle, verborgene<br />

Seite Gottes gibt, <strong>in</strong> der das Böse se<strong>in</strong>en Grund hat?<br />

Christen sollen sich im Glauben an den Gott der<br />

Liebe halten. (Luther)<br />

Nach nichtpersonalem Verständnis öffnet die größere<br />

Wirklichkeit Gottes den Blick für die Verbundenheit<br />

aller Menschen: Die Opfer von Katastrophen<br />

und Unglücksfällen, die Kranken und Beh<strong>in</strong>derten<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em größeren Zusammenhang mite<strong>in</strong>ander<br />

verbunden und wurzeln im gleichen Se<strong>in</strong>sgrund.<br />

Daraus folgt Verantwortung füre<strong>in</strong>ander, Bereitschaft<br />

und Fähigkeit zu geme<strong>in</strong>samem Leben und gegenseitiger<br />

Hilfe.<br />

Menschlich ist es, sich bei Verbrechen, großen<br />

Übeln, Katastrophen und schwerem Leid die Frage<br />

zu stellen: Warum trifft es gerade mich? Me<strong>in</strong>e Angehörigen?<br />

Warum gibt es Leid und Böses <strong>in</strong> der<br />

Welt, warum so viel? Ist es e<strong>in</strong>e Strafe (Gottes)?<br />

Philosophie und Theologie haben sich ausführlich<br />

und seit langem mit diesen Fragen beschäftigt, die<br />

starke Zweifel am Glauben an Gott auslösen können.<br />

Für e<strong>in</strong>e Mitwirkung Gottes bei Bösem und bei Leid<br />

werden meist folgende Möglichkeiten genannt:<br />

A) Gott ist gerecht: Er schickt das Böse als Strafe.<br />

B) Gott ist nicht allmächtig: Er kann das Böse nicht<br />

verh<strong>in</strong>dern.<br />

C) Gott hat dem Menschen die Freiheit gegeben,<br />

auch für das Böse.<br />

D) Gott ist nicht nur gütig und nicht gerecht; er will<br />

(auch) das Böse und schickt Katastrophen nach für<br />

Menschen nicht erkennbaren Absichten.<br />

E) Gott greift nach dem Ende <strong>des</strong> Schöpfungsaktes<br />

nicht mehr <strong>in</strong> das Weltgeschehen e<strong>in</strong> (Uhrmacher-<br />

Modell).<br />

F) Es gibt gar ke<strong>in</strong>en Gott: Katastrophen als Argument<br />

für den Atheismus.


Das biblische Buch Hiob ist e<strong>in</strong>e Beispielgeschichte<br />

für die Klage von Menschen, denen ohne Verschulden<br />

großes Leid widerfährt, die aber weder von<br />

Freunden noch von Gott zufriedenstellende Antworten<br />

erhalten.<br />

Die oben genannten sechs Möglichkeiten, das Böse<br />

<strong>in</strong> der Welt ohne Widerspruch zu Eigenschaften Gottes<br />

wie allmächtig und gerecht zu verstehen, wurden<br />

<strong>in</strong> vielen Versuchen zu e<strong>in</strong>er Theodizee (Rechtfertigung<br />

Gottes) aufgenommen. Sie s<strong>in</strong>d nach überwiegender<br />

Me<strong>in</strong>ung von Theologen und Philosophen<br />

nicht oder nur zu e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>gen Teil stichhaltig,<br />

denn<br />

sie führen entweder zu der Überzeugung, dass<br />

das Entstehen <strong>des</strong> Bösen und <strong>des</strong> Leids mit der<br />

Güte, Gerechtigkeit und Macht Gottes unvere<strong>in</strong>bar,<br />

also se<strong>in</strong> Geheimnis sei.<br />

oder kommen zu der Aussage: In der von Gott<br />

geschaffenen und nur durch ihn wirklichen Welt<br />

ist <strong>in</strong> der Freiheit zur Evolution auch das moralisch<br />

Böse und das naturhaft Lebensschädliche<br />

mit angelegt.<br />

Zur Überw<strong>in</strong>dung <strong>des</strong> Widerspruchs zwischen Gottes<br />

