Das größte Verbrechen des Strafgesetzes. - Welcker-online.de
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ischen Welt gegenüber. Der griechische Mythos und das griechische Drama<br />
erklären das Leben viel tiefer, viel freigeistiger, viel männlicher, viel künstlerischer<br />
vor allem als die Kirche. in <strong>de</strong>r antiken Tragödie ist <strong>de</strong>r Mensch das<br />
Glied einer unendlichen Kette, <strong>de</strong>r untrennbare Teil eines Schicksalsorganismus,<br />
einer ungeheuren, nach eigenen Gesetzen vorwärtsgleiten<strong>de</strong>n Woge <strong><strong>de</strong>s</strong><br />
Seins. Wohl ist das Leben <strong><strong>de</strong>s</strong> Einzelnen endlich, das Leben selbst aber ist ein<br />
ewig fluten<strong>de</strong>r Strom. Und in <strong>de</strong>n Gegenwärtigen sind alle Vergangenen lebendig,<br />
die Wirkung alles Tuns zeugt sich fort im unaufhörlichen Geschehen.<br />
<strong>Das</strong> Lei<strong>de</strong>n ist die Folge vererbter Schuld, <strong>de</strong>nn das hinter <strong>de</strong>n sichtbaren<br />
Dingen verborgene, lenken<strong>de</strong> Schicksal will es, daß je<strong>de</strong> Schuld, im Lauf <strong>de</strong>r<br />
Generation ihre Sühne fin<strong>de</strong>. Eine eherne, unbeirrbare Gerechtigkeit bestimmt<br />
alle Ereignisse, und nur <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r heroisch die ihm bestimmten<br />
Lei<strong>de</strong>n erträgt, entsühnt die in seinem Blute kreisen<strong>de</strong> Schuld vergangenen<br />
Frevels. Der Ahne lädt durch <strong>Verbrechen</strong>, verübt im besinnungslosen Wüten<br />
<strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nschaft, durch hemmungslosen Übermut unverjährbare Schuld auf<br />
die Häupter <strong>de</strong>r Enkel, diese entsühnen durch tragischen Untergang <strong>de</strong>n Ahnen,<br />
<strong>de</strong>r in ihnen fortlebt. Dies ist die Formel <strong>de</strong>r Tragödie, — nebenbei auch<br />
eine pathetisch—verbindliche Warnung vor lei<strong>de</strong>nschaftlichem Überschwang,<br />
<strong>de</strong>r spezifischen Gefahr <strong><strong>de</strong>s</strong> Griechentums.<br />
Diese Formel in Kunstwerken zu verkün<strong>de</strong>n, die eine Vielheit — zwanzigtausend<br />
Menschen unter <strong>de</strong>m hellen, eine Bühnenwirkung im mo<strong>de</strong>rnen<br />
Sinne ausschließen<strong>de</strong>n, griechischen Mittagshimmel — zu gleicher Zeit erschüttern<br />
und überzeugen sollen, dazu bedurfte es vereinfachter und drastischer<br />
Mittel. Dazu bedurfte es eines festen, traditionell geheiligten Schemas,<br />
das eine vorbildliche, allen Zusehern längst bekannte Handlung — einen Mythus<br />
— kunstvoll und genetisch—verständlich zerglie<strong>de</strong>rt; einer pathetischen<br />
Rhetorik, die noch durch eine unterstreichen<strong>de</strong>, das Schicksal vertreten<strong>de</strong>,<br />
musikalische Grundstimme — <strong>de</strong>n Chor — mächtig verstärkt wird; eines eindringlichen,<br />
nach einer streng festgesetzten Skala funktionieren<strong>de</strong>n Gestus,<br />
<strong>de</strong>r sich gelegentlich zum feierlich—gemessenen Tanze steigert; einer festgehaltenen<br />
schaurig—starren Mimik, wie sie durch die übermenschlich große,<br />
künstliche Maske erreicht wird; endlich jener übertreiben<strong>de</strong>n Kostümierung,<br />
<strong><strong>de</strong>s</strong> Kothurns, <strong>de</strong>r ausgestopften Figuren, <strong><strong>de</strong>s</strong> eindrucksvollen Faltenwurfes,<br />
<strong><strong>de</strong>s</strong> ungeheuren, phantastischen Kopfputzes, wodurch die Erscheinung <strong>de</strong>r<br />
Schauspieler ins Überlebensgroße getrieben wird. All dies, im Detail extrem<br />
unnatürlich, wur<strong>de</strong> vom Zuschauer und Hörer mit Hilfe <strong>de</strong>r Konvention als ein<br />
Ganzes, als eine neue, verzauberte, erhöhte Natur, d. h. eben als Kunst empfun<strong>de</strong>n.<br />
Die Voraussetzung hierzu war eine unio mystica: Die Einswerdung<br />
von Leben, Geist, Kunst, Volk, Autor und Aktor.<br />
Wenn nun eine Kunstkonvention länger erhalten wird, als sie <strong>de</strong>m Kulturniveau<br />
eines Volkes entspricht, so überwuchert sie mit <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>n Inhalt<br />
<strong>de</strong>r Kunst. Die Konvention wird sodann zum Selbstzweck und droht mit ihrer<br />
inzwischen versteinerten Hieratik das innerlich—glühen<strong>de</strong> Leben <strong>de</strong>r Kunst<br />
zu ersticken. Sie wird zu einer beengen<strong>de</strong>n, toten Form, welche <strong>de</strong>m eifersüchtigen,<br />
individuellen Schaffensdrange <strong><strong>de</strong>s</strong> Künstlers nicht mehr genug<br />
Raum läßt. Wenn also eine große Kunstform <strong>de</strong>n Höhepunkt ihrer Entwicklung<br />
überschritten hat, macht sich eine immer mächtiger wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Unterströmung<br />
geltend, welche die veraltete seelenlos gewor<strong>de</strong>ne Form zu sprengen<br />
und <strong>de</strong>n Inhalt allein und für sich darzustellen sucht. Auf eine lange Epoche<br />
formaler Kunstübung folgt stets eine Epoche <strong><strong>de</strong>s</strong> individualistischen Realismus,<br />
und kritischen Radikalismus. Die Konvention wird nun als »Lüge«<br />
gebrandmarkt o<strong>de</strong>r als »Krücke« verachtet das Pathos wird als »hohl« emp-<br />
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