Das größte Verbrechen des Strafgesetzes. - Welcker-online.de
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<strong>de</strong>n Lebensnerv <strong>de</strong>r Theaterkunst — das Prinzip <strong>de</strong>r Stauung, <strong>de</strong>r Anhäufung<br />
von Spannungen durch eine umständliche, be<strong>de</strong>utungsvolle Symbolik —<br />
leichthin wegblasen, man wird die Technik <strong><strong>de</strong>s</strong> Theaters aufweichen und geschmeidig<br />
machen, die Spannung und Be<strong>de</strong>utung ins Stoffliche, Grob—Verstan<strong><strong>de</strong>s</strong>mäßige,<br />
ins »Stück« verlegen, man wird das Stoffgebiet erweitern und<br />
das Exotische, Aktuelle und Triviale für das Theater erobern. Man wird, mit<br />
einem Worte, das Theater entzaubern, man wird es zu einem Stück Musik, zu<br />
einem Stück Zirkus, zu einem Stück Kulturgeschichte, zu einem Stück Politik,<br />
zu einem Stück Psychologie, o<strong>de</strong>r zu einem Stück Literatur machen. Täuschen<br />
wir uns nicht, wir leben in einer solchen Zeit <strong>de</strong>r Auflösung <strong><strong>de</strong>s</strong> Theaters, wir<br />
haben kein Theater, weil die Voraussetzungen hierzu fehlen, wir haben auch<br />
keine Kunst, son<strong>de</strong>rn nur Künste, die allerdings zum Teil bis ins Feinste und<br />
Überempfindliche entwickelt sind, und einzelne dieser Künste nennen wir<br />
Theater.<br />
<strong>Das</strong> Theater aber ist eine Gesamtkunst und eine Volkskunst. Die Kunst<br />
<strong><strong>de</strong>s</strong> Theaters vereinfacht und vergröbert die Perspektive <strong><strong>de</strong>s</strong> Lebens, komprimiert<br />
und vergeistigt aber zugleich die Be<strong>de</strong>utung <strong><strong>de</strong>s</strong> Lebens. Sie ist eine<br />
späte und reife, aber doch im e<strong>de</strong>lsten Sinne naive Kunst, und ihre Voraussetzung<br />
ist eine späte und reife Kultur, die doch innerlich geschlossen und<br />
durchaus harmonisch ist: eine Polis in antikem Sinne. Erst in einem hochentwickelten<br />
Gemeinwesen, in <strong>de</strong>m alle elementaren Einzelkünste bereits eine<br />
lange, ehrlich—handwerksmäßige Ausbildung hinter sich haben, entsteht jene<br />
Gleichartigkeit <strong><strong>de</strong>s</strong> künstlerischen Sehens und Empfin<strong>de</strong>ns, jene stillschweigen<strong>de</strong><br />
und unverbrüchliche Übereinkunft über eine bestimmte ästhetische<br />
Optik, jene Konvention <strong><strong>de</strong>s</strong> Kunstsentiments, welcher das Theater für seine<br />
Wirkungen in ungleich höherem Maße noch als die verschie<strong>de</strong>nen Einzelkünste<br />
bedarf. Erst mit Hilfe einer solchen ofterprobten Konvention ist es möglich,<br />
daß Künstler und Publikum sich gleichsam in Formeln verständigen, daß sie<br />
eins wer<strong>de</strong>n, daß Vielsagen<strong><strong>de</strong>s</strong> in <strong>de</strong>n knappsten Ausdruck gepreßt und so die<br />
tiefste Wirkung unmittelbar auf eine gewaltige Gesamtheit, eine homogene<br />
Zuschauerschaft geübt wird.<br />
Dem Entstehen einer künstlerischen Konvention, das langsam und völlig<br />
unbewußt vor sich geht, als Zurückblicken<strong>de</strong>r nachzuspüren, dies macht <strong>de</strong>n<br />
intensivsten Reiz, die schönste Aufgabe <strong>de</strong>r Kunsthistorie aus. Da sehen wir,<br />
wie je<strong>de</strong>r Sinn lange und einzeln erzogen und geschult, je<strong><strong>de</strong>s</strong> einzelne Ausdrucksmittel<br />
wie<strong>de</strong>r in unzähligen, stetigen Versuchen erprobt, vervollkommnet<br />
und allmählich beseelt und mit an<strong>de</strong>ren Ausdrucksmitteln in Einklang gebracht<br />
wer<strong>de</strong>n muß, wie Sinn und Technik sich nach und nach durchdringen<br />
und gegenseitig befruchten, wie die Optik <strong><strong>de</strong>s</strong> Schaffen<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>s</strong> Ausströmen<strong>de</strong>n,<br />
und die Optik <strong><strong>de</strong>s</strong> Genießen<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>s</strong> Aufsaugen<strong>de</strong>n, einan<strong>de</strong>r unmerklich<br />
näher und näher rücken, — und wie endlich unvermutet, scheinbar über<br />
Nacht gereift, während man vielleicht eben verzagen wollte, als die gol<strong>de</strong>ne,<br />
unschätzbare Frucht <strong><strong>de</strong>s</strong> langen, schmerzlichen Irrens das Einverständnis, die<br />
Konvention vom Baume <strong><strong>de</strong>s</strong> Kulturwillens fällt und glitzernd über <strong>de</strong>n Mutterbo<strong>de</strong>n<br />
<strong><strong>de</strong>s</strong> Lebens rollt. Ein frohes Schauspiel ist es, eine frohe Botschaft für<br />
alle Herzen, <strong>de</strong>nn Unermeßliches ist jetzt erreicht. Klarheit und Sicherheit ist<br />
<strong>de</strong>m Künstler verliehen wor<strong>de</strong>n und alles — sein Höchstes und sein Tiefstes —<br />
vermag er nun zu zeigen und zu bil<strong>de</strong>n. Und wenn alle Künste einer ungeheuren<br />
Kulturepoche ihre Ausdrucksformen gefun<strong>de</strong>n haben, wenn eine seltene,<br />
beinahe überschwengliche Gunst <strong><strong>de</strong>s</strong> Schicksals Staat, Künste und Individuen<br />
in einer geniuserzeugen<strong>de</strong>n Harmonie erklingen läßt, — dann erscheint auch<br />
plötzlich <strong>de</strong>r wahre Gott aus <strong>de</strong>r Maschine, <strong>de</strong>r erzgepanzerte Held mit <strong>de</strong>r<br />
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