Güte und Allmacht und dem Auftreten von Übel<br />

und Leid wird auch argumentiert:<br />

Gott selbst leidet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Sohn Jesus am<br />

Kreuz. Das Leid ist nun <strong>in</strong> Gott aufgehoben.<br />

(Bonhoeffer und Moltmann)<br />

Das Böse hat auch se<strong>in</strong>e guten Seiten (August<strong>in</strong>)<br />

Es gibt e<strong>in</strong>e dunkle, verborgene Seite Gottes, <strong>in</strong><br />

der das Böse se<strong>in</strong>en Grund hat. Christen halten<br />

sich im Glauben an den Gott der Liebe. (Luther)<br />

Gott ist ke<strong>in</strong>e Person, die der Mensch für Böses<br />

verantwortlich machen könnte. Er ist Urgrund<br />

<strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s und Urmacht <strong>des</strong> Lebens – zu se<strong>in</strong>er<br />

Schöpfung gehört sowohl das (für Menschen)<br />

Böse als auch das Gute. Das Universum ist (bis<br />

jetzt) lebens- und menschenfreundlich („anthrop“).<br />

Der liebende Gott ist e<strong>in</strong>s mit dem verborgenen,<br />

unergründlichen Gott. Damit entfällt die Vorstellung<br />

von e<strong>in</strong>em allmächtigen, allgütigen, allwissenden<br />

Gott. Gott als Urgrund umfasst den „guten“<br />

Gott und den „bösen“ Gott. In diesem Zusammenhang<br />

s<strong>in</strong>d auch die für uns und die Umwelt<br />

zerstörerischen und leidvollen Ereignisse<br />

und Anlagen „aufgehoben“.<br />

Aus dieser Sicht ergeben sich weitgehende praktische<br />

Konsequenzen:<br />

„Leiden kann auch ohne e<strong>in</strong>en personal gedachten,<br />

mehr oder weniger willkürlich (und kritisch gesehen<br />

sogar <strong>des</strong>potisch) handelnden „Gott“ e<strong>in</strong> besonderer<br />

58<br />

Ort der Lebensf<strong>in</strong>dung und Wahrheits- ("Gottes"-)<br />

Erfahrung se<strong>in</strong> und werden.“<br />

Individuelles Leiden ist nach diesem Verständnis<br />

ke<strong>in</strong>e Strafe Gottes, auch wenn es offensichtlich<br />

<strong>in</strong>dividuell oder gesellschaftlich verursacht wurde.<br />

Krankheiten und Fehlentwicklungen s<strong>in</strong>d meist biologisch<br />

erklärbar durch die Mutation von Zellen verursacht,<br />

die auch zur Evolution <strong>des</strong> Lebens beigetragen<br />

hat. Die davon Betroffenen erleiden stellvertretend<br />

mehr als andere die Nachteile dieser Offenheit<br />

für Entwicklung und Wachstum, was sich durch<br />

anerkennende und helfende Geme<strong>in</strong>schaft mit weniger<br />

Betroffenen zwar nicht ausgleichen, aber doch<br />

erträglicher machen lässt.<br />

Auch Erdbeben und Vulkanausbrüche s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e<br />

Gottesstrafen, sondern natürlich erklärbare Ersche<strong>in</strong>ungen<br />

der Erdentwicklung, denen <strong>in</strong> Zukunft durch<br />

erdbebensichere Bauweise, Tsunamiwarnungen u.ä<br />

<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationaler Zusammenarbeit entgegengewirkt<br />

werden kann. Das Gleiche gilt auch für Hungersnöte<br />

und Epidemien, selbst dann, wenn ihre Bekämpfung<br />

noch <strong>in</strong> den Anfängen steckt.<br />

Nach nichtpersonalem Verständnis öffnet die größere<br />

Wirklichkeit Gottes den Blick für die Verbundenheit<br />

aller Menschen: Die Opfer von Katastrophen<br />

und Unglücksfällen, die Kranken und Beh<strong>in</strong>derten<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em größeren Zusammenhang mite<strong>in</strong>ander<br />

verbunden und wurzeln im gleichen Se<strong>in</strong>sgrund.<br />

Daraus folgt Verantwortung füre<strong>in</strong>ander, Bereitschaft<br />

und Fähigkeit zu geme<strong>in</strong>samem Leben und gegenseitiger<br />

Hilfe. Daraus folgt auch e<strong>in</strong> aktives Verh<strong>in</strong>dern<br />

von Aktionen (z.B. Krieg, Verbrechen), die vorhersehbar<br />

Leiden erzeugen. Die Opfer <strong>des</strong> Bösen<br />

und die Leidenden s<strong>in</strong>d nicht Abgesonderte und defizitäre<br />

Sonderfälle, sondern haben das volle Leben<br />

mit geme<strong>in</strong>samem Nehmen und Geben, e<strong>in</strong>bezogen<br />

und gleichwertig, wie es ja schon mit Beh<strong>in</strong>derten<br />

praktiziert wird und dem Verständnis Gottes als e<strong>in</strong>em<br />

großen verb<strong>in</strong>denden „Reich“ entspricht.<br />

In der von Gott geschaffenen Welt ist <strong>in</strong> der Freiheit<br />

zur Evolution auch das Böse und Lebensschädliche<br />

als Möglichkeit mitangelegt.<br />

E<strong>in</strong> Verständnis <strong>des</strong> christlichen Gottes ohne diese<br />

Gegensätze stellt sich weiterh<strong>in</strong> als fast unmöglich<br />

heraus: Der liebende, lebensfreundliche Gott ist<br />

auch der Strafende, Zerstörende. Neuere Gottesvorstellungen<br />

s<strong>in</strong>d daraufh<strong>in</strong> zu prüfen, ob sie etwas<br />

zur Lösung dieses Problems beitragen können. (siehe<br />

auch das vorhergehende Thema „Der andere<br />

Gott – damals und heute“.


Erweitertes Inhaltsverzeichnis der „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ ohne Anlagen<br />

1. Warum Kern-„Fragen“, wenn es um unseren Glauben geht? Warum nicht<br />

Kern-„Aussagen“? ..................................................................................... 3<br />

2. Was ist Glaube? ............................................................................................ 6<br />

Inhalte und Formen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> ................................................................................. 6<br />

Wenn andere e<strong>in</strong>en anderen Glauben haben ................................................................ 7<br />

Das Entstehen von Glauben wird als Geschenk erfahren............................................... 7<br />

3. Glaube und Wissen ....................................................................................... 8<br />

4. Naturwissenschaft und Glauben ................................................................. 9<br />

Widersprüche zwischen Naturwissenschaft und Glauben? .......................................... 10<br />

Zwischen Naturwissenschaft und Religion gibt es Berührungspunkte.......................... 11<br />

Gibt es e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wirken Gottes auf das Weltgeschehen? ................................................ 11<br />

Kann Gott <strong>in</strong> der Zukunft wirken?.................................................................................. 13<br />

Fügung oder Zufall? ...................................................................................................... 13<br />

5. Religion und Naturwissenschaft im Licht der modernen Physik. .......... 13<br />

6. Kommunikation mit Gott ............................................................................ 17<br />

Gott als Person erfahren ............................................................................................... 19<br />

Gott ist größer und anders als unsere Vorstellungen von ihm ...................................... 19<br />

7. Gott <strong>in</strong> der Mystik erfahren? ...................................................................... 20<br />

Die neue Fasz<strong>in</strong>ation..................................................................................................... 20<br />

E<strong>in</strong>ige Grundzüge mystischer Spiritualität im Christentum ........................................... 21<br />

Erfahrungen auf dem Weg führen <strong>in</strong> das Zentrum der Mystik....................................... 21<br />

Innen die Mitte f<strong>in</strong>den.................................................................................................... 21<br />

Unsagbares sagen ........................................................................................................ 22<br />

Wandlungen im Gottesbild ............................................................................................ 22<br />

Mystik vertritt das Ine<strong>in</strong>ander von persönlichen und überpersönlichen Zügen Gottes.. 23<br />

Gefahren und Rückfragen ............................................................................................ 23<br />

Neue Chancen mystischen <strong>Glaubens</strong>.......................................................................... 24<br />

Wege und Methoden zu mystischer Erfahrung ............................................................. 25<br />

8. Was bewirkt Beten? .................................................................................... 25<br />

Was ist e<strong>in</strong> Gebet?........................................................................................................ 25<br />

Zu welchem Gott wird gebetet?..................................................................................... 26<br />

Beten als Ausdruck <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> – me<strong>in</strong>es <strong>Glaubens</strong> .............................................. 27<br />

Arten und Formen <strong>des</strong> Gebets ...................................................................................... 27<br />

Arten <strong>des</strong> Gebets .................................................................................................................... 27<br />

Formen <strong>des</strong> Gebetes:.................................................................................................... 28<br />

Funktionen <strong>des</strong> Gebets: ................................................................................................ 28<br />

Entlastung ............................................................................................................................... 28<br />

Handlungshilfe ........................................................................................................................ 29<br />

Dialog...................................................................................................................................... 29<br />

Aneignung............................................................................................................................... 29<br />

Bewusstse<strong>in</strong>ssteigerung ......................................................................................................... 29<br />

Abstand durch Gebet .............................................................................................................. 29<br />

Realismus ............................................................................................................................... 29<br />

Willensbildung und Entscheidungsvorbereitung ..................................................................... 30<br />

59


Wenn das Beten helfen würde................................................................................................ 30<br />

Rückwirkungen <strong>des</strong> Gebetes auf e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft ............................................................. 30<br />

Beten mit K<strong>in</strong>dern – warum und wie ....................................................................................... 30<br />

Kritik am Gebet.............................................................................................................. 30<br />

Die Zukunft <strong>des</strong> Gebetes............................................................................................... 31<br />

Praktischer Vorschlag: ........................................................................................................... 31<br />

9. Jesus – wer war und wer ist das? ............................................................. 32<br />

Jesus der Mensch ......................................................................................................... 32<br />

Jesu Tod........................................................................................................................ 33<br />

Die Auferweckung (Entrückung).................................................................................... 34<br />

E<strong>in</strong> Gedicht dazu: .......................................................................................................... 35<br />

10. „Me<strong>in</strong>e“? Kirche ........................................................................................ 35<br />

Kirche: Geme<strong>in</strong>schaft im Glauben................................................................................. 35<br />

Von Jesus g<strong>in</strong>g es aus. ................................................................................................. 35<br />

Wechselnde Geschichte, Entwicklung zur Organisation und Institution........................ 36<br />

Von der E<strong>in</strong>heit der Jesusgeme<strong>in</strong>schaft h<strong>in</strong> zur konfessionellen Vielfalt ...................... 37<br />

Heutige Probleme der Kirche ........................................................................................ 37<br />

Religiöser Pluralismus – gut für die Kirche. Und ihre Mitglieder. .................................. 38<br />

Beziehungen zu Kirche ................................................................................................. 38<br />

„Kirche begegnet den Menschen als Raum. Als weiter, offener Raum der größeren<br />

Wirklichkeit.“ .................................................................................................................. 39<br />

„Die Außensicht auf Kirche ist zu beachten!“ ................................................................ 39<br />

Kritik an der Kirche ........................................................................................................ 39<br />

Kirche zwischen Tradition und Vision............................................................................ 41<br />

Neues <strong>in</strong> der Kirche gibt es – <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>................................ 41<br />

Schuld / Sünde / Vergebung........................................................................... 42<br />

Schuld zugeben? Um Gottes willen! Brauchen wir e<strong>in</strong>e neue Schuldkultur?............... 42<br />

Schuld – was ist das?.................................................................................................... 42<br />

Sünde ist Schuld aus der Sicht <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> .............................................................. 42<br />

Macht die christliche Lehre von der Sünde den Menschen schlecht? .......................... 43<br />

Altertümliche Vorstellungen von Sünde als Symbole <strong>in</strong>terpretieren.............................. 44<br />

Der „Sündenfall“...................................................................................................................... 44<br />

Erbsünde................................................................................................................................. 45<br />

Sünde als Ursache <strong>des</strong> To<strong>des</strong>?.............................................................................................. 45<br />

Vergebung gegen Schuld und Sünde ........................................................................... 45<br />

Voraussetzungen für den Empfang der Vergebung...................................................... 46<br />

Erkenntnis der Schuld bzw. der Sünde................................................................................... 46<br />

Ohne Reue ke<strong>in</strong>e Vergebung.................................................................................................. 46<br />

Vergebung empfängt nur wer selbst anderen vergibt. ............................................................ 46<br />

Formen <strong>des</strong> Zuspruchs und Empfangs von Vergebung................................................ 46<br />

Von vergangenheitsorientierten E<strong>in</strong>stellung zu neuen Wegen...................................... 47<br />

Auf gegenseitiges Aufrechnen von Schuld verzichten .................................................. 47<br />

Vergebung ist e<strong>in</strong>e konstruktive soziale Methode......................................................... 47<br />

Der christliche Glaube befähigt zum Zugeben von Schuld ........................................... 47<br />

Vergebung ist nicht abhängig von Gegenleistung......................................................... 48<br />

Auf dem Weg zu e<strong>in</strong>er neuen Schuldkultur................................................................... 48<br />

Schuldig auch ohne Sünde ........................................................................................... 48<br />

Emotionale Abwertung der Gegenseite und Vergeltung vermeiden ............................. 49<br />

60


12. Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben ................. 49<br />

Bilder für das Ewige? .................................................................................................... 49<br />

Das Jüngste Gericht – die größere Wirklichkeit ............................................................ 50<br />

13. Hoffen über den Tod h<strong>in</strong>aus? .................................................................. 52<br />

Überlieferte H<strong>in</strong>weise .................................................................................................... 52<br />

Das ewige Leben:.......................................................................................................... 52<br />

Die Auferstehung der Toten: ......................................................................................... 52<br />

Neue Verstehensansätze.............................................................................................. 53<br />

Ke<strong>in</strong> Verlangen nach ewigem Leben............................................................................. 53<br />

Neu nach christlicher Hoffnung fragen.......................................................................... 53<br />

Für die Liebe wirst du immer da se<strong>in</strong> ...................................................................................... 53<br />

Bilder <strong>des</strong> Kommenden................................................................................................. 55<br />

14. Der andere Gott – damals und heute....................................................... 56<br />

15. Theodizee – Gott entschuldigen?............................................................ 57<br />

H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>ige benutzte<br />

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Jörns, Klaus-Peter: Notwendige Abschiede. Auf<br />

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Gütersloher Verlagshaus 2004<br />

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können, was man glaubt. Gütersloh 2012<br />

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Küng, Hans: Der Anfang aller D<strong>in</strong>ge. Piper Verlag<br />

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Küng, Hans: Projekt Weltethos. Piper Verlag 1990<br />

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Glaube, Gott und Kirche neu verstehen. Gütersloher<br />

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Küstenmacher, Marion&Werner, Haberer, Tilmann:<br />

Gott 9.0. Woh<strong>in</strong> unsere Gesellschaft spirituell<br />

wachsen wird. Gütersloher Verlagshaus 2010<br />

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s. auch Polk<strong>in</strong>ghorne<br />

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